von Dieter Naumann
Die Bewohner der Insel Rügen waren auf dem Festland wegen ihres angeblich übergroßen Appetits bekannt als „de rügenschen Frätsäck“. Ein Spottvers aus dem 15. Jahrhundert, der dem Camminer Bischof Benedikt Waldstein oder Bischof Marinus de Fregeno zugeschrieben wird, lautete: „Willʼs dir nicht gelingen / sieben Mahlzeiten zu schlingen / und einen Käse Zentergewichts / gilts du auf Rügen nichts.“
Dabei war der „Küchenalltag“ etwa auf Mönchgut angesichts der schweren Arbeit am Tage nicht üppig: In der Regel nahm man vier Mahlzeiten ein. Das Frühstück bestand meist aus gesalzenem oder gedörrtem Fisch, zu dem es Kartoffeln gab. Wenn – wie bei der Ernte – der Arbeitstag sehr lange dauerte, nahm man ein zweites Frühstück mit Speck und Wurst zu sich. Zum Mittagessen gab es meist feingeschnittenen Kohl mit Gersten- oder Buchweizengrütze und wenig Pökelfleisch. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war außer Kohl kein anderes Gemüse üblich („Grönfauder ät wi nich“). Kohl war auch in fast jedem Vorgarten zu finden. Kohl-Eintopf, der mehrfach aufgekocht werden konnte, war das typische „Arme-Leute-Essen“. Nur wenige konnten sich noch eine Grützsuppe mit Buttermilch oder Quark mit süßer Milch („Dick an dünn“) leisten. Am Sonntag kam etwas Abwechslung durch Salzfleisch mit Salzkartoffeln und Pökel- oder Zwiebelsoße, im Frühjahr hin und wieder durch Eierkuchen mit Backpflaumen. Bis 1850 wurde das Mittagessen nur zweimal wöchentlich frisch gekocht, ansonsten wurde das Essen aus dem großen Kessel nur aufgewärmt. Am Nachmittag gab es Kornkaffee, dazu Brot mit Butter und Schmalz, gegen 21.00 Uhr wurde die „Nachtkost“ gereicht, Salzhering mit Pellkartoffeln und Gerstsuppe.
Eine Wittowerin schildert dem Chronisten Günter Käning die noch in den 1920er Jahren üblichen Mahlzeiten der einfachen Leute im Norden Rügens: Das Essen habe meistens aus Eintopf wie Wrucken-, Erbsen- oder Kohleintopf bestanden, manchmal auch aus Kartoffelsuppe mit angebratenem Speck und Zwiebel mit einer Lungenwurst dazu. Klütensuppe aus Milch und Mehl sei oft auf den Tisch gekommen, wozu ein Stück Brot gereicht wurde. Eingelegte Ostseeheringe seien gern mit Rügener Kartoffelsalat oder Stampfkartoffeln gegessen worden, hin und wieder auch Bratflundern und Hornfische, Bratkartoffeln und Matjesheringe. Auf Wittow waren Pellkartoffeln mit Salzheringen verbreitet, wozu es ein kleines Stück Butter oder gebratene Speckstückchen und Zwiebeln gab. Gern wurde selbstgemachter Griebenschmalz gegessen, der oft mit Apfelstückchen und Zwiebelringen verfeinert war.
Nur bei Festen, etwa Hochzeiten, kam alten Schilderungen und Dokumenten zufolge mehr und Besseres auf den Tisch. Dann galten die traditionellen Sprüche: „Man mötʼn Löpel nich ihrer dallegen, as bet man satt is“ (Man soll den Löffel nicht eher hinlegen, als man satt ist) und „Sup di dun und frätt di dick und holl din Muul von Politik“ (Sauf dich nieder und friss dich dick und halt dein Maul von Politik). Eine Rechnung um 1884 für eine einzige, ganz normale Hochzeit ließ auf folgenden Verbrauch schließen: „1 Fettschwein, 2 Hammel, 1 Kuh, 108 Liter Kornbranntwein, 20 Liter Rum, 35 Liter Likör und acht Tonnen Bier“. Man aß Schweinebraten mit Pflaumen und Kartoffeln, Hümpel-up mit Peekaal (Klöße und Backobst, dazu gekochten Aal) oder Drüschelhering (weich gekochte Backbirnen mit zerriebenem Senf, saurer Milch und gekochtem Hering).
In allen Gegenden Rügens spielte der Fisch die größte Rolle unter den Nahrungsmitteln. Carl Gustav Carus (1789–1869), Arzt, Maler und Naturphilosoph, berichtete von seiner Rügenreise im Jahre 1819: „Ich fand es sehr originell, als die Wirtin um unser Frühstück zu besorgen, uns aus dem großen Rauchfange gleich neben der sogenannten Gaststube, von den in dichten Reihen dort hängenden Flundern und Zungen […] sofort eine Anzahl herunterholte und uns zum Kaffee auftischte, aber die Praxis war gar nicht so übel, und die zarten, wohldurchräucherten Seebewohner mundeten wirklich gut.“ Die damals rund 70 bekannten Fischarten wurden gesalzen, gekocht, geräuchert, gepökelt oder getrocknet.
Aus eigenem Anbau wurden Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, weiße und graue Erbsen, Wicken, Buchweizen, vereinzelt Linsen und Hirse, Rüben und natürlich „die Lieblingsspeise des kleinen Mannes“, Kartoffeln („Tüfften“), zu Lebensmitteln verarbeitet.
