von Erhard Crome
Der frisch gekürte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat als erstes erklärt, US-Präsident Donald Trump sei „hochgradig demokratiegefährdend“. Wie aber will er dann, sollte er es je ins Kanzleramt schaffen, mit dem real existierenden Präsidenten reden? Als Beleg verwies er auf das Einreiseverbot, es sei „unerträglich“. Noch-Bundespräsident Joachim Gauck predigte in seinem Interview für einige ausländische Zeitungen Anfang Februar: „Amerika war in den Augen vieler Menschen […] immer ein Leuchtturm der Freiheit und ein sicherer Hafen für persönliche und politische Hoffnungen.“ Trumps Dekret widerspreche „dem großen Traum von Freiheit und von der Gleichheit aller Menschen, ungeachtet ihrer Religion und ihrer Herkunft.“
Die Berliner Zeitung machte es noch einen Zahn schärfer, sie sprach gleich von einer „Zerstörung des Weltkulturerbes“ und berief sich auf die Inschrift an der Freiheitsstatue in New York: „Gebt mir eure Müden, eure Armen,/ Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,/ Die bemitleidenswerten Abgelehnten eurer gedrängten Küsten;/ Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,/ Hoch halt’ ich mein Licht am gold’nen Tore!“ Dann resümierte das Blatt: „Das war das Versprechen, das seit Gründung der USA Millionen Menschen lockte“.
Das klingt alles sehr schön. Nur stimmt es historisch nicht. Was die Einwanderer betrifft, die schrittweise die indianischen Ureinwohner verdrängten und ausrotteten: Die Ostküste des Landes wurde von Engländern und Schotten besiedelt, die auch die frühere niederländische Kolonie in New York (ursprünglich Neu Amsterdam) übernahmen. Viele kamen nicht wegen der Not und der Kriege in Europa, sondern um der Unterdrückung durch Fürsten und Könige sowie religiösen Verfolgungen zu entrinnen. Zwischen 1600 und 1770 kamen etwa 750.000 Menschen aus Westeuropa über den Atlantik, um sich eine neue Welt zu schaffen. Die Unabhängigkeitsrevolution war eine konservative Revolution: die Kolonisten verteidigten ihre Freiheiten gegen die britische Krone, die diese seit den 1760er Jahren einschränken wollte. Zu dieser Zeit hatten die 13 Kolonien, die 1789 die USA gründeten, etwa 2,5 Millionen Einwohner. Da mit dem „Go West“ Menschen gebraucht wurden, die die riesigen Räume bis zum Pazifik besiedeln, war die Einwanderungspolitik vergleichsweise aufgeschlossen, die Zahl der Einwanderer stieg. In den 1820er Jahren waren es 106.500 Menschen, in den 1850er Jahren 2,45 Millionen, den 1880er Jahren 4,74 und 1901-1910 8,13 Millionen.
Widerstände gegen die Einwanderung gab es seit den 1840er Jahren. Alteingesessene sperrten sich gegen die Neuankömmlinge. Es gab Opposition dagegen, diesen sofort das Wahlrecht zuzugestehen, weil sie keine Erfahrung mit den amerikanischen Bräuchen hätten. Die protestantische Bevölkerung war gegen die Zuwanderung von Katholiken, die nach der großen Hungersnot seit den 1840er Jahren in Scharen aus Irland kamen, seit den 1890er Jahren kamen immer mehr Polen aus Deutschland und Russland sowie Italiener. In dieser Zeit flüchteten auch immer mehr Juden aus Osteuropa in die USA, wegen der wachsenden Diskriminierung in Österreich-Ungarn sowie Verfolgung und Pogromen in Russland. War die Einwanderung aus diesen Ländern in den 1860er Jahren noch marginal, so kamen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts 24 Prozent der Einwanderer aus Österreich-Ungarn, 23 Prozent aus Italien und 18 Prozent aus Russland.
Ende des 19. Jahrhunderts war das Land bis zum Pazifik erobert, es gab keine zu verteilenden Ländereien mehr. Mit der Einwanderung waren stets nicht nur intelligente, fleißige, gebildete Leute ins Land gekommen, sondern auch Verbrecher, psychisch und physisch Kranke, Prostituierte und Arme. Bereits in den 1850er Jahren wurde in den Städten der Ostküste gefordert, dass Arme, die bald nach der Ankunft in Armenhäusern auf öffentliche Kosten versorgt werden mussten, rasch wieder abgeschoben werden sollten. Der Gewerkschaftsführer Samuel Gompers schrieb in seiner Autobiographie über die Situation Ende des 19. Jahrhunderts: „Die Mehrheit der Einwanderer kommt nicht länger aus Westeuropa, wo Sprache, Gewohnheit und industrielle Organisation denen der Vereinigten Staaten ähnlich sind; sie kommen aus osteuropäischen Staaten, wo Leben und Arbeit auf niedriger Stufe stehen. Indem diese Einwanderer unsere wichtigsten Industrien überfluten, drohen sie unsere bisherigen Errungenschaften zu zerstören.“ Die angestammte Arbeiterschaft stand auf der Seite der Einwanderungsbegrenzung. Mit Gesetzen von 1875 und 1882 verbot der Kongress die Einwanderung von Verbrechern, Prostituierten, Geisteskranken und Armen, die „offensichtlich unfähig“ waren, sich selbst zu ernähren. An der Westküste entwickelte sich eine starke Hetze gegen „billige Chinesenarbeit“. Mit dem „Chinese Exclusion Act“ von 1882 wurde die Einwanderung chinesischer Arbeiter – und in der Praxis galt jeder Chinese als Arbeiter – untersagt. Dieses Gesetz wurde erst 1943 aufgehoben.
