14. Jahrgang | Nummer 5 | 7. März 2011

Shinjuku liegt am Ende des Regenbogens. Japanische Impressionen (II)

von Sandra Beyer

Der Bezirk Shinjuku gilt bei touristisch interessierten Menschen als Inbegriff der quirligen, japanischen Großstadt. Hier drängeln sich Menschen in Massen, um im Licht der Leuchtreklamen und der ohrenbetäubenden Geräusche von Autos und Geschäften in Bars und Theatern den Abend mit den Kollegen zu verbringen. Selbst tagsüber ist dieser Ort ein Meer von meist dunkelhaarigen Köpfen. In dieser lauten und bunten Welt versteckt sich – sichtbar nur für die Eingeweihten – eine kleine schillernde: Zwei Blocks östlich vom Bahnhof Shinjuku mit seinen über 30 Gleisen und einem Publikumsverkehr von konservativ geschätzten zwei Millionen Menschen am Tag liegt Shinjuku-Ni-chome, der Inbegriff des schwulen Japans. Bei Tageslicht sind die über 300 Bars, die sich auf nur einem Quadratkilometer drängen, unscheinbar, und die Menschen schlendern zu ihrer Mittagspause daran vorbei. Die Bücher- und DVD-Läden sind verschämt verhängt. Man muss schon in die Knie gehen, um die eindeutigen Cover von der Straße aus sehen zu können. In der Nacht dagegen füllen sich die Straßen mit Menschen jeder denkbaren sexuellen Identität und Präferenz. In der warmen Jahreszeit sprechen sich die Interessierten ebenso unbekümmert an wie in den heterosexuellen Vierteln Shibuya oder Roppongi.
Trotzdem wird Homosexualität in Japan nach wie vor streng privat ausgelebt. Nach dem Studium und mit dem Eintritt in eine Firma stellt sich für japanische Menschen um die 30 Jahre die Frage nach Familie und Kindern, denn nur so glauben sie, gesellschaftlich aufsteigen zu können. Da sich jedoch nur heterosexuell lebende Paare in das Standesregister eintragen dürfen, ist die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ausgeschlossen. Im Amüsierviertel Doyama in Osaka sagte mir der Besitzer einer der wenigen Schwulenbars, dass selbst männliche japanische Homosexuelle dies nicht in Frage stellen würden. Sie möchten ihre Zuneigung zwar in der Öffentlichkeit zeigen dürfen, aber wegen der besonderen Bedeutung der Familie in der japanischen Gesellschaft wäre alles andere schädlich für die Kinder.
Zwischen den vielen Bars und Clubs in Osaka, in denen sich das junge Japan tummelt, verstecken sich die wenigen Schwulenbars fast verschämt, und solche für bi- und homosexuelle Frauen sind so gut wie gar nicht zu finden. Als ich eine der kleinen Bars für Männer mit nicht mehr als zwölf Quadratmetern Grundfläche betrat, fiel ich daher auch wegen meines Geschlechtes auf. Nach der Bestellung folgten sofort die für Japan obligatorischen Fragen nach Herkunft und dem Grund meines Japanaufenthaltes sowie Komplimente für meine Sprachkenntnisse. Der Besitzer stellte sich als Halbjapaner heraus, der sich nach Ehe und Geburt eines Sohnes doch eher als zwischen den Welten begriffen und eine Bar für alle sexuellen Identitäten in Doyama eröffnet hatte. Seinen Sohn hatte er seit dessen Geburt nicht mehr gesehen; dieser würde wohl den neuen Mann seiner Mutter als Vater ansehen.
Die junge Generation von Schwulen und Lesben geht offener mit sich und ihren Bedürfnissen um, wenn sie in Sichtweite der kleinen Bars in die großen Clubs geht. Dort lernte der Barbesitzer auch einen jungen Mann kennen, der nur unwesentlich älter als sein Sohn gewesen war. Beziehungen zwischen älteren und jüngeren Männern haben in Japan eine lange Tradition und wurden im 18. Jahrhundert Nanshoku (Knabenliebe) genannt. Ein Lehrer gab seinem Schüler das Wissen in seinem Handwerk und in vielen Künsten, auch den sexuellen, weiter. Heute noch nennen sich homosexuelle Paare mit deutlichem Altersunterschied gegenseitig gern Vater und Sohn. Nur pflegen solche Paare einen anderen öffentlichen Umgang, da es in Japan unüblich ist, dass männliche Verwandte miteinander und ohne Frauen als Unterhalterinnen ausgehen.
