von Wilfried Schreiber
Nun liegt es endlich vor, das lang angekündigte „Weißbuch 2016 – Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“. Am 13. Juli wurde es vom Bundeskabinett bestätigt – gewissermaßen als ausdrückliche Bekräftigung der Beschlüsse des Warschauer NATO-Gipfels vom davorliegenden Wochenende.
Es hatte sogar eine öffentliche Debatte gegeben – zwar nicht im Sinne der Diskussion eines Entwurfs. Aber jedermann – oder auch jede Frau – durften erstmals im Vorfeld der eigentlichen Erarbeitung Wünsche und Vorschläge einbringen, die zum Teil sogar auf der Website des BMVg nachzulesen waren. De facto ist das Buch jedoch das Ergebnis eines kleinen Fachzirkels von transatlantisch denkenden Sicherheitspolitikern und Militärspezialisten aus dem Hause von der Leyen. Gemessen an der politischen Bedeutung dieses Dokuments war die reale Einflussnahme der Öffentlichkeit – wie immer – äußerst gering.
Die seit 1969 in unregelmäßigen Abständen erscheinenden Bundeswehrweißbücher sind staatliche Grundsatzdokumente, die mittel- bis langfristig die Leitlinien der äußeren Sicherheit Deutschlands im Rahmen der NATO und der EU bestimmen sollen. Zweifellos spielt da die Bundeswehr eine wichtige Rolle. Aber der Bundeswehr, respektive dem BMVg die konzeptionelle Verantwortung für die eigentliche Grundfrage jeglicher Außenpolitik – also die Frage nach Krieg oder Frieden – zu übertragen, ist schon eine recht fragwürdige Angelegenheit. Es ist, als ob man den Bock zum Gärtner machte. Das Auswärtige Amt wie das Entwicklungsministerium hatten lediglich ein Mitzeichnungsrecht. Von der passiven Rolle des Parlaments ganz zu schweigen.
Die Dominanz militärischer Logik und die Interessen diverser Lobbyorganisationen sind unübersehbar. Dabei soll nicht ignoriert werden, dass das SPD-geführte Auswärtige Amt zum Teil durchaus andere Akzente setzt als das CDU-geführte BMVg. Insofern trägt dieses Dokument natürlich auch den Stempel des Kompromisses und weist eine gewisse Unbestimmtheit in Detailfragen auf. Aber was da nunmehr insgesamt als Beschluss der Bundesregierung in sicherheitspolitischer Hinsicht präsentiert wird, ist in höchster Weise besorgniserregend. Im Kern schreibt dieses Weißbuch einen Kurs fest, den man als ahistorische Rückkehr zur Militarisierung des sicherheitspolitischen Denkens und Handelns in diesem Land bezeichnen kann.
Das Blättchen wird sich der gefährlichen Grundrichtung dieses Weißbuchs sicher noch ausführlicher zuwenden. Hier sei zunächst nur auf eine der Schlüsselfragen für die Zukunft Deutschlands und Europas verwiesen, die das Weißbuch mit völlig neuen Akzenten beantwortet. Das ist die Frage nach dem Verhältnis zu Russland.
Russland wird nicht mehr als Partner des Westens betrachtet sondern als dessen Hauptfeind. Das wird zwar explizit nicht so formuliert, entspricht aber dem Tenor des Buches. Dabei wird unterstellt, dass nicht der Westen diese Partnerschaft gekündigt habe, sondern Russland selbst habe sich vom Westen abgewandt und die strategische Rivalität zum Westen hervorgehoben. Begründet wird diese Einschätzung mit der Erhöhung militärischer Aktivitäten Russlands an seiner Westgrenze und der Modernisierung der russischen Streitkräfte. Russland bleibe deshalb „eine Herausforderung für Sicherheit auf unserem Kontinent“. Die alleinige Verantwortung für die Krise in der und um die Ukraine sieht das Weißbuch bei Russland und macht Moskau den Vorwurf, „die europäische Friedensordnung offen in Frage“ gestellt zu haben. In der Logik des Weißbuchs steht deshalb auch keine neue Sicherheitsarchitektur für Europa untere Einbeziehung Russlands auf der Agenda sondern „der Respekt und die konsequente Einhaltung der bestehenden […] Regeln und Prinzipien“. Legt man diese Messlatte an die Politik der NATO, speziell der USA, an, dann offenbaren sich die Doppelmoral und der imperiale Machtanspruch des Westens.
