von Günter Hayn
Nimmt man allein die Programme der öffentlich-rechtlichen Fernsehstationen, so ist die Kriminalistik im landläufigen Sinne in Deutschland inzwischen Volkssport. Am Sonntagabend kann kein Fall zu blödsinnig und kein „Ermittler-Team“ handwerklich unfähig genug sein, um nicht ein Millionenpublikum an die Mattscheibe zu fesseln. Sekunden nach dem Abspann glühen die virtuellen Drähte der sozialen Netzwerke dank des spontan expandierenden Austausches geballten Zuschauerfachwissens. Am Tag darauf finden selbst nd-Leser an prominenter Stelle ihres Blattes eine, nun ja, in unterschiedlicher Tiefe schürfende Besprechung des Gesehenen.
Gemessen an der telemedialen Aufklärungsquote ist es mit der tatsächlichen in Deutschland geradezu hundsmiserabel bestellt. Im Jahre 2014 lag sie bei 54,9 Prozent, bei Mord immerhin bei 95,3 Prozent. Letzteres suggeriert ein Sicherheitsbild, das einer genaueren Prüfung mitnichten standhält: Die Dunkelziffer der nicht angezeigten Morde scheint erheblich zu sein.
Wir kennen alle das geflügelte Wort mit der Statistik, der man nur trauen könne, wenn man sie selbst gefälscht habe. Bei den polizeilichen Kriminalitätsstatistiken trifft dies in besonderer Weise zu. Der Berliner Innensenator und sein Polizeipräsident tragen, wie ihre Amtskollegen auch, alljährlich mit stolzgeschwellter Brust, die Ermittlungsdaten vor. Dabei können sie nur notdürftig kaschieren, dass die Berliner Aufklärungsquote von 48,4 Prozent (2010) auf 44,9 Prozent (2014) zurückging. Der Tagesspiegel sprach vom „schlechtesten Wert seit mehr als einem Jahrzehnt“. Aber auch diese Zahl ist mit Vorsicht zu genießen: Die „Erschleichung von Beförderungsleistungen“, gemeinhin „Schwarzfahren“ genannt, ist ein Straftatbestand, der in die Kriminalitätsstatistik eingeht – aber den charmanten Nebeneffekt hat, bereits bei der Anzeige in 99 Prozent aller Fälle aufgeklärt zu sein. Das verschönt natürlich die Quote. In Berlin waren das 2014 33.723 Fälle allein bei der BVG – ohne die S-Bahn! 2013 wurden übrigens nur 480 „Erschleichungen“ zur Anzeige gebracht, da hatte das Unternehmen eine Computerpanne. Das tröstet aber nicht über die Tatsache hinweg, dass in Deutschland jedes zweite Delikt nicht aufgeklärt wird. Nicht nur die Stadtstaaten haben damit Probleme. Auch in Brandenburg ging die Aufklärungsquote zwischen 2005 und 2008 um 6,9 Prozent zurück, 2012 lag sie bei 53,7 Prozent.
Sicherlich sind die Ursachen dafür äußerst komplexer Natur. Eines jedoch lässt sich nicht leugnen: Neben der miserablen quantitativen Personalausstattung der Landespolizeibehörden spielt das eklatante Missverhältnis zwischen den qualitativ stetig wachsenden Anforderungen an die Arbeit der Kriminalisten und deren oftmals unzureichender Qualifikation eine Rolle, die den Polizisten selbst nicht anzulasten ist. Vielleicht soll es ja Satire sein, wenn die Fernseh-Kommissare unbefangen ihre Tatorte zerlatschen und dann den naiven Dorfpolizisten anranzen, er möge doch gefälligst Handschuhe anziehen.
Angesichts dieser misslichen Zustände befragte DER SPIEGEL 2013 den Bundesvorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), André Schulz. Schulz beklagte, dass für „richtige Ermittlungen“ den Beamten kaum hinreichend Zeit zur Verfügung stehe und fachkundiges Personal auch nicht: „Der entscheidende Fehler vieler Innenminister sei, eine Einheitsausbildung für Polizisten eingerichtet zu haben. Den Beruf des Kriminalbeamten erlerne man nicht ‚Learning by Doing‘. […] Auf diese Weise geht die Qualität der kriminalistischen Arbeit verloren.“
Die Erkenntnis ist nicht neu. Aber: Eine wissenschaftliche Ausbildung von Kriminalisten, genauer gesagt von Diplom-Kriminalisten, hat es in Deutschland schon einmal gegeben. Im Oktober 1968 wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin nach langem Vorlauf eine eigenständige Sektion Kriminalistik gegründet. Deren Vorgeschichte, die Geschichte ihres Wirkens und – das sei vorausgeschickt – die Geschichte ihres sowohl für die Universitätsgremien als auch für die verantwortliche Landesregierung unrühmlichen Endes beschreiben die Verfasser des von Frank-Rainer Schurich und Ingo Wirth herausgegebenen Bandes „Die Kriminalistik an den Universitäten der DDR“. Beide sind Insider: Blättchen-Autor Frank-Rainer Schurich war bis zu deren Abwicklung der letzte Sektionsdirektor dieser Einrichtung, Ingo Wirth ist Hochschuldozent für Kriminalistik und forensische Medizin und gibt zusammen mit Remo Kroll die „Schriftenreihe Polizei. Studien zur Geschichte der Verbrechensbekämpfung“ heraus, in der auch der vorliegende Band erschienen ist.
