von Günter Hayn
Das antike Griechenland schwor auf das Orakel von Delphi: Die offensichtlich von Erdgasen umnebelte Priesterin Pythia brabbelte auf Bestellung schwer Verständliches – die Auslegung blieb den Orakel-Bestellern überlassen und war oft Glückssache. Übel erging es dem lydischen König Krösus, der 546 vor unserer Zeit den Perserkönig Kyros II. bekriegen wollte. Dem weissagte die Pythia die Zerstörung eines großen Reiches. Krösus bezog das Orakel siegesgewiss auf die Perser, verlor aber prompt den Krieg, und sein eigenes Reich ging unter.
Das erinnert irgendwie an den jüngsten Machtwechsel in Argentinien und die dem folgenden Interpretationsversuche. Am 22. November 2015 gewann der Spitzenkandidat des argentinischen Wahlbündnisses „Cambienos“ („Auf zum Wechsel“), Mauricio Macri, die Stichwahlen um das Präsidentenamt gegen den Kandidaten der „Frente para la Victoria“ („Front für den Sieg“, das ist die peronistische Regierungspartei Cristina Kirchners), Daniel Scioli. Der Spiegel sprach von einem „radikalen Wechsel“, neues deutschland von einer „Zäsur“ und einem „expliziten Rechtsruck“. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitierte den Begriff „Epochenwechsel“. Allerdings setzte sie ihn vorsichtshalber in Anführungszeichen, er stammt von Macri selbst. Der ehemalige Präsident und Manager des Fußballvereins „Boca Juniors“ (bei dem spielte Diego Maradona) und derzeitige Oberbürgermeister von Buenos Aires ist ein Meister der PR-Strategien. Im Vorfeld der Wahlen warnten 50 lateinamerikanische Intellektuelle und Politiker – unter anderem Frei Betto und Evo Morales – vor dem „Vormarsch der konservativen Restauration“ in Lateinamerika, falls Macri die Wahl gewinne. Es wurde und wird nun heftig über den Weg des zweitgrößten Landes des Subkontinents orakelt, je weiter weg vom Rio de la Plata die Weissager sitzen, desto drastischer werden ihre Prophezeiungen. Es ist aber Zurückhaltung geboten.
Das beginnt mit dem Ergebnis der Wahlen: Macri landete nur mit knapp 2,8 Prozent vor seinem Kontrahenten Scioli, der immerhin 48,6 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte. Die Wahlbeteiligung lag bei 81 Prozent. Auch parteipolitisch bewegt sich Mauricio Macri auf dünnem Eis. Seine liberal-konservative Partei „Propuesta Republicana“ (PRO) dominiert zwar in der Hauptstadt, hatte aber bislang in den Provinzen des Riesenlandes kaum eine breitere Basis. Die verschaffte ihm der Bündnispartner UCR („Unión Cívica Radical“), der allerdings leicht sozialdemokratisch orientiert ist.
Den Wahlsieg verschaffte Macri jedoch ausgerechnet ein Peronist, Sergio Massa. Massa war mehrere Jahre Bürgermeister von Tigre, einer industriell geprägten Großstadt im Ballungsraum nördlich von Buenos Aires. Von Juli 2008 bis Juli 2009 war er Kabinettschef der Präsidentin Cristina Kirchner, zerstritt sich mit ihr und bildete mit der „Frente Renovador“ (FR) einen eigenen peronistischen Parteiflügel. 2013 gewann Sergio Massa mit einer eigenen Liste in der bevölkerungsreichen Provinz Buenos Aires (nicht zu verwechseln mit der „Ciudad Autónoma de Buenos Aires“, das ist die Hauptstadt) haushoch die Wahlen zur Abgeordnetenkammer des Congreso Nacional. Die Provinz Buenos Aires stellt dort mit 70 Mandatsträgern weit über ein Drittel der Abgeordneten. Gouverneur der Provinz ist übrigens seit 2007 Daniel Scioli. Auch Massa trat als Präsidentschaftsbewerber an und erzielte im ersten Wahlgang immerhin 20 Prozent der Stimmen. Diese Wähler dürften bei der Stichwahl im Wesentlichen für Mauricio Macri gestimmt haben. Macri hat aber weder in der Abgeordnetenkammer (hier verfügt er nur über 89 von 257 Sitzen) noch im Senat eine eigene Mehrheit, muss also in jedem Fall zumindest einen Teil der peronistischen Parlamentarier auf seine Seite ziehen. Sergio Massa bot schon die Unterstützung der FR an. Das wären immerhin 33 Stimmen.
