20. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2017

Zur Renaissance des Frontalunterrichts

von Heino Bosselmann

Ein in die Bankreihen gebanntes Publikum, ehrfürchtig verfolgend, was ein auf erhöhtem Podest hinter einem Pult verschanzter „Lehrkörper“ quasi „ex cathedra“ vorträgt, so das Bild, das abendländische Bildung von Platons Akademie bis zu Spoerls Feuerzangenbowle äußerlich bot und dem gegenüber sich die Vorwürfe der Reformer erhoben.
Die reformierte Kirche übrigens setzte in Gottesdiensten auf die Predigt, das Wort, und installierte für dessen wirkmächtige Verkündung Kanzel und Gestühl – durchaus der Grundriss frontaler Vermittlung.
Der verzweifelte Faust in seinem Studierzimmer wiederum mochte „das Wort allein so hoch nicht schätzen“, als er den ersten Satz des Johannes-Evangeliums mit „im Anfang war die Tat!“ übersetzte.
Er wird dabei nicht den „handlungsorientierten“ Unterricht im Sinn gehabt haben, der in der Bundesrepublik zum Schlüsselbegriff zeitgemäßen Lernens avancierte – mit dem Ergebnis, dass die angestrebte „Kompetenzentwicklung“ vor einem Desaster steht: Die PISA-, und IGLU-Testereien attestieren im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich gerade jenen Bundesländern substantielle Mängel, die strukturell wie methodisch vermeintlich besonders modernen und schülergerechten Unterricht praktizieren.
Eine Politik, die sich pragmatisch viel mehr Abiturienten wünscht und daher fast alle Schüler als abiturabel deklariert, wundert sich andererseits, weshalb jene von Anfang an überforderten zwanzig Prozent schon die versimpelte Bachelor-Ausbildung hinwerfen und es überhaupt viel zu wenige Absolventen im MINT-Bereich gibt, daher aber einen Fachkräftemangel, der signalisiert, dass zu viele zu wenig können.
Die Achtundsechziger und deren sozialdemokratische Gefolgschaft wollten nicht nur mehr Demokratie wagen, sie setzten insgesamt auf eine Anthropologie, die per se jeden zum Talent erklärt, bewusst absehend von Leistungsvermögen und Anstrengungsbereitschaft. Während das traditionelle Schulwesen, ausgehend von Comenius und Pestalozzi, eine körperlich-geistige Entwicklung gerade durch den Frontalunterricht gewährleistet sah, galten die Schüler den Reformern in rousseauscher Weise als von Natur aus begabt, während lehrerzentrierter Unterricht als undemokratisches „Relikt aus Kaisers Zeiten“ bekämpft wurde. Unterbewusst dürfte sogar der militärisch-harte Klang des Wortes „frontal“ die negative Konnotation verstärkt haben.
Offene Gesellschaft, offene Unterrichtsformen! Die Bildungsreformer verunglimpften nicht nur bewährte Lehre, sie wandten sich ebenso gegen Kanonisierung, Allgemeinbildung und systematische Sprachpflege, sie setzten gegen das Majorat des Inhaltlichen jenes der Methode oder des bloßen Machens – in der Illusion, Schüler müssten nicht in erster Linie etwas wissen, sondern „das Lernen lernen“, als wäre dies ohne Inhalte je möglich. Danach erschlössen sie sich das Wesentliche schon selbst.
Im Ergebnis dieser Umbrüche wurden dabei jene Schüler noch weiter abgehängt, die man gerade ans Spitzenfeld heranführen wollte, die nämlich, denen notwendige Vorkenntnisse fehlten. Konnte man sie gemäß der gängigen pädagogischen Plattitüde „nicht dort abholen, wo sie standen“, waren sie nicht „mitzunehmen“, stellte man ihnen eben ungedeckte Schecks aus, mit denen man sie jedoch um so mehr im Stich ließ, weil das Leben selbst offenbarte, was ihnen an „Kompetenzen“ fehlte. Diese Schüler hätte ein gleichschrittiger Unterricht gefördert, während andererseits die offene Methode die Begabteren nie so entwickelte, wie man sich das vorstellte. Allzu oft versandeten sie im betreuten Durchschnitt. Trotzdem wurden mittlerweile bald drei Generationen Referendare dazu angehalten, Frontalunterricht als reaktionäres Muster zu meiden und stattdessen auf handlungsorientiertes, entdeckendes Lernen zu setzen, gern in Gruppen-, noch besser in völliger Freiarbeit.