Bei Feierlichkeiten waren neben Fisch allerlei Geflügel aus eigener Zucht, wie Gänse (Spickgänse waren eine beliebte Delikatesse), Enten, Puten und Hühner sowie „essbares Federwild“ auf dem Speisezettel, darunter auch Amseln, Gelbdrosseln, Ammern und Stare, ja sogar Schwäne. Das „Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt“ schrieb am 6. März 1907, dass im Laufe des Winters „von den hiesigen Jägern eine ganze Anzahl dieser Tiere erlegt (wurden), die nicht nur wegen ihres ganz besonderes geschätzten Federkleides, sondern auch wegen ihres Fleisches (der gerupfte Schwan wurde hier mit 2–3 Mark verkauft) stark verfolgt werden“. Schon 1537 hatte Chronist Thomas Kantzow (um 1505–1542) etwas sarkastisch festgestellt, „das Land hat sonst nichts Namhaftiges allein dass es viele und große Gänse gibt“.
Es fällt auf, dass zumindest auf Mönchgut Kalbfleisch auf dem Speisezettel fehlte. Kälber, die nicht zur Aufzucht taugten, wurden getötet und verscharrt. Heinrich Rudolf Constanz Laube (1806–1884), Schriftsteller, Dramatiker, Theaterleiter und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, schrieb sarkastisch über die Bewohner des Mönchguts: „Ihre Antipathien sind das Kalbfleisch und der Putbusser. Jenes essen sie nie, und mit diesem verkehren sie höchst ungern.“ Eine Erklärung dafür findet sich in der Literatur nicht. Johann Jacob Grümbke (1771–1849), Begründer der rügenschen Heimatkunde, merkte an, „… die Mönchguter (genießen), obwohl keineswegs aus gleichem Religionswahn (wie die Hindu – d. A.), sondern nur aus Vorurtheil und Gewohnheit, in der Regel kein Kalbfleisch. Jungen Kälbern, die sie nicht zum eignen künftigen Gebrauch oder zum Verkauf an fremde Schlächter aufziehen, wird das Fell abgestreift, welches sie allein benutzen, und das Fleischgerippe weggeworfen.“
Kaffee spielte lange Zeit keinerlei Rolle, die meisten Rüganer kannten das Getränk überhaupt nicht, ganz abgesehen davon, dass Kaffee genauso wie Tee für sie viel zu teuer gewesen war. Karl Nernst (1775–1818), Verfasser der „Wanderungen durch Rügen“, die den ersten gedruckten Reisebericht darstellen, der sich ausschließlich mit Rügen befasst, erzählte, ein Bauer aus Dranske hätte einst einen als Strandgut angeschwemmten Sack Kaffeebohnen ersteigert und später geklagt, er habe damit nur Ärger gehabt. Trotz längeren Kochens – die Abendmahlzeit wurde extra noch eine weitere Stunde auf die Nacht verschoben – habe seine Frau das Zeug nicht weich bekommen. Selbst die Schweine, an die sie „das theure Gerichtlein“ nun wenigstens verfüttern wollte, konnten daran keinen Gefallen finden … „Nun da seht mir‘ mal die Narrheit des vornehmen Volks, rief sie ganz entrüstet: machen da ein Geschrei von einem Fraß, den meine Säue nicht einmal anriechen!“
Mehr Gefallen fanden die Rüganer offenbar am Branntwein und Bier. Grümbke klagte, die Rüganer „sind … zum Teil starke Esser und wenn die Kost nicht vorhalten will, so muß man es, wie sie sagen, durch den Trunk zwingen, worunter sie aber nicht Wasser, oder Bier, sondern Branntwein verstehen … Branntweintrinken ist mehr als je bei ihnen eingerissen und bei vielen zum Laster geworden“. Alfred Moritz Wilhelm Gottlieb Haas (1860–1950), Historiker und Volkskundler, soll erschüttert festgestellt haben, dass bei einer Hochzeit „allein für 36 Taler Kirschbranntwein ausgetrunken worden ist“, eine für die damalige Zeit sicherlich unglaubliche Menge. Interessant ist, dass zumindest die dänische Regierung in einem die Kirchenordnung betreffenden Regierungsbefehl anwies, Hochzeiten, die mit „ärgerlichem Schmausen“ verbunden waren, von überflüssiger Üppigkeit zu befreien. Exzesse sollten sogar bestraft werden. Offenbar fürchtete man im fernen Dänemark, die Untertanen könnten Schaden an ihrer Steuerkraft nehmen. Nernst meinte dagegen, „so große Liebhaber sie aber auch von diesem Getränke sind, und so oft und so viel beide Geschlechter davon trinken, so hat man doch äußerst selten das Beispiel einer sinnlosen Trunkenheit“. Da passt der augenzwinkernd vorgetragene Spruch: „Wat bruken wi Alkohol, solang wi Bier und Bramwien hewwen?“ Tatsächlich war vor allem im 18. Jahrhundert Branntwein als vermeintlich stärkendes Getränk verbreitet und wurde – in Verbindung mit Kümmel, Anis, Kalmus oder Nelken – als Allheilmittel gegen alle möglichen inneren Übel angesehen und auch äußerlich als Waschmittel, zu Einreibungen und Umschlägen angewandt. Für den nötigen „Nachschub“ sorgten die einst zahlreichen Branntweinbrennereien auf Rügen.
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