20. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2017

Die Wege der Dinge

von Erhard Weinholz

Letztes Jahr zu Ostern sind meine Freundin B. und ich von Berlin in die Prignitz gefahren, die Nordwestecke der Mark, und zwar nach Perleberg, wo wir uns die hochberühmte Wunderblutkirche anschauen wollten. Unterwegs fiel mir ein, dass die Kirche eigentlich mehr in Wilsnack steht, aber das machte nichts: Perleberg ist auch so ein schönes Städtchen. Im Heimatmuseum, wo wir die einzigen Besucher waren, wurden wir vom Direktor mit Schokoladeneiern beschenkt, und am Markt entdeckten wir das Antiquariat des Bürgervereins. Vor kurzem habe ich zum zweiten Male die rund zwanzigtausend Bände dort durchmustert – es ist Schwerarbeit: hinknien, hoch, wieder hinknien, randvolle Kartons verschieben, um mit der Leiter ans Regal zu kommen, Leiter rauf, Leiter runter … Ausbeute: vier ganz hübsche DDR-Jugendbücher und ein Bändchen Fühmann-Gedichte aus dem Jahre 1957: Aber die Schöpfung soll dauern.
Ich wusste, dass Fühmann als Lyriker begonnen hatte, zu Augen gekommen war mir bis dahin nichts davon. Auf dem Rückweg musste ich eine Weile noch am Bahnhof auf den Bus warten. Die morgendlichen Regenwolken hatten sich verzogen, ich setzte ich mich am Rande des weiten Vorplatzes auf eine Bank und blätterte in eben diesem Bändchen herum, das man mir für einen Euro überlassen hatte, ärgerte mich über den fleckigen Einband, der unter dem Umschlag zum Vorschein kam, wunderte mich, dass die beiliegende Fehlerberichtigung nicht gedruckt war, sondern mit der Maschine geschrieben, schaute zuletzt auf den sogenannten Schmutztitel – da hatte jemand etwas mit dem Bleistift vermerkt: Für Erich Arendt, schon mal gut, mit herzlichem Gegengruß Franz Fühmann, na, noch besser, Berlin 18. VI. 1957. Der Längsstrich des h geht weit in die Höhe, rundet sich, führt nach unten zurück, endet erst unter der Zeile – etwas bemüht wirkt das für mein Empfinden. Später wurde Fühmann mehr und mehr zum Asketen, vielleicht hat sich dabei auch seine Unterschrift gewandelt. Man schrieb damals im Übrigen viel mit dem Bleistift, unterschrieb damit sogar Urkunden.
Einen ähnlichen Fund hatte ich im Jahr zuvor am Pfingstsonntag gemacht. Es hatte leicht, aber beständig geregnet an jenem Morgen, das Buch, das da nahe der Schönhauser Allee in einem rostigen Fahrradkorb lag, war völlig durchgeweicht, aber ich kann nun einmal an Büchern nicht achtlos vorübergehen. Der Großtyrann und das Gericht war es, wie ich sah, Werner Bergengruens Hauptwerk in einer bundesdeutschen Taschenbuchausgabe, weißnichtwievielte Auflage 1959. Die Nazis hatten ihn einst aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, er durfte aber weiter veröffentlichen; in den Fünfzigern war er einer der bekanntesten Autoren im Westen, sein christlicher Konservatismus passte so recht zur Grundstimmung dieser Jahre.
Ein Weilchen las ich in dem Fundstück herum; Deschner hat Bergengruen in Kitsch, Konvention und Kunst seinerzeit wegen seiner epigonalen Schreibweise hart getadelt, aber ich fand an der Sache hier nichts auszusetzen, suchte zuletzt noch nach dem Impressum, suchte hinten, suchte vorn – und stieß dort auf den Eintrag: Einen herzlichen Weihnachtsgruß dem vortrefflichen Nikolaus Friedrich W. von dem Besserung gelobenden Großpapa Werner Bergengruen und den Seinen. Die Schrift war hier und da vom Regen verwischt, Bergengruen hatte die Widmung auf gut bürgerliche Art mit dem Füllfederhalter geschrieben. Das Buch war ohnehin nicht mehr zu gebrauchen, so trennte ich die Seite heraus und nahm sie mit.
Lohnen kann auch ein Blick in herumstehende Plastebeutel. Man wird natürlich fast immer enttäuscht, abgelatschte Schuhe stecken oft darin oder irgendwelche Kindersachen, aber einmal habe ich so eine Leica gefunden, die gut 100 Euro wert war, ein andermal, vor Jahren schon, eine Großpackung Briefpapier, gute Sorte, viel zu schade zum Wegwerfen; es trug den Aufdruck Botschaft der Volksdemokratischen Republik Jemen 110 Berlin-Pankow Strasse 22 nr. 1. Die VDRJ, auch als Südjemen bekannt, war sozialistisch orientiert, war also ein Bruderland der DDR und ist wie diese 1990 durch Vereinigung verschwunden – in dem Falle mit dem Nordjemen, der Jemenitischen Arabischen Republik. Es ging in diesem Lande allerdings erheblich turbulenter zu als im ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden: 1986 gab es sogar einen Staatsstreich mit nachfolgenden längeren Kämpfen, wobei die DDR-Presse mittendrin klammheimlich die Seiten wechselte. Das Briefpapier hier stammte aber wohl aus den 70er Jahren: 1969 hatte Aden die DDR anerkannt, ab 1979 waren im Osten alle Postleitzahlen vierstellig. Zwei Telefonnummern stehen noch bei der Anschrift; wenn man sie heute wählt, ist man vielleicht mit dem politischen Jenseits verbunden.
Aber wie ist dieses Papier in einen Beutel gekommen, der in der Andreasstraße, also in der Nähe vom Ostbahnhof, in der Ecke stand? Hatte es vielleicht der Botschafts-Hausmeister mitgenommen und dann dort stehen gelassen? Und was hat dieses eine Widmungsexemplar in Perleberg zu suchen, das andere gar in einem Fahrradkorb? Wir werden es, falls uns nicht gerade ein ganz großer Zufall zur Hilfe kommt, nie erfahren. Lange Zeit habe ich das, neugierig wie ich bin, als Mangel empfunden: Der Mensch fliegt zum Mond, entschlüsselt die Geheimnisse der DNS, kümmert sich um den Ursprung des Universums, doch die Rätsel des Alltags bleiben ungelöst. Inzwischen denke ich anders: Wenn es ein Verfahren gäbe, den Weg der Dinge zurückzuverfolgen, so hätte das eine Durchschaubarkeit unserer Lebens zur Folge, die wir uns keinesfalls wünschen können.