von Attila Király
Die russischen Revolutionen von 1917 liegen in diesem Jahr 100 Jahre zurück. Das zeitigt unterschiedlichste Formen der Erinnerung: Tagungen und Sammelbände mit bekennend wissenschaftlichem Anspruch oder ohne, Ringvorlesungen, Dokumenteneditionen, Themenschwerpunkte in Zeitschriften. Die Revolutionsfeinde finden, dass sie schon immer Recht hatten. Die Revolutionsfreunde sind heute etwas stiller geworden. Ihnen steckt noch das Ende der Sowjetunion und des osteuropäischen Realsozialismus in den Knochen. Und die Entwicklungen in Caracas lassen nicht gerade die Wiederauferstehung in Gestalt eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bejubeln.
Für politische Parteien, die im Getöse und Sterben des ersten Weltkrieges einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel anstrebten – als gewaltsame Revolution oder als verfassungsmäßigen Reformprozess –, stand fest, es galt, den Kapitalismus zu überwinden. Einige Jahrzehnte später hatten sich die Sozialdemokraten von einer solchen Position ostentativ verabschiedet. Nach 1989/90 waren ihnen viele eilfertig gefolgt, die zuvor noch das Vermächtnis von 1917 hochgehalten hatten. Etliche der Gewendeten meinten, Lenin müsste nun exkommuniziert, in effigie verbrannt und aus der sozialistischen Ahnengalerie getilgt werden. War die Oktoberrevolution gestern noch der Große Wendepunkt der Weltgeschichte, mutierte sie nun zum schlichten Coup d’État, durch den eine selbsternannte, von der Geschichte unberufene Gruppierung sich die Macht aneignete. Währenddessen wird die Februarrevolution auf neuen Glanz poliert und zur Sternstunde einer Demokratie erklärt, die es in Russland nie gab.
Das neue Heft der Zeitschrift Berliner Debatte Initial (Heft 1/2017) ist dem Revolutionsthema gewidmet. Die Überschrift wurde dem Titel eines Romans von Artjom Wessjoly aus dem Jahre 1932 über den russischen Bürgerkrieg entlehnt: „Russland im Blut gewaschen“. In dem Roman geht es um die Welt, die im Feuersturm des ersten Weltkrieges erzitterte, um das von Leiden erfüllte Russland, das Schicksal einfacher Bauern, die als Soldaten in diesem unseligen Krieg kämpfen mussten und beflügelt von der Oktoberrevolution dann die Revolution mit ihrem Blut verteidigten.
Die in den vergangenen Jahren zahlreich erschienenen Neu- und Wiederentdeckungen russischer Prosa über Revolution und Bürgerkrieg legen es nahe, die historischen Betrachtungen auf das russische 1917 um den Blick der Literatur zu erweitern. Fast unmittelbar mit der Revolution waren diese selbst und die Erwartungen einer neuen Gesellschaft und eines Neuen Menschen zu einem zentralen Thema der Literatur geworden. Der Schwerpunkt-Titel bei Initial heißt deshalb: „’Russland in Blut gewaschen’– Ein Revolutionsjahr und seine Folgen in der Literatur“ . Die Beiträge des Heftes gehen den Fragen nach: Wie werden die Revolution und ihre Folgen in der Literatur dargestellt und verarbeitet? Welche Sicht auf die Geschichte eröffnen die Texte? Wie deuten sie Genesis, Dialektik und Perspektive der Revolutionsepoche? Die Geschichte der Rezeption dieser Literatur ist auch eine Geschichte der Auseinandersetzung mit der Russischen Revolution 1917. In ihr schlagen sich die Sichtweisen der jeweiligen Zeiten nieder. „In die literarischen Bilder und Gegenbilder von Revolution, Bürgerkrieg und neuer Gesellschaft ist die Historie eingeschrieben“, betonen die Herausgeber Wladislaw Hedeler und Thomas Möbius in ihrem einleitenden Text. „Sie sind gleichermaßen Deutung der Ereignisse und Ausdruck der Zukunftserwartung wie auch deren Desillusionierung.“ Der bereits 1921 verstorbene Schriftsteller Alexander Block etwa „vergleicht die Revolution mit einem Schneesturm, der die Menschen wie Schneeflocken vor sich her treibt“.
