von Mathias Iven
Einstmals war Podwoloczyska ein blühendes Gemeinwesen. Als das kleine galizische Städtchen noch zum Habsburgerreich gehörte, nannte man es nur das „Klein-Paris des Ostens“. Hier, 400 km westlich von Kiew, wurde am 28. Januar 1900 der Schriftsteller Hermann Kesten geboren.
1904 zog die Familie, die ursprünglich den Namen „Kestenbaum“ trug, nach Nürnberg. Kesten besuchte dort die Volksschule und das Gymnasium, später studierte er in Erlangen und Frankfurt am Main. 1921 lernte er Fritz H. Landshoff kennen, der seinem Leben eine schicksalhafte Wendung geben sollte. Er brach sein Studium ab, arbeitete kurzzeitig im Trödelhandel der Mutter und begann zu schreiben. Angeregt von Landshoff, der 1926 zum Mitinhaber des damals noch in Potsdam ansässigen Kiepenheuer-Verlages wurde, schrieb und veröffentlichte Kesten im Frühjahr 1928 seinen ersten Roman „Josef sucht die Freiheit“. Das Buch verhalf ihm zum Durchbruch als Schriftsteller.
Bereits kurz darauf bot ihm Landshoff eine Stelle als Lektor an. Kesten verlegte seinen Wohnsitz nach Berlin. Von den Autoren wurde er respektiert. Er sei, so erinnerte sich später Wolfgang Koeppen, „eine Respektsperson von der Gedächtniskirche bis zum Boulevard du Montparnasse, vom Ural bis zu den Rocky Mountains“ gewesen. Neben seiner Verlagstätigkeit war Kesten für renommierte Zeitschriften wie Die Literarische Welt, Das Tage-Buch oder Die Weltbühne tätig. Zumeist arbeitete er in irgendeinem Kaffeehaus. Er schätzte den unverbindlichen Charakter dieser Einrichtungen: „Da bin ich in einer Gesellschaft, und keiner kennt mich. Man redet, und ich brauche nicht zuzuhören.“ In solchen Zeiten war er, so wird er es in seinem 1959 veröffentlichten Buch „Dichter im Café“ beschreiben, „Gast an einem Ort, wo jeder andre zu Hause ist“.
Im Dezember 1928 heiratete er die vier Jahre jüngere, gleichfalls aus Nürnberg stammende Toni Warowitz. Das Paar wohnte zunächst zur Untermiete in der Uhlandstraße 194 a. Ein halbes Jahr darauf zogen Kesten, seine Frau sowie deren Mutter, die seit Anfang 1929 bei ihnen lebte, in die Kreuzberger Urbanstraße 62. 1932 dann ein neuerlicher Ortswechsel. In der Niebuhrstraße 58 mietete das Trio eine Fünf-Zimmer-Wohnung. Heimisch fühlte sich Kesten in Berlin dennoch nicht. Die Stadt langweilte ihn. Er blickte, wie er einem Freund anvertraute, „mit verlangenden Augen nach Paris“. Nach Hitlers Machtergreifung hielt ihn nichts mehr. Am 20. März 1933 bestiegen Kesten und seine Frau den Zug nach Paris. Vierzig Jahre später dachte er an ein Gespräch mit seinem Schriftstellerkollegen und Freund Erich Kästner zurück: „Wir müssen Deutschland verlassen sagte ich ihm. Hier können wir nicht mehr schreiben, nicht mehr drucken lassen, Hitler macht Diktatur, lässt Köpfe rollen, macht den Krieg.“ Kästner blieb, erst 16 Jahre später sollten sie sich in München wiedersehen.