Selbstverständlich bildete auch in der DDR selbst die Polizei, genauer: das Ministerium des Inneren (MdI), kriminalistische Fachkräfte aus. Sowohl die Fachschule des Ministeriums in Aschersleben (heute befindet sich dort die Landespolizeischule Sachsen-Anhalt) als auch die Hochschule der Volkspolizei in Berlin-Biesdorf (die Einrichtung ist nach dem Ende der DDR abgewickelt worden, die Immobilie dient noch polizeilichen Zwecken) bildeten auf durchaus hohem fachlichen Niveau aus. Allerdings vermochten beide nicht, eine universitäre Ausbildungsstruktur mit der nur dort möglichen Vernetzung zu den „Schwesterwissenschaften“ zu gewährleisten. Dies war die große Leistung der auch in der DDR von zwei Seiten – dem MdI und den Kollegen der anderen Universitätssektionen – stets misstrauisch beäugten Berliner Sektion Kriminalistik.
Rainer Leonhardt und Frank-Rainer Schurich schildern dies anschaulich anhand der Geschichte des von der Sektion erarbeiteten „Lehrbuches Kriminalistik“. So hatte sich die Sektion um ihren damaligen Direktor Ehrenfried Stelzer um den Jahreswechsel 1971/72 mit Forderungen auseinanderzusetzen, dass „die Ergebnisse der Sowjetwissenschaften“ zu berücksichtigen seien, auf „eine marxistische theoretische Fundierung der praktischen Erfahrungen“ zu orientieren wäre, natürlich die „Auseinandersetzung mit bürgerlichen Auffassungen“ geführt werden müsse, „das Ganze [gemeint sind die „Thesen“ zur Erarbeitung des Lehrbuches – G.H.] für ein Autorenkollektiv geeignet sein müsse und dann habe „die Anlage den allgemeinen Anforderungen eines Hochschullehrbuches zu entsprechen“. Es ist gut, dass die Autoren an solche Prokrustes-Betten des DDR-Wissenschaftsbetriebes erinnern. Die Leistungen der in diesen Involvierten sind desto höher zu bewerten! Allein das Verzeichnis der von Remo Kroll für den Anhang des Bandes zusammengestellten akademischen Schriften der Berliner Kriminalisten umfasst volle 153 Seiten! Etliche Titel davon haben sich mitnichten durch den Untergang der DDR erledigt. Eine andere Zahl, die die Autoren nicht ohne berechtigten Stolz präsentieren: Die Sektion Kriminalistik absolvierten insgesamt 2.150 Direktstudenten, 860 Polizisten absolvierten die Einrichtung im Fernstudium und 35 nahmen an einem Aufbaustudium teil. Eine beachtliche Zahl, die – verbunden mit den Bemühungen an den Universitäten Leipzig, Halle-Wittenberg und Jena –zu einem deutlichen Qualitätsschub in der kriminalistischen Praxis der DDR führte. Es war eben nicht nur der – zweifellos gegebene – im Vergleich zur Bundesrepublik größere „Repressionsdruck“, der zu anderen Aufklärungs- und Präventionserfolgszahlen führte, als wir sie heute (siehe oben!) gewohnt sind. Repression allein – der Hinweis auf us-amerikanische Verhältnisse mag hier genügen – ist noch keine Garantie für Verbrechenseindämmung. Auch das ist übrigens keine neue Erkenntnis.
Tragischerweise kam das Ende der Sektion zu dem Zeitpunkt, als sie sich – wie die Autoren beeindruckend nachweisen – deutlich von einer zu vordergründigen ideologischen Vereinnahmung freimachen konnte. Die Humboldt-Universität wurde nach dem Ende der DDR dem Senat von Berlin unterstellt. Der beschloss am 18. Dezember 1990 die Abwicklung „mangels Bedarfs“. Die hier manifestierte hanebüchene Unkenntnis der Verhältnisse in der Stadt gehört seit Jahren zum Markenzeichen Berliner Senatspolitik. Schurich und sein Mitautor Rainer Leonhardt zitieren aber auch den Tagesspiegel vom 13. Dezember 1990: „Im Fach Kriminalistik handelt es sich nach Ansicht des Berliner Senats um eine spezialisierte Ausbildung für die Bedürfnisse der Staatssicherheit und der Volkspolizei.“ Das ist die Erklärung für das Abwürgen. Der „Rest“ – die damit verbundene „Eliminierung der Kriminalistik als Universitätsdisziplin in Deutschland und im gesamten deutschsprachigen Raum“ (so Waldemar Burghard 1991, damals Chefredakteur der in Heidelberg erscheinenden Zeitschrift Kriminalistik) – interessierte und interessiert „die Politik“ bis zum heutigen Tag nicht. Der Befund des BDK-Chefs André Schulz spricht für sich.
Angesichts der aktuellen Zahlen liest sich der von Frank-Rainer Schurich und Ingo Wirth herausgegebene Band wie ein Menetekel. Übrigens nähern sich die gut 3.000 an der Berliner Universität ausgebildeten Kriminalisten – so sie nicht im Umfeld der „Wende“ gefeuert wurden – der Pensionsgrenze. Ihr Nachwuchs hat die „Einheitsausbildung“ (Schulz) hinter sich. Auch das erklärt den zitierten brandenburgischen Abwärtstrend.
Frank-Rainer Schurich / Ingo Wirth (Hrsg.): Die Kriminalistik an den Universitäten der DDR, Verlag Dr. Köster, Berlin 2015, 460 Seiten, 29,80 Euro.
Schlagwörter: Aufklärungsquote, Frank-Rainer Schurich, Günter Hayn, Humboldt-Universität, Ingo Wirth, Kriminalistik