von Hajo Jasper
„So viel Scheinheiligkeit und Verlogenheit war selten in Deutschland.“ … Nun ja, Frau Merkel. Nicht, dass markige Worte von Ihnen nach Guttenbergs Abgang überraschend sind. Nur eben reagieren Sie, offenkundig etwas waidwund im Gemüt, mit solcherlei Statements doch eher wie jemand, der um sich schlägt. Bei Ihrer Rationalität hätte Ihnen diese grobe Falschaussage sonst nicht unterlaufen können; obwohl sie zum Guttenbergschen Dilemma immerhin passt. Sie erinnert jedenfalls an einen Aphorismus Tucholskys, der – adaptiert und auf das Eingangszitat bezogen – hier lauten müsste: Nichts verächtlicher, als wenn Heuchler Heuchler Heuchler nennen. Denn was anderes ist Ihre in moralischem Empörungstremolo vorgetragene Aussage zu einem Sachverhalt, der ebenso klar wie schäbig war, und an dessen Kulminierung Sie nicht zuletzt durch den abwiegelnden Schutz nicht nur der Person Guttenbergs – nebbich – sondern der Lüge und des Betrugs als Insignien der Unmoral munter beigetragen haben?
Wo war der reinigende Besen Ihrer vorgeblichen – also nicht geheuchelten – Moral, als Sie 2002 das „legitime Theater“ der CDU- Ministerpräsidenten bei der Beratung über ein neues Zuwandergesetz im Bundesrat mit ansehen durften; Roland Koch vor allem, der rot angelaufen auf den Tisch trommelte vor „ehrlicher Empörung“, von der Peter Müller wenig später bekannte: „Die Empörung hatten wir verabredet“. „Das war Theater, aber legitimes Theater.“ Wo war die (mit Folgen verbundene!) Empörung bei Schwarz und Rot, als Müntefering 2006 öffentlich erklären durfte, dass es unfair sei, wenn Politiker an ihren Wahlversprechen gemessen werden? Was ja immerhin im Klartext der Umkehrung heißt, dass das, was man dem Wahlvolk mit freundlicher und zugleich kämpferischer Miene an Zuwendung verspricht, geheuchelt ist. Wo war die (mit Folgen verbundene!) Empörung der etablierten Politik, als ein Kanzler Kohl in einem Fall kriminellen Finanzgebarens sein persönliches Ehrenwort über das Gesetz stellen konnte – ohne dafür belangt zu werden? Wo bleibt eine (mit Folgen verbundene!) Empörung über alle die auch heute noch und immer wieder aufgedeckte Verstrickung der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft mit dem faschistischen Erbe, die auch nur annähernd analog (und mit Folgen verbunden!) wäre wie die Erregung über die Entdeckung jedes neuen IM des DDR-Geheimdienstes?
Was anderes als Heuchelei ist all das „zornige“ Geschwätz über „moralische Verwerfungen“ des Kasinokapitalismus, wenn die (Ihre) Politik dagegen nichts anderes unternimmt, als deren Folgen durch die Steuerzahler zu begleichen?
Was anderes als Heuchelei ist es, wenn dort (China, Kuba, Iran, mittlerweile auch Ägypten oder Libyen), wo es der Politik passt, Menschrechte angemahnt werden, und dort, wo sie zumindest ebenso gebrochen werden (Saudi Arabien) nicht.
Was anderes als Heuchelei ist es, Diktatoren wie Ghaddafi mit Waffen zu beliefern und diesen Leuten, da sie von ihren Völkern geschasst werden, flugs mit dem UN-Gerichtshof zu drohen?
Was anderes als Heuchelei ist es, wenn die Bundesrepublik einen Staat wie Griechenland für viele Milliarden hochrüsten hilft, um ihm dann eine schlechte Haushaltspolitik vorzuwerfen und unter Kuratel zu stellen?
Wo also waren und sind waren bei alledem die Konsequenzen, die es hätte geben müssen, wenn Schaden von der deutschen Demokratie hätten abgewendet werden sollen? Nicht, dass es seinerzeit gar keine Folgen gegeben hätte, gemessen am strukturellen Schaden, den solches Verhalten der politischen Kultur zugefügt hat, war die jeweilige Aufregung – jedenfalls in den Führungsetagen der „Volksparteien“ – auch nichts anderes als geheuchelt; „legitimes Theater“ halt..(Aus Platzgründen muss hier auf weitere Beispiele ebenso verzichtet werden wie auf die tragende Rolle der „embedded“ Medien.)
