20. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2017

Eisernes Band, 1982 – 1985

von Heino Bosselmann

Ich verdanke den Grenztruppen der DDR zunächst die wichtige Grunderfahrung immens eingeschränkter Freiheit – weit hinaus über die sonstigen Erfahrungen damit, die ich als Hineingeborener ja eher unbewusst erlebte. Das eiserne Band der totalen Herrschaft, von dem Hannah Arendt spricht, es schmiegte sich zunächst recht schmerzarm an.
Vermutlich ist es wichtig, das dann durchgestanden zu haben.
Was genau?
Nicht mehr zu sein als ein Name in einer Liste. Ein Typ mit Dienstgrad, der Typen mit höherem Dienstgrad ausgeliefert war, ebenso wie die wiederum von anderen mit noch bunterem Lametta kommandiert, also kujoniert wurden. Um einer vermeintlich großen Sache willen, die sich, wie alle großen Sachen, als gescheitert erwies. Ich wäre sonst heute nicht so gelassen und prinzipiell zufrieden, ja glücklich mit meinem Leben außerhalb einer Liste, einer Kaserne, eines Lagers.
Topoi des zwanzigsten Jahrhunderts: Listen, Lager, Kasernen. Alles sehr analog, vielleicht alsbald digital noch verheerender möglich.
Die Grundausbildung beugte uns bewusst in ein enges Joch. Wir waren alle zwangsvereinnahmt, die zwölf Mann im Zimmer, die Hundert auf dem Flur, sämtliche Dreitausend im gesamten Ausbildungsregiment, drei große Blöcke an einem riesigen Appellplatz, Stabsgebäude, Essensgebäude, Lehrgebäude dazu.
Es war nicht mal gestattet, sich tagsüber auf das Bett zu legen. Zum einen wäre das eine viel zu privatime Aktion der Alltäglichkeit gewesen, zum anderen hätte man den morgendlichen Bettenbau sogleich eingerissen – etwas, was nicht in zwei Minuten zu rekonstruieren gewesen wäre.
Beides sollte es nicht geben, Alltag nicht, Privates nicht. Gut, es gab einen Ort, wo man der Vereinnahmung entging, einen einzigen, das Klo. Dorthin verpisste man sich. Nur hatte man dort gleich rechts und links Nachbarn, getrennt nur von ein paar Millimetern Presspappe. Immerhin konnte man sich unten durch Kippen spendieren. Männergruppe, aufgehockt. Auch das bleibt: Noch heute benutze ich keine öffentliche Toilette, wenn die Kabine nebenan auf Rot gezogen ist. Obwohl: Mann müsste mal unten ‘ne Kippe durchstecken.
Während des vorgeschrieben Zeitungsstudiums am Abend standen die Türen zum Kompanieflur offen; dort patrouillierte der UvD, glotzte unterm Mützenschirm mit üblicher Kapo-Missgunst in die Stuben, ob da nicht etwa jemand den Kopf auf die Wintermütze legte, um mal zu ruhen. Ruhe sollte nämlich auch nicht sein, nur die paar Stunden nachts, wenn mal kein Alarm war. Nachtruhe, befohlenerweise. Sie hetzten uns durch den Tag, das war das Prinzip. Irgendwann würde es ruhiger werden, hieß es. Das war die Illusion. Es wurde nämlich nicht ruhiger. Nach Ende des Dienstplans noch angesetztes Normtraining für Schutzmaske, Schutzanzug, Schutzfolie, vor der Nachtruhe Klimmzüge; an den Wochenenden physische Ausbildung auf dem Sportplatz. Sonnabends großes Revierreinigen, danach in die Kompaniedusche: hundert Mann auf den Fliesen, Wasser auf, Wasser zu, einseifen, Wasser auf, abspülen, Wasser zu. Wer es nicht begriff, rückte mit eingeschäumten Haaren wieder raus. Danach: Training Spezialausbildung, beispielsweise Funkverkehr.
Wir zerlegten die AK-47 in ein paar Sekunden, in genau so vielen hatten wir sie wieder zusammen. Wir sprangen morgens mit Pfiff aus dem Bett, drängelten uns an der schäumenden Pissrinne, hatten dann schon draußen die Panzerkettenglieder für den Frühsport in der Hand oder liefen dreitausend Meter durch die Dunkelheit.
Was entspannte uns? Die öde-langweiligen Polit-Veranstaltungen, vor allem der Singsang der Ideologie in den sogenannten Vorlesungen, in denen man Briefe schreiben konnte. Ich schrieb jeden Tag an meine Freundin Katrin nach Eisenach. Jeden Tag, obwohl keine Zeit war. Ich schrieb auch während des Zeitungsstudiums, und beim Vorbeigehen des UvDs auf dem Flur schob ich das Blatt unter das Neue Deutschland oder die Junge Welt. Ich war eingedeckt mit Briefkuverts und Briefmarken. Verbotenerweise hatte ich alles knittrig in den Beintaschen: Papier, Kuverts, Federhalter, Briefmarken sowieso. Ich konnte Katrin nichts Neues melden, ich durfte es auch gar nicht, weil noch das Banalste geheim war. Aber ich beschwor täglich unsere Beziehung, das, was wir Liebe nannten, als Ritual, als eine Art Gebet, jeden Tag. Und ich schärfte dem Gehilfen des UvD oder dem TS-Fahrer ein, er möge den Brief sicher einwerfen, denn wir selbst kamen ja an keinem Briefkasten vorbei. An der einzigen Telefonzelle des Objekts stand immer eine Schlange, deshalb telefonierte ich nicht.
