von Wolfgang Hochwald
Wie bereits seit mehreren Jahren, so habe ich auch für 2016 die Songs zusammengestellt, die ich im ablaufenden Jahr zum ersten Mal gehört habe – egal ob sie neu oder alt sind – und die mich besonders bewegt haben. Mein Artikel zu den Songs 2015 endet mit den Sätzen: „2016 wird vermutlich in vielerlei Hinsicht kein leichtes Jahr und zum Glück wissen wir nicht, was uns privat an Positivem und Negativem ereilen wird. Wer mag, dem wird die Musik aber auch weiterhin gute Laune, Tiefe und wo nötig Trost spenden.“
Tatsächlich war 2016 ein Jahr, das uns in vielerlei Hinsicht schlimmer als andere Jahre vorkam: unerträgliche Kriegsgräuel, Terroranschläge, eine Verschiebung des politischen Klimas weiter nach rechts, das morgendliche Erwachen nach Brexit und USA-Wahl, wo man sich nur verwundert und entsetzt die Augen reiben konnte und die Folgen unabsehbar bleiben. Und ja, wirklich sehr viele bedeutende Musiker sind 2016 verstorben. Auch die Veränderungen, die es in meinem familiären Umfeld gegeben hat, hätte ich mir Anfang des Jahres nicht vorstellen können.
Habe ich mich 2016 also intuitiv oder unterbewusst auf Musik konzentriert, die Trost spendet? Wenn ein Album „Painkillers“ heißt, könnte man tatsächlich vermuten, die Welt sei nur noch mit harten Medikamenten auszuhalten. Aber die Musik von Brian Fallon, Frontmann der Band „The Gaslight Anthem“, ist Medizin genug. Fallon, der immer etwas wie ein jüngerer Bruce Springsteen klingt und den der „Boss“ gerne als Gastsänger zu sich auf die Bühne holt, hat mit „Honey Magnolia“ einen Ohrwurm geschrieben, der die diesjährige Sammlung mit fast betörenden Klängen eröffnet, und „Among Other Foolish Things“ ist ein verblüffend einfacher Rocksong, der sich inhaltlich ganz an Paul McCartneys „Silly Live Songs“ orientiert. Tut auch mal gut. Genauso wie die Aussage „Die Sunn geht boid auf“ von Wolfgang Ambros. Auf der bereits im Jahr 2000 veröffentlichten Platte „Nach mir die Sintflut – Ambros singt Waits“ überträgt der Liedermacher Stücke von Tom Waits ins Österreichische, hier „Olʼ 55“. „I bin miad doch i bin guat drauf / nix und niemand regt mi auf / I foia der Dämmerung entgegen / I werd mi glücklich niederlegen.“
Bei Udo Lindenbergs Lied „(Ich trag Dich) durch die schweren Zeiten“ sind wir aber dann bei konkreterem Trost. Lindenberg hat mit der CD „Stärker als die Zeit“, die er in diesem Jahr zu seinem 70. Geburtstag veröffentlicht hat, eine wunderbare, selbstironische und musikalisch vielseitige Scheibe vorgelegt. Und sein Konzert in Köln gehört zu den Höhepunkten des Jahres, denn bei aller großen Show und den unzähligen Akteuren, die er auf die Bühne bringt, überzeugt der jung gebliebene Herr durch Authentizität und kleine Gesten. Sein im Konzert geäußerter (besser gesagt hingenuschelter) Satz zur Flüchtlingsthematik „Du musst immer den einzelnen Menschen sehen“ mag politisch naiv sein und nicht immer weiterhelfen, spricht mir aber aus dem Herzen. Mein Jahr 2016 ist durch den Kontakt mit Menschen, die neu in unser Land gekommen sind, jedenfalls bereichert worden.
