von Ingolf Bossenz
Ex oriente lux. Die Botschaft der Auferstehung Jesu, die einst aus dem Orient, dem Osten, in die Welt kam, hat diese Himmelsrichtung mit der Hoffnung auf das Heil aufgeladen. „Denn wie der Blitz ausgeht vom Osten und leuchtet bis zum Westen, so wird auch das Kommen des Menschensohns sein“ heißt es pathetisch im Matthäus-Evangelium.
Der Osten, aus dem das Licht kommt. Brechen wir diese sakrale Sendung auf das Profane des heutigen Populus Germanicus herunter, kann das Licht, das aus dem Osten (der deutschen Republik) kommt, ja wohl nur von den „täglich brennenden Flüchtlingsheimen“ herrühren. Eine mittlerweile stehende mediale Wortwendung, deren semantischer Absolutismus bestenfalls durch Adverbien wie „beinahe“, „nahezu“ oder „fast“ relativiert wird. Ansonsten: Finsternis. Dunkeldeutschland. Das allerdings, wie Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow jetzt im Lichte (?) jüngster Landtagswahlergebnisse behutsam zu korrigieren versuchte, „nicht nur im Osten“ liege. Geschenkt. Mit dem anhaltischen AfD-Rekord von fast einem Viertel der Voten wird Ostdeutschland diese bittere Bürde wohl weiter weitgehend allein schultern müssen.
Wissen die Ostdeutschen – vielfach den „Rattenfängern“, „geistigen Brandstiftern“ und „Rechtspopulisten“ folgend – nicht, was sie tun? So wie jene, von denen Jesus das am Kreuz sagte und für die er dennoch um Vergebung bat? Kennen sie nicht mehr die Worte des HERRN? Wurde ihnen in Jahrzehnten marxistisch-leninistischer Indoktrination und Predigt der Glaube an IHN ausgetrieben? Mitsamt dessen christlicher Barmherzigkeit? „Die Gewässer der Religion fließen ab, und zurück bleiben Sümpfe und Weiher“, prophezeite Friedrich Nietzsche. Der Osten – ein brauner Sumpf? Ein gottloser Hort der Hetze und des Hasses?
Angesichts solch apokalyptischer Ausblicke ist es (für einen Ostdeutschen) ausgesprochen tröstlich, dass es noch Menschen und Urteile gibt, die aus dem Osten, dem deutschen, ein Licht kommen sehen: ein „gleißend helles, schneidend kaltes östliches Licht“, das einhergeht mit „einer zwischen Diesseits und Jenseits vagabundierenden Skepsis und Gnosis – einer spähend-schauenden Vernunft“.
Vernunft. Der dieses zentrale Wert-Wort europäischer Aufklärung den Unbotmäßigen und Widerspenstigen zuspricht, ist der in Berlin lebende Historiker und Philosoph Jürgen Große. In seinem Essay-Band „Die Gnosis des Ostens“ lässt sich der 1963 geborene Schriftsteller nicht von prüfender Pädagogik für das demokratisch-korrekte Wahl- und Wohlverhalten in diesem geografisch-politischen Landstrich leiten. Große geht es um die stillen Weiher des Skeptizismus, die die abgeflossene Pseudoreligiosität der „Quasikirchlichkeit des Staatsmarxismus“ hinterließ.