Bei Initial werden auch Übersetzung und Rezeption in der DDR und BRD erörtert sowie die gegenwärtigen Wiederentdeckungen. Literaturwissenschaftler, Lektoren und Übersetzer waren zum Gespräch eingeladen über das anhaltende Interesse an der Literatur über die Revolution, die unterschiedlichen Herangehensweisen an Auswahl, Übersetzung und Kommentierung dieser Literatur in der DDR und der BRD und den Gewinn von Neuübersetzungen. So debattierten die Slawistin Christa Ebert, der Historiker Christian Hufen, Herausgeber von Schriften des russischen Philosophen Fedor Stepun, Gabriele Leupold, Übersetzerin der Werke von Warlam Schalamow und Andrej Platonow, sowie Christina Links, einst Leiterin des Lektorats Sowjetliteratur im Verlag Volk und Welt.
Der Übersetzer Andreas Tretner vergleicht in seinem Beitrag die deutschen Übersetzungen von Babels „Reiterarmee“ und rekonstruiert die Umstände ihrer jeweiligen Entstehung und Veröffentlichung. Die Editionsgeschichte der „Reiterarmee“ in der DDR zeigt exemplarisch, wie deren Literatursystem funktionierte und wie darum gerungen wurde, Autoren wie Babel – 1940 als angeblich trotzkistischer Agent erschossen und 1954 offiziell rehabilitiert – veröffentlichen zu können. Mit welchen Folgen der Revolution die Schriftsteller Platonow und Woloschin am Vorabend des 10. Jahrestages der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ konfrontiert waren, beschreiben Michael Leetz und Fritz Mierau. Platonow wurde Opfer einer bürokratischen Intrige und verlor den Posten, auf den er beim Gewerkschaftskongress demokratisch gewählt worden war. Woloschin bangte um das Fortbestehen der von ihm begründeten Künstlerkolonie auf der Krim, dem „Haus des Dichters“. Der mit der Revolution sympathisierende Aufsteiger Platonow und der Vertreter der alten Intelligenz Woloschin erfuhren ein und dieselben Kränkungen und Erniedrigungen. Die Bürokratie sah in unkontrollierten Initiativen und Freiräumen eine Gefahr und unterdrückte sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln.
Eine Werksausgabe Platonows wurde in der DDR 1986 – also in der „Perestroika“-Zeit – begonnen. Bis 1993 wuchs sie auf sechs Bände an. Dennoch blieb er, etwa im Vergleich zu Michail Bulgakow, weitgehend ein noch zu Entdeckender. Sein „Brief an einen Unbekannten“ vom August 1927, in dem er die Intrige gegen sich darstellt, ist in Initial abgedruckt. „Ich beschloss zu prüfen, ob die schwache Wahrheit die starke Unwahrheit besiegt“, schrieb er. Er unterliegt in diesem Kampf. Und das bereits Jahre, bevor der „Große Terror“ Stalins begann. Die Kraft der Schwachen, die gegen die Übermacht eines toten staatlichen Mechanismus kämpfen, bleibt zentrales Thema seiner Literatur bis zu den letzten Erzählungen Ende der 1940er Jahre. „Doch bei aller Kritik, die Platonow an den gesellschaftlichen Zuständen in der Sowjetunion übte“, schreibt Leetz, „darf nicht vergessen werden, dass sein Ausgangspunkt immer die Oktoberrevolution des Jahres 1917 mit ihren Idealen von einer Gesellschaft ohne Versklavung war und blieb. Die bürokratisch-diktatorischen Machtstrukturen waren für ihn keine Folge der Revolution, sondern Ausdruck der Entfremdung von ihr.“
Schlagwörter: Andrej Platonow, Attila Király, Berliner Debatte Initial, Oktoberrevolution, Russland