20. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2017

Rekonstruktion

von Erhard Weinholz

Vor vielen Jahren, als ich noch in Berlins Schwedter Straße wohnte, kam einmal Erich Honecker in unsere Gegend. Hätte er, so dachte ich hinterher, nicht auch bei uns reinschauen können? „Erich Honecker bei den Armen und Entrechteten“, Untertitel: „Der Vorsitzende des Staatsrates und Generalsekretär des ZK besuchte die Slums im Stadtbezirk Prenzlauer Berg“. Mein Freund Thomas aus dem Seitenflügel gegenüber, Wohnungsbesetzer wie ich, hatte nämlich, als er mal vor seiner Tür kehrte, die Losung ausgegeben: Auch im Slum geht der Wettbewerb weiter! Die Seitenflügel und Quergebäude rund um unseren großen Hof, Schwedter Straße 47/48, waren tatsächlich in erbärmlichem Zustand: bröckliger Putz, undichte Dächer, Außentoiletten, deren Fenster nicht schlossen. Im Winter froren die Rohre oft ein, im Frühjahr hatten wir Überschwemmung. Irgendwann sollten die zwei Häuser rekonstruiert werden, wurden deshalb leergewohnt, wie man das nannte. Aber dieses Irgendwann ließ auf sich warten, und die Wohnungsnot war so groß, dass jede halbwegs brauchbare leerstehende Wohnung bald aufgebrochen und besetzt wurde.
Der Staatsratsvorsitzende wollte jedoch von unserem Hof nichts wissen. Er war an jenem Donnerstag im Februar ’84 geradewegs zum Arkonaplatz gefahren, wo gleich um die Ecke die zweimillionste seit dem VIII. Parteitag neu gebaute oder rekonstruierte Wohnung übergeben werden sollte. Gern hätte ich dem Spektakel beigewohnt; wenn der Zirkus ins Dorf kommt, soll man, wie es heißt, auch hingehen. Als freiberuflicher Übersetzer hatte ich zudem alle Tage Zeit für dergleichen, musste nicht mehr wie früher, als wissenschaftlicher Oberassistent, in der Wochenmitte an einem Institutsschreibtisch herumsitzen. Es war aber kein Durchkommen, schon Stunden vorher hatte man weiträumig sämtliche Zugänge gesperrt.
Fahnengeschmückt war der hundertjährige Platz, auf dem der erste Mann im Staate von Bauarbeitern und Anwohnern stürmisch begrüßt wurde. In seinem Beisein überreichte der Oberbürgermeister dem Neumieter der bewussten Wohnung den symbolischen Schlüssel. Am Hause wurde eine Gedenktafel enthüllt. In der Fleischerei nahebei kam es zu herzlichen Gesprächen mit Schlange stehenden Kunden. Der Meister überreichte dem hohen Besuch eine Schlackwurst im Piroschka-Kostüm, die dieser wiederum, so habe ich es in Erinnerung, an eine alte Frau weiterreichte, die sie höchst dankbar an sich nahm. Zuletzt traf er sich mit Bauarbeitern ein paar Schritte weiter in den neuen „Altberliner Kaffeestuben“.
Das alles und noch viel mehr kann man in alten Zeitungen nachlesen. Die fiktive Schlagzeile „Erich Honecker bei den Armen und Entrechteten“ hatte ich im Tagebuch notiert. Sie stimmte nur zum Teil: Arm waren die wenigsten von uns, die wir in der Schwedter Straße als Besetzer eingezogen waren. Die meisten, ein gutes Dutzend vielleicht, hatten sogar studiert, waren nun im Wissenschafts- oder Kulturbetrieb angestellt oder bei irgendwelchen VEB. Micha allerdings, der in den frühen Achtzigern eine Weile in der Wohnung über mir gewohnt hatte, arbeitete als Techniker, als Telegraphenbauarbeiter bei der Post. Wir kamen aber, obwohl er mit seinen knapp 20 auch zehn Jahre jünger war als ich, rasch ins Gespräch, denn er hatte etwas Urberlinisch-Herzliches an sich und war ein Literaturenthusiast. Viel überschüssige Intelligenz also in diesem Hause. Über den spendablen Erich konnten wir nur lachen. Etwas anderes dagegen fiel uns nicht weiter auf: Dass die bewusste Wohnung nicht etwa in Meerane oder Boltenhagen fertig geworden war, sondern hier in Berlin. Es war für uns wohl selbstverständlich, dass alles Wichtige in der Hauptstadt geschah.
