19. Jahrgang | Nummer 17 | 15. August 2016

Atomschlag gegen Russland?

von Sarcasticus

Es bedurfte nur weniger Tage im Amt, da war bereits deutlich geworden, dass Großbritanniens neue Regierungschefin Theresa May in Sachen Nuklearstrategie offenbar nicht die hellste Kerze am Baum ist. Ein Journalist hatte gefragt: „Ist die Premierministerin […] bereit, Atomwaffen gegen Russland anzuwenden?“ Und May antwortete: „Tatsächlich fand in der vorigen Woche (am 18. Juli – S.) eine sehr wichtige Abstimmung im Parlament über die Fortsetzung des Atomprogramms statt. Während der Debatte wurde mir die Frage gestellt, ob ich bereit bin, Atomwaffen zur Abschreckung anzuwenden. Und meine Antwort lautete ‚Ja!‘.“ Ohne wenn und aber. Die konkrete Frage des schottischen Abgeordneten George Krerevan hatte übrigens gelautet: „Sind Sie bereit, einen Nuklearschlag zu autorisieren, der Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder töten könnte?“
Sollte die werte Mrs. May je praktisch in die Verlegenheit kommen, ihrer apodiktischen Ansage tatsächlich den Druck auf den sprichwörtlichen Roten Knopf folgen zu lassen, dann hätte das mit Abschreckung nichts mehr zu tun, dann wäre das vielmehr das Ende derselben und eklatanter Ausdruck eines Versagens dieses sicherheitspolitischen Konzeptes. Das dient, seinen Apologeten zufolge, nämlich dazu, einen atomar bewaffneten Gegner daran zu hindern, seinerseits einen Ersteinsatz dieser apokalyptischen Waffen auch nur in Erwägung zu ziehen. Ginge dieses Kalkül nicht auf oder käme es auch nur zu einem nichtautorisierten Einsatz respektive zu einem Unfall, dann bestünde das Risiko einer quasi automatischen Eskalation bis zum allgemeinen thermonuklearen Schlagabtausch. Eine Zivilisation, die diesen Namen verdient, oder gar eine, wie wir sie in den westlichen Industrieländern heute kennen, gäbe es danach zumindest in den unmittelbar oder kollateral betroffenen Regionen nicht mehr. Wie das im Falle des Falles mit Sicherheit zu verhindern wäre, diese Frage zu beantworten, haben sämtliche Generationen von Atomkriegstheoretikern seit Anbruch des militärischen Nuklearzeitalters bisher nicht vermocht. Die Quadratur des Kreises, so meinen Experten, sei demgegenüber kleines Einmaleins.
Großbritannien hätte bei einem Versagen der Abschreckung mutmaßlich eines seiner insgesamt vier atomaren Träger-U-Boote der sogenannten Vanguard-Klasse auf Gefechtsstation im Atlantik. (Je ein weiteres befindet sich in planmäßiger Wartung und in Reserve, das vierte dient Ausbildungszwecken.) Jedes dieser Schiffe kann mit 16 ballistischen Langstreckenraketen des Typs UGM-133A Trident II (D5) bestückt werden, geliefert von den USA und versehen mit je fünf Sprengköpfen – theoretisch sind bis zu 14 möglich – aus britischer Produktion. Deren jeweilige Sprengkraft soll das Achtfache der Hiroshima-Bombe betragen.
Damit könnte ganz gewiss unvorstellbarer Schaden angerichtet werden. Trotzdem besteht ebenso gewiss kein Zweifel daran, wie die Sache für Großbritannien ausginge, wenn die Ziele in Russland lägen. Denn Moskau kann gemäß dem New Start-Abkommen mit den USA von 2010 insgesamt 1.550 strategische Gefechtsköpfe auf einsatzbereiten interkontinentalen Trägersystemen unterhalten. Mehr als genug also, um außer der im Schottischen gelegenen Marinebasis Faslane-on-Clyde, dem Heimathafen der nuklearen U-Boot-Flotte Großbritanniens auch jedes andere beliebige Ziel im Lande auszulöschen. Und weil das so ist, hat der Parteiführer der Labour Party, Jeremy Corbyn, der werten Mrs. May bei der erwähnten Unterhaus-Debatte völlig zu Recht entgegengehalten: „Ich glaube nicht, dass die Androhung von Massenmord ein legitimer Weg ist, um internationale Beziehungen zu handlen.“ Im Übrigen hätten die Atomwaffen weder den „Islamischen Staat“ noch die Grausamkeiten Saddam Husseins gestoppt, noch die Kriegsverbrechen auf dem Balkan oder den Völkermord in Ruanda.
