18. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2015

Meine Songs des Jahres

von Wolfgang Hochwald

Seit ein paar Jahren stelle ich zum eigenen Vergnügen meine „Songs des Jahres“ zusammen. In die Auswahl kommen ausschließlich Lieder, die ich im ablaufenden Jahr zum ersten Mal gehört habe, egal von wann sie sind. In Zeiten unbegrenzt verfügbarer Musik versuche ich, meinen Musikkonsum auf Wesentliches zu beschränken. Deshalb sollen die „Songs des Jahres“ die Dauer einer guten Stunde nicht überschreiten. Ich gebe zu, dass ich bei der Zusammenstellung den heimlichen Wunsch auslebe, einmal eine Radiosendung zu moderieren. Nicht in der Form der immer gleichen Berieselung, die uns der öffentlich-rechtliche und der private Rundfunk zumuten, sondern in der Art, wie es beispielsweise der legendäre John Peel in England oder Alan Bangs in Deutschland gemacht haben: mit Musik, die dem Moderator etwas bedeutet, die vielleicht gerade, weil sie gegensätzlich ist, zueinander passt, wo der Übergang von einem Lied zum anderen so folgerichtig scheint, als sei es von den Songschreibern beabsichtigt.
In diesem Sinne ist hier die Musik, die mich 2015 besonders bewegt hat:
Die Wirkung von Musik liegt manchmal auch an den Orten, an denen man sie zuerst gehört hat. In der wunderbaren Ferienwohnung im Süden Englands, in der wir im Sommer eine Woche verbracht haben, gab es nicht nur eine gute Musikanlage, sondern unter anderem auch eine Best of von Mark Knopfler/Dire Straits. Neu unter den meist gut bekannten (und formatradiotauglichen) Songs war für mich „Boom, Like That“ aus dem Jahr 2005. Wie geschaffen, den Hörer gleich mit den ersten Tönen für eine Musikzusammenstellung einzunehmen.
Zweimal ist Courtney Barnett, 27-jährige Newcomerin aus Australien, in meiner Zusammenstellung vertreten. Das oft geäußerte Argument, es gebe heutzutage keine „handgemachte“ Musik mehr, straft Barnett Lügen. Wie kürzlich auf einem Konzert in Köln zu bestaunen, sind ihre Lieder geradliniger, aber intelligenter Rock in der Tradition ihrer Vorbilder Patti Smith und Nirvana. „Debbie Downer“ und „Dead Fox“ hören wir aus ihrem Album, dessen Titel von Loriot stammen könnte: „Sometimes I Sit and Think, and Sometimes I Just Sit“ (Manchmal sitze ich da und denke und manchmal sitze ich nur so da).
Nils Koppruch war ein Hamburger Musiker, der 2012 im Alter von nur 47 Jahren verstarb, zu einem Zeitpunkt, als sich erstmals in seiner langen Musikerkarriere in der Kooperation mit Gisbert zu Knipphausen ein merklicher kommerzieller Erfolg abzeichnete. Freunde und Wegbegleiter haben in einem Doppelalbum, dessen Erlös an Koppruchs Kind geht, Lieder von Koppruch und seiner ehemaligen Band „Fink“ neu interpretiert. Highlights sind für mich „Loch in der Welt“, in der der als TV-Comedian bekannt gewordene Olli Schulz wieder einmal beweist, was für ein guter und ernsthafter Musiker in ihm steckt, und das unvergleichliche „Komm küssen“. Interpretiert vom Übersetzer und Musiker Nicolai von Schweder-Schreiner, erklingt ein swingender Sehnsuchtstext, der den Hörer entweder in seine Jugendzeit zurückversetzt oder ihn gleich noch einmal 16 sein lassen will.
Überhaupt scheinen in der Musik (oder bei mir?) Jugenderinnerungen en vogue zu sein. Der 34-jährige belgische Sänger Milow schildert in „Cowboys, Pirates, Musketeers“ jedenfalls wunderbare Szenen aus der Zeit, als wir uns noch von einem Moment in den anderen im Kinderspiel verlieren konnten. Chloe Charles, 28-jährige Sängerin aus Kanada, macht in „We Grow Up“ aber Hoffnung: „When we grow up / we´ve got so much to carry / But we´ve still got the kid inside” (Wenn wir erwachsen werden, haben wir so viel zu bewältigen, aber wir tragen das Kind immer noch in uns).
Chloe Charles ist ein Beispiel dafür, wie ungerecht manchmal der Erfolg in der Musikwelt verteilt ist. Eine Ausnahmestimme, interessante selbstverfasste Lieder, unglaubliche Präsenz auf der Bühne, gute Kritiken in der Fachpresse, aber weniger als 50 zahlende Zuhörer beim Oktober-Konzert in Köln. Wenn „Smiling“, der poppigste Song in meiner Auswahl, in einer TV-Serie eingesetzt und einem breiteren Publikum bekannt würde, dann hätte Chloe Charles vermutlich einen Megahit. Aber vielleicht ist ihr das gar nicht zu wünschen.
