von Jörn Schütrumpf
Eine derart spannende Zeit hätten wir uns vor zwanzig Jahren gewünscht. Kein 9/11, kein Afghanistankrieg, auch noch kein Krieg in Irak, kein Hartz IV, kein Gabriel, kein Trump, nicht einmal ein Bush – stattdessen bleierne Zeit: Kohls letzte Monate; zwischen Schröder und Lafontaine passte kein Stück Papier; statt sich warmzulaufen, rannte Joschka Fischer sich lieber schlank …
Fritz Klein (1924-2011) – schon als Student hatte er für die Weltbühne geschrieben – warnte mich: Du willst ein Debattenblatt, doch draußen ist alles wie in Watte, da diskutiert niemand. Er behielt recht: Die ersten Jahre wurden in der Tat furchtbar – langweilig.
Das änderte sich in der Außenpolitik mit dem 11. September 2001 und mit Schröders Sozialabbau in seiner zweiten Amtsperiode ab 2002 auch in der Innenpolitik. Zu diskutieren gab es jetzt zwar wieder viel, aber kaum – untereinander. Denn fast alle Entwicklungen waren einfach nur abzulehnen, da kam kein produktiver Streit auf, unproduktiver zum Glück auch nicht.
Der sowjetische Staatskapitalismus hatte für ein paar Jahrzehnte die Welt des großen Privatkapitals gebändigt – militärisch wie sozial –, allerdings ohne eine historische Alternative freisetzen zu können. Die Implosion von 1989/91 brachte den Ländern zwischen Elbe und Wladiwostok immerhin die politischen Freiheiten und damit die Voraussetzung, überhaupt wieder um eine solche Alternative kämpfen zu können. Wirtschaftlich und sozial folgte jedoch auf die Jahre der egalisierenden Mangelwirtschaft ein verkrüppelter, vom Kapital des Westens abhängiger Kapitalismus mit schärfster Klassenspaltung; heute werden die politischen Freiheiten vielerorts wieder abgeschafft …
Die ersten zwanzig Jahre des Blättchens fanden im Wesentlichen in einer Zeit des Niedergangs statt: sozial, politisch-militärisch, kulturell und – man wagt es kaum auszusprechen – moralisch. Wirtschaftlich steht Deutschland zwar blendend da, allerdings auf den tönernen Füßen einer Exportwirtschaft, eine Gesellschaft mit beschränkter Nachfrage. Das ist politisch so gewollt: Der politisch projektierte Druck von unten macht die Mittelschichten vom Facharbeiter bis zum Zulieferer gefügig, die nach rechts driftende Rebellion wird als Kollateralschaden in Kauf genommen, wenngleich nicht unbedingt billigend.
Die Hälfte „ihres“ in den sechziger Jahren ausgerufenen Jahrhunderts hat die Sozialdemokratie hinter sich, die politische Linke hat solches wohl kaum vor sich, denn sie hat nichts anzubieten, was die Sozialdemokratie nicht auch schon feilgeboten hätte. Es fehlen ernsthafte Alternativen, die „großen Erzählungen“ von einer nachkapitalistischen Welt. Und nicht nur das. Bisher liegt der „realexistierende Sozialismus“ wie ein Alp auf den Hirnen der Lebenden. Davon emanzipiert man sich nicht, indem man „die Geschichte abhakt“.
Tag für Tag wird eine große Chance vergeben: Statt aus den Jahren der Macht und des Machtwahns eigene Maßstäbe zu gewinnen und an ihnen jeden Schritt, jede Entscheidung zu messen und so – langsam – zu einem neuen Programm zu gelangen, behandelt man die Altvorderen wie arme Verwandte vom Lande, mit denen man nichts zu tun haben möchte – vergisst allerdings dabei: Die anderen haben es nicht vergessen und wollen es auch nicht vergessen, denn einen bequemeren Weg, das Entstehen eines Gegenentwurfs zu dieser sich immer desaströser gestaltenden Welt zu verhindern, gibt es nicht.
Was es allerdings gibt, das ist das Blättchen und seine Unabhängigkeit – sie ist in der Politik das höchste Gut, denn erst sie ermöglicht das, wonach die Zeit heute mehr denn je schreit: Mut.
Und den wünsche ich dem Blättchen.
Nachdem Die Weltbühne, 1905 von Siegfried Jacobsohn als Schaubühne gegründet und 1918 umbenannt, 1933 verboten worden war, erschien die Zeitschrift mit einer sowjetischen Lizenz ab 1946 im Osten Deutschlands erneut. Nach – nicht realisierten – Ansprüchen des Enkels Jacobsohns am Titel stellte der damalige Eigentümer des Aufbau-Verlages, in dem das Heft seinerzeit erschien, Die Weltbühne 1993 ein. Gemeinsam mit Gleichgesinnten trug der Historiker und Publizist Jörn Schütrumpf dafür Sorge, deren Tradition wieder aufzunehmen und fortzuführen – durch Gründung der Zeitschrift Das Blättchen Ende des Jahres 1997. Dessen Erscheinen gestaltete Schütrumpf bis 2009 hauptverantwortlich und ist ihm auch im nunmehr zwanzigsten Jahr seines Erscheinens als Autor verbunden.
Schlagwörter: Blättchen, Jörn Schütrumpf, Weltbühne