von F.-B. Habel
„Tucholsky, Stettin/Szczecin, Polen und die Ostsee“ war das Motto der jüngsten Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft (KTG). Zum Abschluss ihrer Zusammenkunft unternahmen die Teilnehmer am letzten Oktobersonntag eine Stadtrundfahrt durch Szczecin. Als es noch Stettin hieß, hatte Kurt Tucholsky hier rund sechs Jahre seines jungen Lebens verbracht, hier wurde er 1896 auch eingeschult. Beide Häuser, in denen die Familie Tucholsky ihre Wohnungen hatten, stehen heute noch, und an einer davon ist auf Initiative geschichtsbewusster Szczeciner eine Gedenktafel angebracht worden. Die Straße, die heute nach dem polnischen Luftwaffengeneral Ludomil Rayski benannt ist, hieß damals Kronprinzenstraße. In Nr. 29 wohnte die Familie Tucholsky. Dort, wo inzwischen der Ölkonzern Orlen Büros unterhält, bewunderten die Tagungsteilnehmer im ersten Stock einen schönen Balkon. Davon hatte Kurt Tucholsky in einem biographischen Text berichtet: „Die Sonntagnachmittage zu Stettin, an denen mein Vater auf dem Balkon saß, eine Pfeife rauchte und auf die Sonntagsausflügler sah, die furchtbar eilig auf den Paradeberg wallen mussten. Er sprach das Wort, das ich von ihm geerbt habe, mehr vielleicht, als gut ist. ,Wie sie rennen! Wie sie rennen!‘“
Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Altstadt von Szczecin wurde behutsam wieder aufgebaut und erinnert an die ursprüngliche Bebauung. Die ab 1870 in den Gründerjahren entstandene Neustadt, wo in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die Tucholskys lebten, ist weitgehend erhalten geblieben. Architektonisch lehnte man sich an den Pariser Stadtplaner Baron Haussmann an. Liegt hier der Ursprung zu Kurt Tucholskys Liebe für Paris? Auch seine Vorliebe für Küstenlandschaften der Ostsee scheint hier ihren Ursprung zu haben, wie Klaus Leesch vom Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft in seinem Tagungsvortrag darlegte.
Auch, wenn es von Tucholsky einfühlsame Äußerungen zur polnischen Geschichte gibt, hat er kurz nach dem Ersten Weltkrieg kein Ruhmesblatt hinterlassen, als er Redakteur des polenfeindlichen Satireblatts Pieron (Blitz – auch eine Anrede für Oberschlesier) wurde. Das war Thema des Referats des Hamburger Germanisten Michael Segner, der die damalige Situation beleuchtete. Im Ergebnis des Krieges war Oberschlesien von Alliierten besetzt und sollte sich 1921 in einer Volksabstimmung für Polen oder Deutschland entscheiden. Natürlich standen wirtschaftliche Interessen hinter den Kämpfen, in die Reichswehr und Freikorps eingriffen, auch zu Fememorden kam es. Gegen Deutschland hetzte zunächst die Zeitschrift Kocynder, gegen Polen das daraufhin gegründete Satireblatt Pieron. Da wurden irrationale Ängste und Nationalitätenhass geschürt. Ob Tucholsky aber jemals einen eigenen Text für dieses Blatt schrieb, konnte nicht nachgewiesen werden. Traurig genug, dass er erstklassige Karikaturisten wie Walter Trier, Fritz Wolff und Heinrich Zille für die Schmutzarbeit heranzog. Ursprünglich befreundete Zeitgenossen wie Franz Pfemfert und Karl Kraus nannten Tucholsky noch viele Jahre lang einen „Konjunkturritter“ und „chauvinistisch“. Ende der Zwanziger bedauerte Tucholsky seine damalige Haltung in der Weltbühne: „Ich selbst habe die Hände in diesem Bottich gehabt, ich hätte es nicht tun dürfen, und ich bereue, was ich getan habe.“
Dafür, dass die Jahrestagung nicht bitter endete, sorgten Germanistikstudenten aus Szczecin (die Germanistische Fakultät der örtlichen Universität war Mitveranstalter), die ein Programm mit klugen, heiter-ironischen Texten des Satirikers vortrugen, und sie meinten keinesfalls die gerade gehörten Vorträge, als sie seine Ratschläge für einen schlechten Redner zitierten: „Die Leute sind doch nicht in deinen Vortrag gekommen, um lebendiges Leben zu hören, sondern das, was sie auch in Büchern nachschlagen können … sehr richtig! Immer gib ihm Historie, immer gib ihm.“
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