Nach dem ersten Weltkrieg wuchs angesichts von Not und Elend in Europa die Furcht vor verstärkter Einwanderung in die USA. 1921, dann verändert 1924 führte der Kongress eine Quotenregelung ein: es wird die Anzahl der Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten, die in den USA leben (nach ihren ursprünglichen Herkunftsländern beziehungsweise deren ihrer Vorfahren), geschätzt und die Zahl möglicher Zuwanderer auf zwei Prozent derer festgesetzt; dann wird dieser Anteil ins Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl der USA gesetzt und eine Prozentzahl gebildet, wie hoch der Anteil der Einwanderer aus dem jeweiligen Land pro Jahr sein darf. Zugleich wird eine Gesamtzahl der Einwanderer pro Jahr festgelegt – ab 1924 154.000 jährlich – und darauf werden die Quoten bezogen.
Die Einwanderung von Japanern, die seit 1907 erleichtert war, wurde ebenfalls reduziert und dieser Regelung unterworfen. Da die Datengrundlage die Volkszählung von 1890 war, wurden Ost- und Südeuropäer erheblich benachteiligt und Asiaten von Einwanderung praktisch ausgeschlossen. Das System sollte langfristig ein weißes, protestantisches Übergewicht in der Bevölkerung gewährleisten. Vor dem zweiten Weltkrieg waren die Einreisebestimmungen noch verschärft worden, als vom Naziregime politisch Verfolgte und Juden besonders dringend der Hilfe bedurften. Ab 1940 hatte Präsident Franklin D. Roosevelt jedoch die Einreise besonders gefährdeter Personen außerhalb der Quoten ermöglicht.
Widerstand in der Gesellschaft gegen die beschriebene Einwanderungspolitik hatte es bereits im 19. Jahrhundert gegeben. Es gab stets eine fremdenfeindliche und eine einwanderungsfreundliche Seite. In den 1930er und 1940er Jahren setzten sich zivilgesellschaftliche Organisationen für die Rettung in Europa Verfolgter ein. Mit neuen Gesetzen von 1965 und 1978 wurde die Quotenregelung abgeschafft und durch eine weltweit einheitliche Quote ersetzt. Das heute geltende Einwanderungsrecht stammt aus den Jahren 1986 und 1996. Die Zuwanderung seither nahm wieder zu, in den 1990er Jahren waren es etwa zehn Millionen Menschen. Etwa jeder zehnte US-Bürger ist heute ein Einwanderer. Darüber hinaus leben im Lande Millionen illegaler Einwanderer; im Jahre 2011 waren es etwa 11,5 Millionen, darunter 6,8 Millionen aus Mexiko. Die politischen Auseinandersetzungen seit den 1990er Jahren werden vor allem um den Verbleib und den Status der illegalen Einwanderer geführt. Unter Bezug auf den 11. September 2001 wurden 2005 die Bestimmungen über Fälschungssicherheit und den Missbrauch von Personaldokumenten verschärft. Damit sind die praktischen Aufenthaltsbedingungen für die Illegalen komplizierter geworden.
Die Auseinandersetzungen in den USA um Staatsbürgerschaft, Einwanderung und Grenzkontrolle werden seit über 150 Jahren geführt. Sie haben sich mit einem Präsidenten Trump verschärft. Die liberal-demokratische Seite meinte, dauerhaft eine politische Hegemonie erlangt zu haben, und muss jetzt sehen, dass ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft ihre Positionen nicht teilt. Wer die Einwanderungspolitik der USA als „Weltkulturerbe“ bezeichnet, hat jedes Maß an Urteilskraft verloren. Und dass Trump ein seit der Gründung der Vereinigten Staaten bestehendes „Versprechen“ gebrochen habe, gehört in das Reich der Märchen von den USA als „leuchtende Stadt auf dem Berge“.
Schlagwörter: Donald Trump, Einwanderungspolitik, Erhard Crome, Grenzkontrolle, illegale Einwanderung, Quotenregelung für Einwanderer, Staatsbürgerschaft, USA