Insofern aber gerade die Grundschule immer weniger elementare Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelte, zwanglos und notenfrei (gern bis Klasse drei) unterrichtete und dem Spielerischen den Vorzug gab, wurde immer weniger in die Sekundarstufe mitgebracht, was überhaupt zu freierer Arbeit befähigt hätte. Im Gegenteil, eher mussten Oberstufenlehrer massiv nachbessern und ausputzen – selbstverständlich frontal, weil verspätet. Zudem: Mit welcher Methodik wären fremdsprachige Immigranten eher zu qualifizieren als lehrerzentriert?
Ohne Anleitung kann Neues nicht effektiv gelernt werden. Es bedarf der Orientierung an einem Modell, der Erklärung, der Verdeutlichung des Lösungsbeispiels und hoher Anschaulichkeit. Gute Lehrer sollten vormachen und mitmachen können, Muster liefern und zeigen, was möglich ist. Sie sind eher als Schüler in der Lage, die erforderliche Lernsteuerung zu organisieren, während verfrühtes eigenständiges Problemlösen weit weniger effektiv erfolgt. Selbststeuerung überfordert schwache Schüler, von denen mit der Liberalisierung der Zugänge immer mehr zur Hochschulreife gebracht werden sollen. Mathematische Gesetze, die Rechtschreibung, naturwissenschaftliche Sachverhalte, geschichtliches und geographisches Allgemeinwissen und Vokabeln sind frontal besser zu vermitteln. Grundwissen ist durch nervöse Downloads nicht ersetzbar, sondern die Basis für ideenreiches Arbeiten und spätere Schöpferkraft.
Weil die Defizite unübersehbar sind, weil Grundschüler so schlecht rechnen wie noch nie, weil sie miserabel lesen und schreiben, weil es aber ebenso Gymnasiasten an der einfachsten Allgemeinbildung fehlt, wird der Frontalunterricht nicht nur rehabilitiert, sondern erlebt eine Renaissance. Denn er lässt aufholen, sichert Inhalte, zeitigt am schnellsten Lerneffekte, sein Vorbereitungsaufwand ist technisch gering und mit dem tatsächlichen Verlauf am besten in Deckung zu bringen. Er erleichtert die Kontrolle der Schüler und stellt schon über den direkten Blickkontakt eine emotionale Beziehung zu den Klassen her, er realisiert verbindliche Lernziele und führt kenntnisreich in neue Gebiete ein.
Nur bedarf es dazu Voraussetzungen, die im Ergebnis der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte rar wurden. Zum einen der Fähigkeit des Lehrers sich durchzusetzen, seine Schüler einbinden und begeistern zu können, zum anderen braucht es deren Wachheit, Konzentration und Ausdauer. Beides aber, Lehrer, die Persönlichkeiten sind, statt sich auf Rollentäuschung festzulegen, und Schüler, die sich belastbar darauf einstellen, waren lange kaum Thema.
Frontalunterricht ist keine Predigt, obwohl Lehrer für eindrucksvolle Vorträge und farbige Schilderungen ausgezeichnete Rhetoriker sein müssen. Er lebt vom geführten Unterrichtsgespräch, von Methodenwechseln und sehr wohl von selbständiger Schülertätigkeit mit sinnvoller Aufgabenstellung. Mit den neueren Formen und Methoden ist Lehrerzentrierung, solange ihr Priorität zukommt, problemloser zu verbinden als diese mit ihr, solange sie zu Dogmen der Universitätspädagogik erhoben werden. Weil die verzettelt föderalistische Schulpolitik sich aber nicht auf verbindliche Orientierungen festlegen wird, sondern allenfalls Einigungen auf niedrigstem Nenner anstrebt, weil außerdem eine an der Sicherung kultureller Bestände arbeitende „Schulaufsicht“ gar nicht existiert, sollte der verantwortungsvolle Lehrer couragiert gegen das System auf eigene Maßstäbe setzen. Investiert er sich dabei, wird er von selbst instruierend, also frontal wirken müssen.