19. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2016

Nach dem Iran-Abkommen:
Hat Raketenabwehr noch Sinn?

von Jerry Sommer

Die USA stellen die entscheidenden Komponenten des NATO-Raketenabwehrsystems für Europa. Seit dem NATO-Beschluss von 2010 ist eine US-Radaranlage in der Türkei errichtet worden. Vier Kriegsschiffe mit Abfangraketen sind in Spanien stationiert und kreuzen im Mittelmeer, fahren aber auch ins Schwarze Meer. Im Dezember ist in Rumänien ein US-Stützpunkt mit 24 landgestützten Abfangraketen fertiggestellt worden. Er soll in einigen Monaten einsatzbereit sein. Und auch die nächste, die dritte Stufe des Raketenabwehrprogramms wird im Frühjahr in Angriff genommen, wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 18. Januar 2016 in Brüssel erklärte: „Im Frühjahr wird der Bau der wichtigen NATO-Raketenabwehranlage in Polen begonnen.“
Dort sollen ab 2018 weitere 24 noch leistungsstärkere Abfangraketen vom Typ SM-3 Block IIA stationiert werden. Für den Bau der Anlage plant das Pentagon circa 200 Millionen US-Dollar ein. Jede Rakete kostet rund 10 Millionen Dollar. Den Löwenanteil der Kosten für die bisher geplanten Elemente der europäischen NATO-Raketenabwehr tragen die USA – die übrigen NATO-Staaten müssen zusammen über zehn Jahre nur rund 200 Millionen Dollar für Führungssysteme und Softwareanpassungen bezahlen.
Die NATO-Raketenabwehr wird vor allem mit der Bedrohung aus dem Iran begründet. Durch das Atomabkommen mit der iranischen Regierung hat sich die Ausgangslage allerdings verändert. Wenn diese Vereinbarung von allen Seiten eingehalten wird, dann ist zumindest für die nächsten zehn Jahre die Gefahr gebannt, dass der Iran genügend Material für eine Atombombe erwirbt. Trotzdem halten die USA und die NATO ohne Abstriche an ihren Raketenabwehrplänen fest, kritisiert Oliver Meier von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik: „Es hat sich an der Bedrohungslage tatsächlich etwas geändert. Eine Bedrohungslage durch iranische Raketen mit atomaren Sprengköpfen ist eine existenzielle Bedrohung, die durch konventionelle iranische Raketen nicht gegeben wäre.“
Die Zweifel an der NATO-Raketenabwehr sind auch bei der SPD gewachsen, erklärt der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold: „Unsere Bedenken sind nicht kleiner, sondern eher größer geworden. Die USA haben immer gesagt, dass sich dieses Programm vor allen Dingen gegen den Iran richtet aus der Sorge heraus, dass er sich nukleare Raketen mit großer Reichweite beschaffen könnte. Nach den Verhandlungen mit dem Iran, die nach vielen Jahren erfolgreich waren, wird die Legitimation und die Notwendigkeit für dieses Raketenabwehrsystem noch kleiner.“
Ebenso wie Die Linke waren auch die Grünen von Anfang an gegen das NATO-Raketenabwehrprogramm. Die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Agnieszka Brugger: „Ich habe die Pläne schon vorher für unsinnig gehalten. Aktuell gibt es mit dem Iran-Abkommen noch einen Grund weniger, diese teure Fehlinvestition zu machen.“
Im Bundestag unterstützt nur die CDU/CSU-Fraktion vorbehaltlos die Fortführung des Raketenabwehrprogramms. Der Außenpolitiker Roderich Kiesewetter sieht die generelle Notwendigkeit für Europa, mit der Raketenabwehr „Härte zu zeigen“, und verweist auch auf weitere potenzielle Bedrohungen – zum Beispiel aus Libyen. Dieses Land verfügt allerdings über keine Raketen, die Europa erreichen können. Vor allem aber müsse angesichts der seiner Meinung nach generellen „hegemonialen Bestrebungen“ des Irans an der NATO-Raketenabwehr festgehalten werden – insbesondere wegen der iranischen Raketen, auch wenn sie nur mit konventionellen Sprengköpfen bestückt werden könnten. Kiesewetter erklärt: „Ich stütze mich hier auf verlässliche Informationen aus dem Bundesnachrichtendienst: Der Iran hat Reichweiten, die inzwischen bis München oder Stuttgart gehen. Ob das in seiner Strategie ist, ist etwas anderes. Aber ich möchte schon sein Verhalten im Nahen und Mittleren Osten mit seiner Raketentechnologie in Zusammenhang bringen.“