Gut tun immer auch die ruhigen Töne. Allerdings würde man dem isländischen Sänger Svavar Knutur schon wünschen, dass er nicht mehr „Emotional Anorexic“, also emotional magersüchtig ist. Fran Healy, Chef der englischen Band „Travis“, singt im Lied „Idlewild“ von der 2016er Platte „Everything at Once“ ein Duett mit der – laut Musikmagazin Rolling Stone – besten Sängerin Englands. Nein, es ist nicht Adele, sondern Josephine Oniyama. Dann wollen wir uns diesen Namen einmal für 2017 merken. Höhepunkt der ruhigen Töne ist „Set The Tigers Free“ der irischen Band „Villagers“, ein Abschiedslied, das einem die Tränen in die Augen treiben kann, wenn Conor O’Brien darin singt „True love feeds on absences“, also etwa „Wahre Liebe nährt sich aus Abwesenheiten“.
Vielleicht weil 2016 ein Jahr war, in dem viel zu viele Worte gemacht worden sind, haben es zwei Instrumentalstücke in meine Zusammenstellung geschafft: „Initiate“ von „GoGo Penguin“, einem Trio aus Manchester, das mit Klavier, Kontrabass und Schlagzeug, also klassischer Jazz Besetzung, eine faszinierende Mischung aus Jazz, Klassik und Rock erzeugt. Colm Mac Con Iomaire ist ein irischer Songschreiber, aus dessen Album „And Now The Weather“ „The Finnish Line“ hervorsticht und den Zuhörer aufgrund des bewegenden Geigenspiels in eine andere Welt versetzt.
Musik wie diese entdecke ich, da ich seit diesem Jahr nun doch auf Streamingdienste wie „Spotify“ zurückgreife. Ganz erstaunlich, was man an Schätzen dort finden kann. Anders ließe sich auch nicht erklären, warum „Bomba de plaer“ von der spanischen Band „Senior i El Cor Brutal“, über die in Deutschland kaum Informationen zu erhalten sind, eines meiner Lieblingssongs des Jahres ist. Oder warum ich nun Caleb Caudle kenne, einen US-Country Sänger, der nicht mal bei Wikipedia zu finden ist, dessen Video zum Song „Carolina Ghost“ aber vom Rolling Stone besonders gewürdigt wurde. Caudle zeigt darin seine Eltern als Beispiel für eine immer noch romantische Liebe. Und schließlich ist auch Harry Manx eine Entdeckung. Der Kanadier verbindet Folk, Blues und klassische hinduistische Musik miteinander, was in „True To Yourself“ besonders treffend zum Ausdruck kommt.
Das Jahr geht zu Ende und Bob Dylan ist nicht zur Verleihung des Literaturnobelpreises nach Stockholm gekommen. Das Gefühl des „Mitgemeint-Seins“, wie es Stephan Wackwitz in der Zeit vom 20. Oktober 2016 formuliert, hat uns der unberechenbare Meister damit ordentlich vermiest. Stattdessen können wir einen der bewegendsten Momente des Musikjahres erleben. Patti Smith singt während der Nobelpreiszeremonie Dylans „A Hard Rainʼs A-Gonna Fall“. Doch die Sängerin, die Ende dieses Monats 70 wird und eigentlich mit allen Wassern gewaschen ist, muss den Song abbrechen. „Sorry“, sagt sie verlegen lächelnd. „Ich bin so nervös. Können wir noch einmal anfangen?“ Gerade Abbruch und Neustart verleihen dem Auftritt Magie und Intensität. Und so hören wir die womöglich wärmste, innigste und überzeugendste Version dieses 53 Jahre alten Liedes, die es je gegeben hat.
Und was bedeutet das für 2017? „And itʼs a hard, itʼs a hard / Itʼs a hard, and itʼs a hard / Itʼs a hard rainʼs a-gonna fall“ (Und es ist ein schwerer, ein schwerer, und es ist ein schwerer / es ist ein schwerer Regen, der fallen wird), heißt es am Schluss des Liedes. Eigentlich wollte ich mich aber dieses Jahr mit Aussagen für das nächste zurückhalten.
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