Gewiss: Heuchelei wie im Falle dieser Beispiele, hat es in der Politik schon immer gegeben, mal mehr, mal weniger, und auch unabhängig von der gesellschaftsprägenden Ideologie. Und auch außerhalb der Politik haben wir es bei der Heuchelei wohl mit einem der Grundmuster menschlichen Verhaltens zu tun. Immer dann, wenn die Wahrheit unangenehm oder gar gefährlich zu werden droht, wird ganz allgemein gern zu Täuschung, Scheinheiligkeit, Doppelmoral oder Bigotterie gegriffen. Das mag menschlich, allzumenschlich sein – Politik hat aber, zumindest in einer Demokratie, neben der Macht- eigentlich auch eine Vorbildfunktion. Nicht, dass Politiker Unfehlbare sein sollen oder können; dieses Alleinstellungsmerkmal bleibt weiterhin dem Papst vorbehalten. Aber wenn die, die im Namen des Volkes Verantwortung tragen, dies nicht mit erkennbarer Lauterkeit tun, animieren sie Menschen zur Abwendung von Politik, oder gar zur Verachtung, statt, wie es dringend erforderlich wäre, sie zur Teilhabe an unser aller öffentlichen Angelegenheiten zu motivieren. Welchen Kräften damit der Boden bereitet wird, sollte sich aus deutscher Geschichte leicht ableiten lassen. Edzard Reuter, dem man wohl ein ziemlich unbestechliches Urteilsvermögen zubilligen darf, beschreibt in seinem Buch „Die Stunde der Heuchler“ ehemals allgemeingültige Werte wie Sitte und Anstand als verdrängt oder sogar durch eine „fast schon zum positiv belegten Grundgesetz unseres moralischen Selbstverständnisses“ erhobene Heuchelei ersetzt. Kein Wunder eigentlich, wenn Politik von der Kunst zum Geschäft des Möglichen verkommen ist.
„Es fehlen einem Fürsten niemals gute Gründe, seinen Wortbruch zu bemänteln“, konstatierte schon Machiavelli in seinem „Fürsten“ als allgemeingültige politische Erfahrung. „Man könnte zahllose Beispiele der jüngsten Zeit dafür anführen und zeigen, wie viele Verträge, wie viele Versprechungen durch die Untreue der Fürsten eitel und vergeblich geworden sind; wer sich am besten auf die Fuchsnatur verstanden hat, ist am besten gefahren. Aber man muss dieses Wesen gut beschönigen und im Heucheln und Verstellen Meister sein: Die Menschen sind so einfältig und gehorchen so den Bedürfnissen des Augenblicks, dass der Betrüger immer welche findet, die sich betrügen lassen … Ein Fürst braucht also alle vorn genannten Eigenschaften nicht wirklich zu haben, sondern nur scheinbar zu besitzen. Ich wage es sogar zu behaupten, dass es schädlich ist, diese zu besitzen und stets danach zu handeln. Dagegen nützlich, sich den Anschein zu geben, als besäße man sie; so sollst du milde, treu, menschlich, aufrichtig und fromm scheinen und es sein; aber du musst dich so erzogen haben, dass du, falls es not tut, auch das Gegenteil zu vollbringen vermagst.“
Da Sie, verehrte Frau Merkel, sich sicher von jedwedem Machiavellismus distanzieren, sei Ihnen die vertraute Heilige Schrift empfohlen und vor allem die dort enthaltene Aufforderung: „Du Heuchler, zieh erst den Balken aus deinem Auge und dann sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest!“ (Matthäus 7.5) Oder Sie versuchen doch mal zu praktizieren, was Karl Kraus in seinem kurzen Gedicht „Der Heuchler“ einst reimte: „Gleich solchen, die da tugendlich prunken,/hab ich mich insgeheim entschädigt./Ich habe Wein gepredigt/und Wasser getrunken.“
Schlagwörter: Angela Merkel, Edzard Reuter, Ghaddafi, Karl Kraus, Karl-Theodor zu Guttenberg, Kurt Tucholsky, Machiavelli, Matthäus, Peter Müller, Roland Koch