Gewiss, die Sezession der Krim mit Hilfe eines fragwürdigen Referendums sowie die mehr oder weniger offene Unterstützung der Aufständischen in der Ostukraine sind mit dem gültigen Völkerrecht nicht vereinbar. Russland hat eindeutig gegen bestehende Verträge und Vereinbarungen verstoßen. Das ist auch nicht mit den zahlreichen Völkerrechtsbrüchen der USA und ihrer willigen Helfer zu rechtfertigen. Dennoch dürfen die völkerrechtswidrigen Angriffskriege und hybriden Aktionen der USA gegen den Irak, gegen Afghanistan, Libyen und Syrien nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden. Die USA und all ihre Partner – vor allem die direkt und indirekt an den nichtmandatierten Interventionen beteiligten NATO-Länder – tragen die Hauptverantwortung für Hunderttausende von Toten und das Chaos einer ganzen Region. Das zu verschweigen und damit zu tolerieren, aber gleichzeitig die Russen zu verurteilen und aus Europa exkommunizieren zu wollen, ist heuchlerisch.
Russland hat mit seinem Eingreifen in der Ukraine die bisherige Monopolstellung der USA bei Völkerrechtsverletzungen durchbrochen, als es sich durch die NATO-Osterweiterungen zunehmend bedroht sah. Der von den USA mit fünf Milliarden Dollar unterstützte Sturz des ukrainischen Janukowitsch-Regimes und die Ankündigung der NATO-Aufnahme der Ukraine bedeuteten das Überschreiten einer roten Linie, vor dem Putin schon 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz gewarnt hatte. Dazu kam die erpresserische Forderung des damalige EU-Kommissionspräsidenten Barroso 2013 an die Ukraine, das Assoziierungsabkommen mit der EU nur dann zu unterzeichnen, wenn die Ukraine von einer Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Russland absieht.
Bei der Beurteilung der gegenwärtigen Kriege, Krisen und Konflikte sollten wir nicht übersehen, dass an der Ostgrenze der EU und der NATO gegenwärtig die geopolitischen Interessen der größten kapitalistischen Wirtschaftsmacht sowie des transatlantischen Westens insgesamt und des flächen- und ressourcenreichsten Landes dieser Erde zum Teil diametral aufeinandertreffen – wobei die Kontrahenten zugleich die größten Kernwaffenmächte sind. Insofern ist die heutige Situation an dieser Grenzlinie vergleichbar mit der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen 1962 auf Kuba. Das war eine rote Linie für die USA – und die hatte daraufhin mit einem Atomkrieg gedroht. (Was die Sowjetunion bei der vorangegangenen Stationierung nuklear bestückter amerikanischer Jupiter-Raketen in der Türkei übrigens unterlassen hatte.) Glücklicherweise haben damals die sich feindlich gegenüberstehenden Machtsysteme sowie die Weltgemeinschaft einen Ausweg gefunden.
Wir beobachten heute beiderseits dieser Grenzlinie ein sehr ähnliches „Kriegsgeheul und Säbelrasseln“ wie vor 54 Jahren. Beide Seiten zeigen ein quasi spiegelbildliches Verhalten bei der zunehmenden militärischen Konfrontation und Eskalation. Genau so irrational und schizophren wie damals. Heute nur auf einem technologisch vielfach höheren Niveau. Und ohne das Deeskalationsinstrumentarium der 1980er Jahre. Das ist äußerst besorgniserregend.
Die einseitigen Schuldzuweisungen für die Krise der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen an die russische Seite sind keine gute Grundlage für die Verbesserung dieser Beziehungen. Auch nicht das Bekenntnis zu einer NATO-Doppelstrategie, bestehend „aus glaubwürdiger Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit sowie aus der Bereitschaft zum Dialog“. Das reicht als strategisches Konzept zur Friedenssicherung in Europa nicht aus und muss eher als kontraproduktiv angesehen werden.
Beide Seiten werden in ihrem sicherheitspolitischen Denken und Handeln inzwischen wieder von einem tiefen Misstrauen geprägt, zu dem sie gegenseitig aktiv beigetragen haben. Gefragt sind demgegenüber aber vor allem Schritte zur Überwindung dieses Misstrauens – also vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, wie sie sich schon in den 1980er Jahren bewährt haben und jüngst im Blättchen vorgeschlagen worden sind. Die Russen scheinen das im Ansatz schon begriffen zu haben, denn am 13. Juli dieses Jahres, auf der ersten Tagung des NATO-Russlandrates seit Beginn der Ukrainekrise, machten sie mehrere – die NATO überraschende – Vorschläge, wie zum Beispiel die Einschaltung der Transponder von Militärflugzeugen bei Flügen über der Ostsee oder die Einladung von Militärattachés zur Beobachtung von Großmanövern. Die Umsetzung dieser Vorschläge könnte ein erster Schritt zur Überwindung der militärischen Abschreckungslogik sein, die für den Konfliktfall unkalkulierbare Risiken in sich birgt. Notwendig ist aber vor allem eine strategische Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik auf Konfliktprävention; also auf eine Politik, die Krisen von vornherein zu verhindern sucht. Eine solche Orientierung jedoch sucht man im neuen Weißbuch vergeblich.
Schlagwörter: Außenpolitik, Bundeswehr, Konfliktprävention, NATO, Russland, Sicherheitspolitik, vertrauens- und sicherheitsbildsende Maßnahmen, Weißbuch 2016, Wilfried Schreiber