Nach seiner Ankunft in der Seine-Metropole schrieb Kesten an Ernst Toller: „In Paris fühle ich mich wie gerettet. […] Was für ein Traum ist das Exil.“ Sein Biograph, der in Basel lebende Albert M. Debrunner hebt in diesem Zusammenhang vor allem eines hervor: „Kesten, der sich, ungeachtet seiner wechselnden Staatsangehörigkeit, immer als Deutscher verstanden hatte, erfand sich im Exil neu als europäischer Autor.“ Und nicht nur das. „Im Exil politisierte sich Kesten in einem Maß, das sich während seiner Berliner Jahre nicht abgezeichnet hatte. […] Dass er zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus keinen Unterschied machte, wenn es um die Frage der Unterdrückung des Individuums ging, ließ ihn den exilierten linken Autorinnen und Autoren suspekt erscheinen.“
1940 verließ Hermann Kesten Europa. In Amerika war er an der Gründung des „Emergency Rescue Committee“ beteiligt. Als ehrenamtlicher Berater des Komitees befasste er sich zunächst mit der Zusammenstellung einer Liste besonders gefährdeter Personen. Seine schriftstellerische Tätigkeit wurde in dieser Zeit zur Nebensache. „Wenn er schrieb“, so fasst es Debrunner zusammen, „dann waren es Briefe. Er schrieb an alle möglichen Leute, […] an jeden, der vielleicht etwas dazu beitragen konnte, einem Verzweifelten wieder Hoffnung zu machen und ihm den Weg in die Freiheit zu ebnen. Im amerikanischen Exil waren Briefe Kestens Hauptbeitrag zur Literatur.“ – Einer der wenigen Kollegen, der ihm für diese gewaltige Arbeit gedankt hat, war Stefan Zweig. In einem Brief vom Februar 1941 sprach er von Kesten respektvoll als „Schutzvater und geradezu Schutzheiliger aller über die Welt Versprengten“.
Zurückblickend auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg notierte der 75-jährige Kesten: „Da hatte ich mich also eingeschifft, am 27. Mai 1949, und sagte, als die Queen Elizabeth die feurigen Fackeln der Wolkenkratzer hinter sich ließ, ich komme wieder.“ Doch ein Anknüpfen an die Vergangenheit sollte es nicht geben. Das Exil wurde zur dauernden Lebensform. In einem seiner Briefe hieß es: „Was mein Exil betrifft, so glaube ich zuweilen, ich bin im Exil geboren. Jeder originelle Literat lebt in seinem eigenen, ewigen Exil.“ Und in dem Essay „Odysseus, oder Die vergebliche Heimkehr“ war zu lesen: „Wir, die heimatlosen Weltbürger sind die künftigen Europäer.“ Selbst nach Nürnberg wollte er nicht mehr zurück. Als er die Stadt im Oktober 1949 besuchte, fand er nur „ausgebombte Reliquien“ vor: „Die Stadt Nürnberg und mein halbes Leben, das war eine Posse, die man vom Spielplan abgesetzt hatte.“ Alles in allem war es für Kesten eine vergebliche Heimkehr. Mehr denn je fühlte er sich als Amerikaner.
1953 beschloss er, nach Rom zu übersiedeln, wo er bis 1977 vorwiegend wohnte. Anders als ein paar Jahre zuvor erfuhr Kesten in Italien endlich die öffentliche Anerkennung, die er insgeheim bei seiner Rückkehr nach Deutschland erhofft hatte. Erst 1974 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung geehrt. In seiner Dankesrede fasste er sein umfangreiches Lebenswerk mit nur einem Satz zusammen: „Ich wollte nichts vollenden, sondern immer wieder beginnen.“ –
Und heute? Anlässlich seines 95. Geburtstages hatte Kesten erklärt: „Ich will hundert Jahre alt werden, dann habe ich genug, und die Welt hat auch genug von mir.“ Scheinbar haben das die Verlage allzu wörtlich genommen, denn bis auf wenige Ausnahmen sind seine Bücher – immerhin wurden auch zwei größere Werkausgaben aufgelegt – nur noch antiquarisch erhältlich. Umso verdienstvoller ist es, dass mit Albert M. Debrunners akribisch recherchierter und sich wie ein Roman lesender Biographie jetzt eine erste umfassende Beschreibung von Kestens Leben und Werk vorliegt, an der sich zukünftige Arbeiten zu messen haben. Und vielleicht ist das ja der Anstoß für Neuauflagen von Kestens Büchern …
Albert M. Debrunner: „Zu Hause im 20. Jahrhundert“. Hermann Kesten, Nimbus – Kunst und Bücher, Wädenswil 2017, 412 Seiten, 28,00 Euro.
Schlagwörter: Albert M. Debrunner, Exil, Hermann Kesten, Mathias Iven, Weltbühne