Angesichts einer Inflationsrate von offiziell 30 Prozent, sich ausbreitenden Elendsvierteln und wirtschaftlicher Stagnation zogen auch die Kampagnen der „Kirchneristas“, die ihrerseits vor dramatischer Verelendung warnten, nicht wirklich. Das hat überhaupt nichts mit unserem gewohnten „Rechts-Links-Muster“ zu tun. Wer dieses als ausschließliches Bewertungskriterium an die argentinische Politik – wohl an die lateinamerikanische überhaupt – anlegt, wird früher oder später böse erwachen. Linksparteien nach europäischem Verständnis spielen in der argentinischen Politik, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle. Und es ist nicht so, dass viele Argentinier die Leistungen der Ära Kirchner nicht zu schätzen wissen: Néstor Kirchner (Präsident von 2003 bis 2007) und seine ihm im Amt nachgefolgte Ehefrau Cristina Fernandéz de Kirchner leiteten eine nachhaltige Aufarbeitung der Militärdiktatur ein und von den in diesen Jahren eingeführten „Planes sociales“ – für viele Familien sind diese Sozialprogramme das einzige Einkommen – sind fast 18 Millionen Argentinier betroffen. Dennoch ging offenbar, wie Kenner des Landes meinen, die zunehmend konfrontative und mit immer lautstärker werdenden Kampagnen geführte Politik „Cristinas“ einer zunehmenden Anzahl Argentinier auf die Nerven.
Mauricio Macri entstammt einer der reichsten Familien des Landes und gilt als neoliberaler Politiker reinsten Wassers. Sein dieser Tage präsentiertes Kabinett wird von Bankern dominiert. Einen rabiaten Kurswechsel kann er sich aber weder innen- noch wirtschaftspolitisch leisten. Eine Kehrtwende „beim politischen Stil“ wird er sicherlich vollziehen müssen – hier ist dem Herausgeber des Argentinienportals, Daniel Gensler, zuzustimmen. Die peronistische Konkurrenz, egal ob in Gestalt Daniel Sciolis oder Sergio Massas, sitzt zumindest mit in den Vorzimmern des Kabinettes. Angesichts der fragilen Machtverhältnisse wird es in der „Casa Rosada“ (dem Präsidentenpalast) wohl eher auf ein behutsameres Umsteuern hinauslaufen.
In der Außenpolitik wird es allerdings zu einem raschen Paradigmenwechsel kommen. Macri ist heftig gewillt, den Annäherungskurs Cristina Kirchners an China und Russland zu beenden und sich wieder stärker auf die USA zu orientieren. Zumindest was China anbelangt, dürfte das schwieriger als erwartet werden: Die finanziellen Abhängigkeiten des Landes von der Volksrepublik sind erheblich. Auch der freundschaftliche Umgang Argentiniens mit Venezuela, Bolivien und Kuba dürfte beendet sein. „Wir werden versuchen, die Demokratie-Klausel des MERCOSUR auf Venezuela anzuwenden. Ich denke, das ist gerechtfertigt, angesichts der Verfolgung von Oppositionellen und der Angriffe auf die Meinungsfreiheit“, verkündete Macri dieser Tage. Von tiefer gehendem Demokratieverständnis und außenpolitischer Klugheit zeugt das nicht: Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro ist durch freie Wahlen an die Macht gekommen.
Für linke Politikstrategien beinhaltet das argentinische Orakel bei aller Ungewissheit über die weitere Perspektive des Landes aus doppeltem Grund eine bedenkenswerte Botschaft: Ein voluntaristischer Umgang mit global strukturierten wirtschaftlichen Prozessen führt auf Dauer in die Sackgasse und wortstark vorgetragener Linkspopulismus ist kein Politikersatz. Den Umfragewerten zufolge müssten die venezolanischen Parlamentswahlen vom gestrigen 6. Dezember eigentlich gleich den nächsten Beleg für diese Botschaft geliefert haben.
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