Diese homoerotischen Beziehungen beflügeln auch die Fantasiewelt eines ganzen Comicgenres. Die Yaoi-Manga werden von Frauen geschrieben sowie gezeichnet und zielen auf ein weibliches, heterosexuelles Publikum, das in romantischen Geschichten über Verführungen junger Männer durch ältere eigene Vorstellungen von einer idealen Partnerschaft umgesetzt sieht. Die Geschlechterrollen bleiben nämlich in der Kunst und im Leben unangetastet, da einer den aktiven, gebenden und einer den eher passiven, empfangenden Part spielt. So war auch beim Abendessen, das der Barbesitzer mit seiner Eroberung genoss, klar, dass er die Rechnung zu zahlen hatte, auch wenn der jüngere als Student einer Eliteuniversität über mehr Geld verfügte. Der Schüler hingegen „entlohnt“ seinen Lehrer mit sexuellen Gefälligkeiten.
Die Organisation für die Rechte von Lesben und Schwulen, Occur, mit Hauptsitz in Tokyo-Nakano kämpft für die Gleichstellung und die öffentliche Anerkennung aller sexuellen Lebensweisen. Die kleine Nichtregierungsorganisation (NRO) ist selbst mit Kenntnissen der Tokyoter Straßennummerierung schwer zu finden. Ein zierliches Messingschild hängt – leicht übersehbar – zwischen Firmenschildern, und der Eingang liegt in einer Seitenstraße. Occur ist im Straßenbild unsichtbar und doch nicht ohne Einfluss. Im Internet bietet die NGO neben Informationen zu HIV und Coming Out auch rechtliche Hilfe an. Tokyo diktierte die Organisation im Jahr 2000 als erster asiatischer Stadt das Verbot von Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Identität in das Präfekturgesetz, nachdem sich die Präfekturverwaltung zuvor drei Jahre lang geweigert hatte. Das Gleichstellungsgesetz von 2009 für Gesamtjapan hingegen verbietet zwar die Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes, aber (noch) nicht die aufgrund der geschlechtlichen Identität.
Bisher bekennen sich nur wenige homosexuelle Menschen in Japan offen. Da küssende Paare auf den Straßen selten und sich berührende Menschen erst in den letzten 15 Jahren vermehrt zu sehen sind, ist alles andere als heterosexuelle Zweisamkeit meist unsichtbar. 2005 outete sich die parteilose Abgeordnete im Parlament der Präfektur Osaka, Kanako Otsuji, und ist damit eine der wenigen öffentlichen Persönlichkeiten, die als Vorbilder gelten. Die Tokyo Pride Parade ist im Gegensatz zum Christoffer Street Day in Berlin oder zur Gay Pride Parade in San Francisco eine recht intime Angelegenheit, zu der nicht mehr als 3.000 Menschen kommen.
Im japanischen Fernsehen halten sich die Klischees von Schwulen als flamboyante Diven und verweichlichte Männer, die eigentlich lieber Frauen sein wollen, hartnäckig. Jedoch erfreuen sich Transsexuelle in den Vorabendshows landesweit großer Beliebtheit. Auch strahlte das Privatfernsehen mittlerweile mit Last Friends und Hanazakari no Kimitachi he („Zu euch von voller Blüte“) gleich zwei beliebte Seifenopern aus, die Themen nichtheterosexuellen Lebens und Leidens behandelten.
In Japan ist nur hinter den Kulissen mehr möglich als auf der Straße, denn letztes Endes . ist alles erlaubt, solange niemand darüber spricht. Trotzdem verlassen Schwule Japan in Richtung Berlin oder San Francisco, um einem Versprechen einer Freiheit zu folgen, die für sie in Japan nicht möglich ist.
Die strenge Trennung von privatem und öffentlichem Leben hat im Land zu einem versteckten und damit fast mysteriösen Leben der sexuellen Identitäten geführt. Das macht Shinjuku-Ni-chome zu einem fantastischen Ort, an dem nach Sonnenuntergang ein buntes Leben beginnt, das wegen seiner schillernden Unsichtbarkeit geduldet wird.