von Ulrich Kaufmann
Ende der 1960er Jahre saß Franz Fühmann, später ein enger Freund des Bildhauers Förster, fünfmal Modell für eine Bronze-Büste. Zögerlich legte Förster das Manuskript seines „Tunesien – Tagebuchs“ auf den Tisch, um den Gast als Leser zu beobachten. Fühmann begriff schnell, dass der große Bildhauer zugleich ein beachtlicher Schriftsteller war. Er half, dass die Blätter 1974 im Hinstorff Verlag zu einem Buch werden konnten, welches er mit einem Nachwort begleitete. Die bildhauerische Arbeit, die Wieland Förster einen Ruf in Europa verschafft hatte, stellte er 2007 ein. Seitdem ist er ausschließlich als Autor tätig.
Dem Buch „Tamaschito – Roman einer Gefangenschaft“ ging die gleichfalls im Sandstein Verlag erschienene Autobiografie „Seerosenteich“ voraus, in der er seine Dresdner Zeit von 1930 bis 1946 schildert. Förster wählte im Anschlusstext nun die Romanform, um sein tragisches Grunderlebnis zu schildern: Durch die Denunziation eines schäbigen kommunistischen Landrats gerät der sechszehnjährige Thom, das alter Ego des Autors, völlig unschuldig in eines der berüchtigten sowjetischen NKWD-Gefängnisse. Der skrupellose Funktionär hatte es auf die Wohnung der Familie abgesehen und muss den Zeugen dieser Missetat aus dem Weg räumen. Nur knapp entgeht der schmächtige, kränkelnde Junge einem siebeneinhalbjährigen Arbeitsdienst im sibirischen Gulag. Stattdessen wird er für drei Jahre in das sowjetische Speziallager Bautzen verbracht.
Förster schildert „nur“ die ersten drei Dresdner Monate dieser Tortur, die Zeit vor Bautzen. Die unerträglichen, menschenunwürdigen Zustände in dem Gefängnis werden akribisch beschrieben. Keines der unglaublichen Details bleibt dem Leser erspart. Eine Lektüre zum Einschlafen liefert Förster wahrlich nicht, dafür ein Buch, das man nicht vergessen kann. Der Roman ist ein kompakter Textblock ohne Kapiteleinteilung und er lässt auch dadurch dem Leser keine Ruhepause. Die Insassen, Schuldige und Unschuldige gleichermaßen, leben unter unglaublichen hygienischen Bedingungen, zu zwölft in einer Einmannzelle, in der sie nur nachts liegen dürfen. Oft wird die Nachtruhe durch peinigende, endlos-monotone Verhöre unterbrochen. „Gegen 4 bis 5 Uhr morgens, auch eine vage Bestimmung, dann die Rückführung zu den Insassen, die stanken aus ihren ungewaschenen Mäulern , dünsteten wie Klärgruben. Blähungen, Schweiß, gesotten in Hemden und niemals gewaschenen Gesäßen, angstdampfende Leiber. Einmal stand Thom durchgefroren vom Verhör vor der eng aneinander liegenden Schlafstrecke, keine Lücke, kein Spalt, und so klemmte er sich zwischen den Holzwurm und den Mechaniker, die beide noch nicht faulten.“
Die Gestalterin Michaela Klaus hat ein gediegenes Buch geschaffen – mit roten Vorsatzblättern und einem gleichfarbigen Lesebändchen. Das Cover zeigt – im Kontrast dazu – den grauen Bau. Vor den düsteren Gefängnismauern ist ein Stück Sahnetorte zu sehen. Dieses verweist auf den asiatisch anmutenden Buchtitel „Tamaschito“. Gemeint ist TAnte MArthas SCHIcht TOrte. Ein „Knochenmann“, der „Rest eines Menschen“, erzählt vor seinem Tod von dieser Köstlichkeit – zu einer Zeit, in der die Häftlinge mit wenig Brot, mit Wassersuppe und ganz wenig Flüssigkeit („Plörre“) auszukommen hatten. Das bedrückende, sprachlich dichte Buch mit etlichen Wortschöpfungen zeigt wenig Hoffnung. Um das Unerträgliche eventuell zu überleben, braucht der Mensch – wusste schon die Seghers – einen Lichtpunkt: Das kann ein erträumtes Stück Torte sein oder erinnertes Liebessglück, das Förster im Falle von Thom und Richard wunderbar zärtlich zu schildern weiß.
In der genauen Erfassung der Physiognomie und Körperlichkeit der Figuren spürt man, dass dies die Prosa eines Bildhauers ist. Der Autor hat seinen Protagonisten Thom Gerber – beide vom Jahrgang 1930 – mit kulturellem Wissen und erstaunlicher Weisheit ausgestattet. Diese Vorzüge gehen allerdings weit über die Möglichkeiten hinaus, die ein sechszehnjähriger Lehrling zur Kriegs-und Nachkriegszeit haben kann. Auch wenn Förster „allwissend“ erzählt, bleibt der Fokus ständig auf die Figur des Thom Gerber gerichtet. Während andere Häftlinge ihr Leben erzählen, wird gezeigt, wie das Erzählte auf den Jüngsten der Insassen wirkt. Wieland Förster beherrscht das Episch-Breite wie das Aphoristisch-Knappe. „Große Denker singen das Lied der Widersetzlichkeit, ohne die es keinen Humanismus gibt.“
Die schlimmen Erlebnisse in diesem „Roman einer Gefangenschaft“ sind so authentisch erfasst, dass der Leser spürt: Durch diese Hölle musste der Autor selbst gehen. Zu den höllischen Schikanen gehört auch, dass die Häftlinge täglich unterschiedlich große Brotbrocken erhalten. Der Kampf um das Lebenserhaltende ist gewollt, die Zwietracht kalkuliert.
Der autobiografische Roman zeigt aus beträchtlichem zeitlichem Abstand die Lebenswunde, die dem Autor in seiner Jugend geschlagen wurde. Zugleich wird mit Blick auf die heutige Welt spürbar, wie viel Unerledigtes in diesem Buch steckt: Demokratie oder Diktatur, Menschenwürde oder Barbarei, unabhängige Justiz oder staatliche Willkür.
Wieland Förster: Tamaschito – Roman einer Gefangenschaft, Sandstein Verlag, Dresden 2017, 240 Seiten, 18 Euro.
Schlagwörter: Franz Fühmann, NKWD-Gefängnis, Ulrich Kaufmann, Wieland Förster