Allerdings ist Corbyn Pazifist und schon sein gesamtes politisches Leben lang mit der Campaign for Nuclear Disarmament (CDN) verbunden. Fast 140 Labour-Fraktionskollegen Corbyns teilen dessen Auffassungen in dieser Frage nicht, und stimmten am 18. Juli nach mehrstündiger Debatte, in der May unter Verweis auf Russland und Nordkorea auch behauptet hatte, die nukleare Bedrohung für Großbritannien habe sich erhöht, der Regierungsvorlage zu, ab 2030 die Vanguard-Schiffe durch vier neue der sogenannten Successor-Klasse zu ersetzen. So lautete das parlamentarische Votum denn 472 zu 117 Stimmen. Einheitlich dagegen hatten sich lediglich die 56 Abgeordneten der schottischen Nationalisten entschieden. Damit ist – angesichts einer Dienstzeitspanne derartiger Schiffe von 30 bis 40 Jahren – zugleich ein Festhalten Großbritanniens an Kernwaffen bis weit über die Mitte des Jahrhunderts hinaus präjudiziert worden.
Ausgerüstet werden sollen auch die neuen U-Boote mit Trident-II-Raketen. Im Hinblick auf die Kosten der Entwicklung, Anschaffung und jahrzehntelangen Unterhaltung dieser Flottille hat das britische Verteidigungsministerium vorgerechnet, es würden nur bis zu sechs Prozent des jährlichen Militärbudgets benötigt und insgesamt nicht mehr als 25 Milliarden Pfund. Die CDN hat nachgerechnet und kam auf mehr als die achtfache Summe – nämlich 205 Milliarden. Wem dies zu unseriös erscheint, weil erklärte Gegner eines Programms bekanntlich immer mit besonders spitzem Bleistift rechnen, der kann sich auch an einer Angabe des Internationalen Währungsfonds (IMF) orientieren – 167 Milliarden Pfund. Und das in Whitehall beheimatete Royal United Services Institute, das sich selbst attestiert, der weltweit älteste unabhängige Think Tank zu sein, veranschlagte immerhin 70 bis 80 Milliarden.
Angesichts dieser Summen verwundert es nicht, dass zumindest einzelne konservative Parteifreunde von Mrs. May gegen dieses Rüstungsprogramm sind, wie etwa der Abgeordnete Crispin Blunt. Der argumentiert, dass die angenommenen Sicherheitsvorteile die finanziellen Kosten nicht rechtfertigten.
Experten bestreiten im Übrigen, dass das Programm Großbritannien überhaupt solche Vorteile brächte. So kam Joseph Singh in einem umfänglichen Essay für das namhafte Magazin Foreign Affairs zu dem Schluss: „Die Sicherheitsrechtfertigungen für eine unabhängige britische nukleare Abschreckungskapazität sind so zahlreich, wie sie nicht überzeugend sind.“
Singh machte aber zugleich auf einen ganz anderen Zusammenhang aufmerksam, der aus nahe liegenden Gründen in der öffentlichen britischen Debatte wohlweislich nicht thematisiert wird – zumindest was die Befürworter von Kernwaffen anbetrifft: „In Wahrheit sind das Einzige, wofür Großbritanniens nukleare Abschreckungsmittel taugen, Hebelwirkung und Einflussmöglichkeit in globalen Angelegenheiten.“ Und genauer: „Von seinem Sitz am Verhandlungstisch mit dem Iran bis zur Vermittlerrolle in den Friedengesprächen zum Süd-Sudan erfreut sich das Land eines disproportionalen Einflusses in der internationalen Politik, ermöglicht durch den fortwährenden Besitz […] atomarer Abschreckungsmittel. Der Punkt ist nicht, dass die Britten denen nukleare Bestrafung androhen können, die das nicht ernst nehmen, aber sie können auf ihr Arsenal als primäre Qualifikation für ihren Sitz im UN-Sicherheitsrat verweisen. Abgesehen von Kernwaffen teilt das Vereinigte Königreich sehr wenig mit seinen P5-Kollegen im Hinblick auf die wichtigsten Parameter der Macht, von den Militärausgaben über die Mannschaftsstärke der Streitkräfte und die Beiträge zu internationalen Organisationen bis hin zur wirtschaftlichen Macht […].“ (Das alles gelte zwar für Frankreich auch, aber mit dem entscheidenden Unterschied, dass Paris nuklear nicht abhängig von den USA sei.)
Und so gesehen trifft auf die Kosten der Vanguard-Nachfolger natürlich unverändert zu, was einst Winston Churchill lapidar meinte, als er vom „Preis“ sprach, der zu zahlen sei – „for sitting at the top table“.