Unglaublichen Erfolg haben dagegen die drei Kölner Jungs, alle Anfang 20, die sich entsprechend ihren Nachnamen „AnnenMayKantereit“ nennen. Obwohl die Band ihre erste reguläre Platte erst im März nächsten Jahres veröffentlichen wird, hat sie dank vieler Konzerte und Festivalauftritte und dank youtube bereits eine große Fanschar hinter sich gebracht. Viele der fast acht Millionen Aufrufe von „Oft gefragt“ bei youtube sind sicherlich von gleichaltrigen Fans, aber der Text treibt auch vielen Eltern die Tränen in die Augen.
Kathryn Josephs erste Platte – „bones you have thrown and blood I´ve spilled” – ist Mitte des Jahres gleich als Scottish Album of the Year ausgezeichnet worden. „The Want“ ist ein Beispiel für die sehr karge, aber aufgrund Josephs entrückter Stimme tief unter die Haut gehende Musik.
„The National“, 1999 in den USA gegründet und geprägt von Sänger Matt Berninger, gelten als Barack Obamas Lieblingsband. „Start a War“ vom 2007er Album „Boxer“ hat aber nichts mit der aktuellen politischen Lage zu tun, sondern wie so oft geht es um Beziehungen. Der Song verströmt eine ähnlich magische Wirkung wie „Temple Incent“ (aus dem Album „Off Track Betting“ von 2008) von Nels Andrews, einem New Yorker Folksinger, den es in Deutschland noch zu entdecken gilt.
Joshua Hyslop versucht durch Wohnzimmerkonzerte ein Publikum zu finden. Wer ihm – zumindest in seiner Heimat Kanada – ein Abendessen, eine Übernachtung und ein paar zahlende Zuhörer sichert, kann mit ihm ein Heimkonzert unter Freunden veranstalten. „Cold Wind“ von seiner Debut-EP von 2011 würde ich jedenfalls gern einmal live bei mir zu Hause hören.
Josh Rouse aus Nebraska, seit 1998 im Geschäft, lebt seit ein paar Jahren in Spanien und hat sich dem Musikbusiness damit auf seine Art entzogen. Während die ersten in der neuen Heimat entstandenen Platten gar zu entspannt und etwas langweilig daherkamen, ist ihm in diesem Jahr mit „The Embers of Time“ ein wunderbares Album gelungen, aus dem „Pheasant Feather“ herausragt.
Auch wenn Bob Dylan trotz seiner hervorragenden Frank-Sinatra-Interpretationen auf dem Album „Shadows in the Night“ in meiner Zusammenstellung fehlt, so weht doch sein Geist in vielen der bereits erwähnten Musiker, besonders aber in Joe Purdy aus Arkansas. Sein treibendes „Been Up So Long“ vom 2009er Album „Last Clock on the Wall“ ist ohne Dylans „Like a Rolling Stone“ nicht denkbar, entwickelt aber eine völlig eigene Dynamik. Auch die Musik des Schweden Kristian Matsson, der sich mit Bezug auf seine Körpergröße selbstironisch „The Tallest Man On Earth“ nennt, wird oft mit der des frühen Dylan verglichen. „Slow Dance“ aus seinem neuen Album „Dark Bird Is Home“ zeigt, dass folkgeprägte Lieder auch heute noch wie neu klingen können.
Als die Zusammenstellung der Songs und der Blättchen-Beitrag eigentlich fertig sind, passiert das, was Musik ausmacht: Bei einem sehr schönen Konzert von Robert Forster am 10. Dezember in Köln kommt da aus dem Nichts ein weiterer Song, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Der Australier spielt „Surfing Magazines“ von den „Go-Betweens“, der Band, die Forster nach dem Tod seines kongenialen Partners Grant McLennan vor neun Jahren auflöste. Martin Weber vom Kölner Stadt-Anzeiger bringt es in seiner Konzertkritik auf den Punkt: „In ,Surfing Magazines‘ glänzt und funkelt alles, was Forster aus- und so besonders macht: Charme, Humor, Anmut, Würde.“ Ein Lied, bei dem man einfach mitsingen muss.
Mein letzter Song des Jahres scheint Endzeitstimmung zu verbreiten. „The Last Song I Will Write“ sangen “Jason Isbell and the 400 Unit schon 2009 und beendeten das Lied, als wenn es kein Morgen gäbe. Aber keine Sorge: Isbell schreibt weiter Lieder und hat dieses Jahr mit „Something More Than Free“ ein hervorragendes Album vorgelegt.
2016 wird vermutlich in vielerlei Hinsicht kein leichtes Jahr und zum Glück wissen wir nicht, was uns privat an Gutem und Schlechtem ereilen wird. Wer mag, dem wird die Musik aber auch weiterhin gute Laune, Tiefe und wo nötig Trost spenden. In diesem Sinne: Auf ein gutes Neues (Musik-)Jahr!