Ob der BND solche Einschätzungen über die Reichweite iranischer Raketen verbreitet hat, ist nicht nachzuprüfen. Jedenfalls widerspricht eine solche Bewertung den Analysen der US-Geheimdienste wie auch der Lagebeurteilung anderer Sicherheitsexperten. Demnach besitzt der Iran gegenwärtig keine Raketen, die Deutschland oder Kerneuropa treffen könnten. Greg Thielmann, Rüstungsexperte der Washingtoner Arms Control Association: „Die iranischen Raketen haben eine Reichweite von bis zu 2.000 Kilometer und könnten somit Teile Rumäniens und Griechenlands erreichen. Ohnehin sind sie wohl in der Realität dazu da, Israel und einige Nachbarstaaten des Irans abzuschrecken. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die Iraner vorhaben, Raketen zu entwickeln, die Deutschland oder Frankreich erreichen könnten.”
Der US-Sicherheitsexperte setzt sich deshalb dafür ein, dass die NATO die geplante nächste Phase des europäischen Raketenabwehrsystems jetzt aussetzt. Denn ohne die atomare Bedrohung aus dem Iran habe die Raketenabwehr keinen Sinn, wenn sie denn wirklich gegen den Iran gerichtet war, wie immer behauptet werde. Die geplante Stationierung von moderneren Abfangraketen in Polen ist nach Ansicht Thielmanns hingegen eine Provokation für Russland: „Es ist nicht wahr, dass die Abfangraketen der bisherigen Stufen eins und zwei die russische Abschreckungsfähigkeit irgendwie bedrohen. Aber die Systeme der Stufe drei haben Fähigkeiten gegen Mittelstreckenraketen und sie könnten unter bestimmten Umständen – da haben die Russen Recht – auch die strategische Abschreckung Russlands bedrohen.“
Die russische Regierung nutzt auch die Raketenabwehrpläne der NATO, um ihrerseits die Modernisierung der eigenen Atomwaffen zu rechtfertigen. Außerdem hat der Kreml angekündigt, US-Raketenabwehrsysteme in Polen mit der Verlegung von Iskander-Kurzstreckenraketen nach Kaliningrad zu beantworten. Wenn die NATO jetzt ihre weiteren Raketenabwehrpläne einstellt oder gar die schon vorhandenen Systeme wieder abbaut, hätte das positive Folgen, meint der Obmann der Linken im Verteidigungssauschuss, Alexander Neu: „Der Vorteil besteht darin, dass Russland sich nicht genötigt sieht, entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Das würde man sich ersparen können von der russischen Seite. Und wir würden uns das auf NATO-Seite ersparen und somit könnten wir eine Eskalation und einen Rüstungswettlauf in dieser Frage verhindern.“
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Kiesewetter aber lehnt eine Aussetzung der US-Raketenabwehrpläne strikt ab. Obwohl diese Systeme seiner Ansicht nach nicht gegen Russland gerichtet sind, so hält er sie doch für ein unverzichtbares Signal an Wladimir Putin: „Putin hat ja selbst sehr anschaulich zu verstehen gegeben, dass schwache Gegner von Russland nicht akzeptiert werden. Wenn Europa sich hier etwas mehr Zähne zulegt, zeigt das Putin auch nur, dass Europa seine Sprache verstanden hat. Er würde einen Verzicht auf die Raketenabwehr als Schwäche auslegen.“
Ohne die Raketenabwehr würden Länder wie Polen und Rumänien womöglich sogar eine Stationierung von US-Atomwaffen auf ihrem Boden anstreben, erklärt Kiesewetter weiter. Dieses Argument zugunsten der Raketenabwehr macht sich der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Rainer Arnold zwar nicht zu Eigen. Er sieht aber keine Chance, den bereits abgefahrenen „Raketenabwehr-Zug“ noch aufzuhalten: „Es ist chancenlos, den Polen zu sagen, sie sollen jetzt verzichten. Für Polen ist dieses System natürlich ein System, das sie vor Russland schützen soll. Diese Einschätzung teilen wir nicht.“
Widerstand aus Polen und den baltischen Staaten gegen jede Veränderung der NATO-Raketenabwehrpläne erwartet auch Oliver Meier von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Trotzdem sei eine Überprüfung des Programms notwendig: „Angesichts der geänderten Bedrohungslage würde ich es für sinnvoll halten, eine Debatte darüber zu führen, welche Rolle Raketenabwehr in der europäischen Sicherheit spielen kann und soll.“ Eine solche neue Diskussion befürworten bisher jedoch nur die Oppositionsparteien im Bundestag und einige wenige Sicherheitsexperten.

Jerry Sommer arbeitet als freier Journalist und ist Research Associate des „Bonn International Center for Conversion“. Der Artikel ist eine leicht veränderte Version seines Beitrags über Raketenabwehr aus der Sendung des NDR-Info-Radios „Streitkräfte und Strategien“ vom 30. Januar 2016.