20. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2017

Argyris Sfountouris, Fürsprecher Distomos

von Horst Möller

Hier ist die Erde bitter, es ist die bittere Erde von Distomo.
Vorsicht, Besucher, gib Acht, wohin dein Fuß tritt – es
schmerzt das Schweigen hier, schmerzt jeder Stein am Weg,
es schmerzt vom Opfer und auch vom harten Menschenherz.
Hier eine schlichte Tafel bloß, eine Stele aus Marmor mit allen
Namen, ganz bescheiden – und die Ehre steigt empor, Seufzer
um Seufzer, Sprosse um Sprosse einer langen, langen Leiter.

Jannis Ritsos, Epigramm für Distomo
Deutsch von Argyris Sfountouris

Der noch nicht einmal vierjährige Argyris hatte am Samstag, dem 10. Juni 1944, die Eltern und dreißig seiner Angehörigen verloren. Erst den Vater und dann auch die Mutter erschossen vor sich liegen zu sehen, das war unfassbar. Sein Vaterhaus war niedergebrannt, nicht mehr bewohnbar. Aus der Geborgenheit herausgerissen worden und hilflos zu sein, ließ an der Welt verzweifeln. Kindheitserinnerungen, so sie denn unbeschwert sind, werden zumeist erst wieder lebendig, wenn sich das eigene Leben seinem Abend zuneigt. Argyris Sfountouris war sein ganzes Leben hindurch von der Bürde der Erinnerungen bedrängt. Nach lastender Zurückhaltung gibt er nun mit „Schweigen ist meine Muttersprache“ Auskunft, wie er trotz anfänglichen Verweigerns wieder Lebensmut gefasst, einen fordernden Bildungsweg auf sich genommen, wichtige Funktionen bekleidet und sich zum Fürsprecher Distomos gemacht hat. Längst ist das unweit Delphi gelegene griechische Märtyrerdorf, das am selben Tag das gleiche Schicksal wie Oradour-sur-Glane traf, zum Inbegriff faschistischer Gräuel geworden. Als „Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung“ stellte die deutsche Botschaft in Athen in einem Brief vom 23. Januar 1995 dieses Wehrmachtsverbrechen dar.
Dass das begangene Unrecht keine gebührende Sühne erfahren hat, lässt Argyris Sfountouris nicht ruhen. Ihm geht es allerdings nicht nur um die Begleichung der Reparationsschuld Deutschlands gegenüber seinem Heimatland, wie der Bremer Rechtswissenschaftler Peter Derleder feststellt: „Auch wenn Argyris Sfountouris mit seinem Schadensersatzverlangen wegen Distomo in allen deutschen Gerichtsinstanzen unterlegen ist, […] ist sein Beitrag für die moderne Rechtsentwicklung von wesentlicher Bedeutung. Mit dem Argument, dass nach dem Horror des Zweiten Weltkrieges die Beschränkung des Kriegsvölkerrechts auf Ansprüche zwischen den Kriegsparteien in keinem Fall mehr gerechtfertigt ist, hat die Linie hinreichenden Auftrieb erhalten, die Individualansprüche der Opfer eröffnet […] In jedem Fall wäre es aber gerade für die Bundesrepublik Deutschland, die nach zwei Weltkriegen mit mörderischen Angriffsfeldzügen und einer Fülle schwerster Kriegsverbrechen endlich zu einer stabilen demokratischen Form gefunden hat, ein officium historicum, auf dem Boden des nationalen Rechts einen individuellen Anspruch nicht nur auf Einhaltung des Kriegsvölkerrechts, sondern auch auf zivilrechtliche Entschädigung bei Verstößen gegen dieses zu gewähren. Dazu sind der BGH und das BVerfG, die dies bislang offen gelassen haben, nachdrücklich aufgerufen.“
Unter Gleichgesinnten genießt Sfountouris heute höchste Wertschätzung, auch dank seiner Mittlerrolle als Übersetzer und Literat. Griechisch ist seine Muttersprache. Exzellent ist er ebenfalls im Deutschen zu Hause. Vom Waisencamp Ekali am Rande Athens war der Achtjährige ins Schweizer Pestalozzi-Dorf Trogen gekommen, ein Zentrum für Kriegswaisen Europas, hatte später in Zürich Mathematik und Physik studiert, anschließend eine Lehrtätigkeit begonnen und war danach für Hilfsorganisationen unterwegs, vornehmlich in Schwarzafrika. Auf seine Heimat schaut er mit dem kritischen Blick des Welterfahrenen. Sein Griechentum hat sich der – seit vierundvierzig Jahren – Schweizer Staatsbürger bewahrt. Werke großer Autoren seiner Heimat – Nikos Kazantzakis, Giorgos Seferis, Nikiforos Vrettakos, Konstantinos Kavafis, Odysseas Elytis, zuvorderst Jannis Ritsos – hat er ins Deutsche übersetzt und interpretiert. Und er hat immer wieder das Wort ergriffen, um mit der neugriechischen Literatur vertraut zu machen. Denn ohne Mittler bleiben ihre Stimmen, zumal diejenigen, die von Distomo künden – beispielsweise Marinos Siguros (in der Zeitschrift Estia 1946, deutsch 1961) oder Jannis Ritsos – nur wenig vernehmlich. Er weiß nur zu gut, dass im eigenen Land – wie eigentlich überall auf der Welt – weder Fischersfrauen noch deren Männer lesen, da sie „alle Stunden des Tages dem schwierigen Broterwerb widmen müssen. Leser […] sind die Künstler, die Intellektuellen, die wissensdurstige Jugend, all jene also, die eine Alternative für möglich halten, denen die Suche nach einer Alternative zur Plage wird.“ Und die sich trotzdem nicht entmutigen lassen, für Freiheit und Gerechtigkeit einzutreten. „Die wahre Größe des Menschen / Wird gemessen mit dem Maß der Freiheit.“ Um die Lebenden geht es Jannis Ritsos mit diesen Worten – und ebenso um die Getöteten, deren Hoffnung, Ängste und Freiheit mit ihnen begraben sind. Im Verlauf seiner Geschichte hat das griechische Volk immer wieder Tragisches durchlitten. „Gerade seine Erniedrigung macht es umso ehrenvoller, sein Freund zu sein“, lautet das Zitat, mit dem Argyris Sfountouris an Lord George Gordon Noel Byron erinnert.

Argyris Sfountouris: Schweigen ist meine Muttersprache. Griechenland – seine Dichter, seine Zeitgeschichte. Herausgegeben von Gerhard Oberlin. Königshausen & Neumann. Würzburg 2017, 341 Seiten, 39,00 Euro.