Und die Erinnerungstafel? Mir war so, als hätte ich sie vor ein paar Jahren noch gesehen, doch jetzt wollte ich es genauer wissen. An einem trüben Dezembertag stieg ich am U-Bahnhof Senefelder Platz aus und lief die Schwedter Straße hoch in Richtung Norden. Zweite Querstraße links, nächste rechts, und vor mir lag das graubraune Ungetüm der Zionskirche, gleich dahinter dann das Rekonstruktionsviertel. Das war hier wirklich Gründerzeitgelände, doch es wies nichts mehr darauf hin, man hatte damals sehr gründlich rekonstruiert. Die Tafel in der Swinemünder Straße war fort, ich hätte es mir denken können. Von Geschichte war hier nun gar nichts mehr zu erkennen. Auch die Fleischerei war spurlos verschwunden. Die „Altberliner Kaffeestuben“ dagegen haben als eines von ganz wenigen Lokalen in Ostberlin die Jahrzehnte überlebt. Sie heißen nun „Altberliner Restaurant“; Gänse- und Entenkeulen waren im Angebot. Einmal, 1982 war es, vielleicht auch 1983, hatten wir, einige Leute aus dem Hause, uns dort eines Nachmittags getroffen. Es war an einem Werktag, und das gab mir ein Gefühl der Freiheit. Eine ganz junge Frau war dabei, die sich irgendwie durchschlug, Kinder betreute, viele Jahre später auch für einen Verlag über unser Haus geschrieben hat, daneben ihr Freund, ein glückloser Schauspieler, an die anderen kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir tranken Rotwein, mühelos ging das Gespräch hin und her.
Zuletzt kam ich an unserem Haus in der Schwedter Straße vorbei, doch der Hof blieb mir verschlossen. 1988 ging es endlich los mit der Rekonstruktion; etliche von uns waren schon vorher ausgezogen, Thomas und ich waren die letzten. Im Jahr darauf fuhren wir beide an einem Sonntag im Mai, an dem die Kandidaten der Nationalen Front zu wählen waren, unter seinem Motto „Wir wählen das Grüne“ mit den Rädern hinaus in den Norden Berlins. Kurz vorher hatten wir in einem der Salons der Volksbühne die szenische Lesung von Michas Stück „Hauptbahnhof“ erlebt. Bei einer Rast kamen wir noch einmal darauf zu sprechen; dass die Sache mir genauso unverständlich geblieben war wie ihm, fand er beruhigend.
Einige andere aus dem Hause hatte ich wenigstens nicht ganz aus den Augen verloren. Micha traf ich alle paar Jahre per Zufall, mal am Alex, mal auf der Schönhauser Allee unter den U-Bahn-Bögen. Er war Enthusiast geblieben, hatte viele Ideen, arbeitete lange an einem dicken Buch, zum Glück nicht vergebens, und wurde schließlich Redaktionsmitglied beim Gegner, einem Blatt, wo man sich um die Synthese von Kunst und revolutionärer Politik bemühte.
Gut zwanzig Jahre, nachdem auch die letzten von uns aus der Schwedter Straße fortgezogen waren, kamen wir noch einmal zusammen, an einem schönen Tag im Mai auf einem Friedhof in Berlin-Mitte. Denn Micha war, gerade erst Anfang Fünfzig, ganz plötzlich gestorben. Was bei der Trauerfeier über ihn gesagt wurde, weiß ich nicht, ich hatte in der Friedhofskapelle keinen Platz mehr gefunden. Beinahe jeder von uns war erreichbar gewesen, der eine hatte Verbindung zu diesem, der andere zu jenem; der Schauspieler, so wusste jemand, lebte jetzt in Amsterdam. Hinterher saßen wir lange zusammen und redeten über die Zeit damals in der Schwedter Straße. Als wir das Haus dort verlassen mussten, war für die meisten von uns die Jugend endgültig vorbei.