von Holger Politt, Warschau
Nach dem Schock über die Frauenproteste im Oktober letzten Jahres musste nun die Kaczyński-Partei die nächste schwere Schlappe einstecken. Kurz vor der Sommerpause des Parlaments wurden mit den eigenen Mehrheiten drei Gesetze durch die Kammern gebracht, mit denen die in der Verfassung vorgeschriebene Gewaltenteilung ausgehebelt werden sollte. Diesmal wurde auf die Gerichtsbarkeit gezielt, die künftig an entscheidenden Stellen unter der Fuchtel von Regierung und Parlamentsmehrheit stehen soll. Da die Nationalkonservativen schon zu Beginn ihrer Regierungszeit das Verfassungstribunal faktisch lahmlegen konnten, fehlte auf dem Weg zur Gesetzeskraft der Novellen nur noch die Unterschrift des Präsidenten. Zur Überraschung aller ließ Andrzej Duda zwei der drei nationalkonservativen Gesetzesvorhaben nicht passieren, erklärte zugleich, binnen zweier Monate entsprechende eigene Entwürfe vorzulegen.
Duda gilt als entschiedener Kritiker der bestehenden Verfassung von 1997, daraus hatte er während seiner Wahlkampagne 2015 und auch nach der Wahl zum Staatspräsidenten keinen Hehl gemacht. Und die eigentlich schizophrene Situation, dass der nominell oberste Hüter der Verfassung selbige durch ein neues Verfassungswerk ersetzen will, passt recht gut in die politische Situation, die mit dem Regierungsantritt der Nationalkonservativen seit Herbst 2015 an der Weichsel entstanden ist. Insofern gingen die Beobachter auch jetzt davon aus, dass die Unterschrift des Präsidenten nur noch eine Formsache sei.
Allerdings rechneten sie nicht mit einer lang anhaltenden Protestwelle, wie sie das Land seit dem „Solidarność“-Sommer 1980 nicht mehr gesehen hat. Hunderttausende Menschen gingen aus Protest gegen die Regierungspläne auf die Straße – überall, nicht nur in der Hauptstadt und in den anderen großen Städten. Aufgesucht wurden meistens die Gerichtsgebäude, zum Symbol des Protestes wurde die brennende Kerze.
Zwar hatten die Kaczyński-Leute nach der Machtübernahme schnell einsehen müssen, dass die Straße von ihren Gegnern beherrscht wird, doch schöpften sie neue Hoffnung, weil die Protestbewegung des Jahres 2016 sich in diesem Jahr totzulaufen schien. Kaum jemand hätte im Frühjahr noch einen Groschen auf die Straßenproteste gegen die Kaczyński-Regierung gesetzt. Selbst die Kaczyński-Gegner, so schien es, setzten nun eher auf die allmähliche Ermüdung im Regierungslager, weniger auf die eigene Protestkraft. Die Gelegenheit schien also günstig, die schulfreie Sommerzeit zu nutzen, um im Schnellverfahren die versprochene Justizreform unter Dach und Fach zu bringen.
Die überwältigenden Proteste gegen die Kaczyński-Pläne durchkreuzten alle Pläne, sie gestalteten sich zu überzeugenden Feierstunden für die geltende Verfassung, zu einer öffentlichen Lehrstunde für Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Demokratie. Anders als 2016 waren auf einmal auch überdurchschnittlich viele jüngere Menschen auf den Straßen, um die Verfassung zu verteidigen. Nur im Oktober 2016 hatten die Frauenproteste gegen die nationalkonservativen Vorstellungen eines strikten Abtreibungsverbots aus naheliegenden Gründen auch diese wichtige, zugleich schwierige Wählergruppe, erreicht. Der große Verlierer dieser Juli-Tage in Polen aber ist Jarosław Kaczyński, denn mit einem solchen Aufstand des Gewissens zur Verteidigung der ihm verhassten Verfassung hatte er nicht mehr gerechnet.
Der Präsident gilt nun im Kaczyński-Lager als jemand, der dem Druck der Straße aus Feigheit unnötig nachgegeben habe. Nachdem Duda seine Entscheidung gegen zwei der vorgelegten Gesetzesentwürfe öffentlich bekanntgeben ließ, schickte Kaczyński die Ministerpräsidentin, den Sejm-Marschall und den Senats-Marschall als seine Abgesandten in den Präsidentenpalast, um den Präsidenten doch noch umzustimmen. Es soll gesagt worden sein, dass der Parteivorsitzende dem Präsidenten ausrichten lasse, noch eine Stunde zur Verfügung zu haben, um sich zu korrigieren. Nun werden im PiS-Lager die Schotten hochgezogen, der Präsident gehört einstweilen nicht mehr dazu.
Am Abend der Präsidentenentscheidung gab es zur selben Sendezeit zwei Fernsehansprachen. Der Präsident verteidigte seine Entscheidung auf einem privaten, die Ministerpräsidentin erklärte hingegen auf dem öffentlich-rechtlichen Kanal, die Regierung werde unverdrossen an den Plänen festhalten. Einen solchen Eklat hat es im neuen Polen noch nicht gegeben. Aus der Sicht der eingeschworenen Kaczyński-Leute steht der feige Präsident nun allein vor dem verschlossenen Tore – in seinem Rücken die Protestierenden auf der Straße.
Kaczyński wird nun schnell darangehen, verlorenes Terrain zurückzuholen. Die Parteistrukturen stehen wohl fest zu ihm, das Regierungslager scheint intakt. Der Wählerzuspruch in den Umfragen liegt noch immer stabil bei über 30 Prozent. Soweit, so gut. Doch die Juli-Proteste haben angezeigt, und darin sind sich fast alle Beobachter einig, dass auf der politischen Bühne Polens bald ein größeres Stühlerücken einsetzen könnte. Die Entwicklungen in anderen Ländern haben gezeigt, wie schnell so etwas gehen kann. Ob dann aber im nationalkonservativen Lager alles beim alten bleiben wird, ist längst noch nicht ausgemacht.
Schlagwörter: Andrzej Duda, Gewaltenteilung, Holger Politt, Jarosław Kaczyński, PiS, Polen