Moment der angenehmsten Kontemplation: Am 10. November 1982 starb in Moskau Leonid Breshnew, das Gesicht der Sowjetunion. Wir mussten in den Fernsehraum einrücken und sahen den Sowjetmenschen beim Trauern zu. Die gesamte Ausbildung fiel aus. Wir schrieben Briefe und hörten dabei den schönen Trauermarsch von Chopin, passend zum Dezember, passend zum grau verhangenen Moskau, passend zu unserer Lage. Die Heizung wummerte, der Transpirationsdruck blähte den Raum, die Ausdünstungen der Filzuniformen; es wurde sehr warm mitten im Kalten Krieg, kurz vor seinem gruseligsten Jahr, 1983, in dem wenige Gründe zum großen Knall ausgereicht hätten, insbesondere das fiese NATO-Manöver „Able Archer“, das die UdSSR hochnervös werden ließ. Nebenher bekamen wir mit, wie problematisch es um unsere Wirtschaft stand, wir hörten vom Westkredit und dachten noch: Wenn sie uns Geld pumpen, dann greifen sie doch eher nicht an, wenigstens nicht, bevor sie den Zaster zurück haben. Aber vor allem schrieben wir Briefe, verdrückten uns in die Raucherecke und quarzten beim Stiefelputzen so leidenschaftlich und schnell, dass sich Karo-Kippen zu Glutkegeln spitzten.
Noch auf der Brandbahn und während der Entaktivierungsübung mit radioaktivem Kupfer 64 dachte ich: Wie bringe ich die drei Jahre bloß rum? Ich grübelte darüber nach, wenn ich im Eisenacher Souterrain mit Katrin schlief und wenn wir Stunden später zerknirscht zum Bahnhof gingen. Alle zwölf Wochen „verlängerter Kurzurlaub“, wenn es gut lief, jeweils von Freitag nach Dienst bis Dienstag zum Dienst, Reichsbahnfahrzeiten quer durch die Republik eingeschlossen. Einmal jährlich Erholungsurlaub von zwei Wochen. Mehr war nicht drin. Gefechtsbereitschaft, hieß es. Ihr wisst ja, die Mittelstreckenraketen im Westen, da gibt‘s kaum Vorwarnzeit; das Diensthabende System muss stehen.
Wir haben alle zusammen im Dreck gelegen. Wir haben das irgendwie durchgehalten. Nach dem Ausbildungshalbjahr kamen wir an die Grenze zur Bundesrepublik, die da als Feindesland noch BRD hieß, und mussten damit zurechtkommen, Gewalt über Leben und Tod zu haben, viele von uns auf einer Führungsstelle, von wo aus an die zwanzig Kilometer Grenze an der nervösesten Stelle Europas zu befehligen waren. Jeden Tag, jede Nacht, dreimal vier Jahreszeiten lang. Vor uns der Bundesgrenzschutz, hinter uns der Militärstaatsanwalt. Bloß nicht Militärknast in Schwedt riskieren! Wir waren achtzehn, dann neunzehn, dann zwanzig, schließlich einundzwanzig, aufmunitioniert mit sechzig Schuss Stahlkern, ausgebildet an allem, was wir da vorn brauchte, zudem durchtrainiert; wir lebten zwar massiv ungesund, die Karo, der eingeschmuggelte Fusel, Juwel-Klarer, aber wir erfüllten die Befehle und hielten durch.
Der Gruß untereinander: Versau dir nix! – Das hieß: Komm bloß irgendwie durch, Alter. Das hieß auch: Ladʼ dir besser keinen Mord auf die Seele, einerlei, was der Befehl befiehlt. Umgeh das Schlimmste, irgendwie. Krieg das einfach mal hin, schaffen doch die allermeisten, Du bestimmt auch. Versau Dir ganz einfach nix.
Und die letzte Schicht dann mit Zigarre, so dass einem kotzübel wurde, obwohl man Karo gewöhnt war. Die allerletzte, die „goldene Schicht“, nach Hunderten Schichten innerhalb 1096 Tagen Grenztruppen der DDR. Den Mündungsschoner der AK-47 mit goldenem Stanniol-Papier umwickelt. Noch eine Schicht, die letzte: Versau dir nix!
Siehste, hastʼs geschafft.
Und am nächsten Tag nach drei Jahren wieder draußen. Verabschiedung bei Marschmusik im Nieselregen auf dem Marktplatz in Boizenburg. Wo Korvettenkapitän Ritter, Kommandeur des II. Grenzbataillons des Grenzregiments 8 an der Elbe zu mir sagte: Na, Sie waren ja auch kein schlechter Kerl, Genosse Unterfeldwebel.
Dann weiter, noch vier Jahre, bis die Elbe wieder mitten durch Deutschland floss. – Sie hatten uns also doch noch eingenommen, allerdings mit ihrem Geld und mit ihrem SUPER-MARKT statt mit Radioaktivität.
Immerhin ähnlich wirkungsvoll.
Aber ohne eisernes Band.
Jedenfalls nicht so direkt.