Diese „Gnosis“ (griechisch: Wissen, Erkenntnis) bereitet der kapitalistisch verfassten Staatsdemokratie derzeit offenbar ähnliche Schwierigkeiten, wie es die gnostischen Sekten einst mit Blick auf das sich etablierende Christentum taten. „Die Gnosis des Ostens“, summiert der Autor, „mit ihrem freien Blick auf die Schicksale aller Ideen-Institutionen, ist historisch erzwungen; sie gibt den Ihren keinen Grund zu Hochmut oder Behagen.“
Mit anderen Worten: Ostdeutsche sind ideologischen Verkündigungen, Verheißungen, Verordnungen gegenüber einfach vorsichtiger, misstrauischer, ablehnender als in ökonomischer Prosperität sozialisierte Westdeutsche, die sich aus dem Fundus religiöser wie säkularer Heilslehren frei bedienen oder das auch lassen konnten. (Letzteren fehle die Erfahrung einer staats- oder dogmengewollten Öffentlichkeit, „die man zwar meiden, aber nicht umdeuten kann“, meint Große.) Einem solchen stark entkirchlichten, weitgehend religionsfernen, hartnäckig ideologiekritischen Bevölkerungsteil ein obrigkeitliches Diktum wie „Der Islam gehört zu Deutschland“ zu oktroyieren – erfüllend aufgeladen mit Massenzuwanderung aus diesem Kulturkreis –, muss zwangsläufig zum Desaster geraten. Die Feststellung, dass es in ihrer Lebenswelt doch „so gut wie keine Menschen nichtdeutscher Herkunft und schon gar nicht muslimischen Glaubens“ (Ramelow) gebe, taugt – abgesehen von ihrer plakativen Überzogenheit – weder als Vorwurf noch als Erklärung. Die Besorgnis (ein mittlerweile in der politischen Auseinandersetzung inkriminierter Begriff) über die Gefahren künftiger Parallelgesellschaften lässt sich ja nun durchaus an Erfahrungen und Entwicklungen der (alten) Bundesrepublik festmachen.
Man kann eine solche Haltung kritisieren, man kann – scharf, entschieden, sachlich – diesbezügliche Demonstrationen und Wahlausgänge kritisieren (Auf das Indiskutable gewalttätiger Akte sei der Vollständigkeit halber verwiesen). Es ist demokratisch legitime Kritik an einem Verhalten, dessen demokratische Legitimität ebenso außer Frage steht – auch, wenn AfD-Wählern die schlimmste aller möglichen Vorhaltungen gemacht wird: dass sie nämlich einer „faschistischen Partei“ die Stimme gegeben hätten (so in einem Papier der LINKE-Strömung „Emanzipatorische Linke“). Solcherart martialisch-ideologische Verdikte dürften besonders im postsozialistischen Osten ähnlich kontraproduktiv wirken wie die Erhebung der „Willkommenskultur“ zur „Klassenfrage“ (nd vom 12. Oktober 2015). Und die von einer antirassistischen Initiative generierte Idee, die Ostdeutschen mittels Massenansiedlung von Migranten endlich von „weißer“ Dominanz zu befreien, ist repressivem Denken und Gebaren zweifellos näher als die einschlägigen „Lügenpresse“-Rufe auf dem Dresdner Theaterplatz.
Wer die Ostdeutschen (notabene: die es betrifft) auf den rechten Weg zurück respektive von diesem herunter bringen will, ist vermutlich besser beraten, darauf zu verzichten, bereits jetzt sibyllinisch raunend die virtuellen Trümmer künftiger Schuld anzuhäufen: Wenn Deutschland wieder in der Diktatur versinkt … Ein linkes Bündnis will gar in speziellen Schulungsprogrammen bis zu 25.000 „Stammtischkämpfer“ ausbilden, um den Biertisch-Parolen mit „fundierten Argumenten“ zu begegnen. Aus forcierter Agitation und Propaganda wird der Widerspenstigkeit in ostdeutscher Provinz kaum die erwünschte Zähmung erwachsen. Immerhin gibt es dort wache Geister, die ungeachtet der Versuchungen publizitätsbeflissener Partei-Profilierung den Sinn für Reales bewahrt haben. So sieht Rico Gebhardt, Partei- und Fraktionschef der LINKEN in Sachsen, „keine Flüchtlingskrise, sondern eine allgemeine Integrationskrise“. Besonders in Ostdeutschland seien viele Menschen nach der Wende nicht mehr in das vereinte Deutschland integriert worden. Bei den Linken habe es in den letzten Jahren auch eine gewisse Überheblichkeit gegeben. „Mehr mit dem Stammtisch reden als über ihn“, fordert Gebhardt.
Eine unaufgeregte, pragmatische Stimme. Man kann nur hoffen, dass sie angesichts des Lamentos über den braunen Schatten, der vom Osten her auf die lichte Demokratie des Westens fällt, gehört wird.
Jürgen Große: Die Gnosis des Ostens. Von Frommen, Freidenkern und dem fremden Blick, edition anderswo, Kleve 2016, 116 Seiten,14,80 Euro.
neues deutschland, 24. März 2016. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Schlagwörter: AfD-Wähler, Gnosis, Ingolf Bossenz, Jürgen Große, Linke, Ostdeutschland, Skeptizismus