14. Jahrgang | Nummer 3 | 7. Februar 2011

Ägypten – Metamorphosen der Macht

von Peter Petras

Wohin schwanken die Gestalten der Politik und der Meinungsmedien im Westen? Kaum waren die Bilder von den Massendemonstrationen auf den Straßen von Kairo, Suez und Alexandria durch die Medien, schrieben die Zeitungen in Deutschland von FAZ bis taz: „Revolution“. Flugs wurde der Präsident Mubarak, der drei Jahrzehnte lang als einer der engsten Verbündeten des Westens in der arabischen Welt galt, als „Diktator“ bezeichnet, der zurücktreten solle, wie es die Demonstranten dortzulande fordern. Dann hat Mubarak erklärt, er werde im September, zu den nächsten Präsidentenwahlen nicht wieder kandidieren, jetzt jedoch nicht abtreten. Auch wurde mitgeteilt, sein Sohn werde ebenfalls nicht antreten – die „dynastische Lösung“ war bisher als die beabsichtigte angesehen worden.
Der Westen begrüßte das, US-Präsident Obama habe im persönlichen Telefongespräch mit Mubarak „sofortigen Wandel“ gefordert. Doch Wirkung zeigt das nicht wirklich. Statt von „Revolution“ ist jetzt in den Medien von „blutigen Unruhen“ die Rede, was etwas völlig anderes ist. „Revolution“ ist nach der „friedlichen“ in der DDR und der „samtenen“ in Prag auch im bürgerlichen Schrifttum positiv besetzt. „Blutige Unruhen“ jedoch ist etwas, wo der Pöbel Unruhe stiftet, von denen sich ein ordentlicher Mensch fernhält. Da muss doch eingegriffen werden!
Kanzlerin Merkel erklärte: „Es muss wieder ein Neuanfang gemacht werden.“ Wer ist es? Mubarak, sein Regime, die Armee mit Unterstützung des Westens, das ägyptische Volk? Und welchen? Wieso wieder? Ägypten hatte einen Neuanfang, als 1952 das „Komitee der freien Offiziere“ den von den Briten dereinst installierten König Faruk stürzte und Gamal Abdel Nasser Präsident Ägyptens wurde. Es wurde der Suez-Kanal verstaatlicht, was der Westen mit dem Suezkrieg Großbritanniens, Frankreichs und Israels gegen Ägypten 1956 beantwortete. Danach näherte sich Ägypten der Sowjetunion an. Es wurden eine Landreform durchgeführt und Industrialisierungsmaßnahmen vorgenommen, darunter der Bau des Assuan-Staudammes, um die gewaltigen Wassermassen des Nils zur Erzeugung von Elektroenergie zu nutzen, und der Eisen- und Stahlwerke von Heluan, um eine eigene schwerindustrielle Grundlage zu haben, beides mit Unterstützung der Sowjetunion. In jenen Jahren stiegen das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung und das Inlandsprodukt Ägyptens sichtlich.
In den Siebzigerjahren steuerte Präsident Sadat um; die Wirtschaftspolitik der „offenen Tür“ brachte kurzzeitig ein Ansteigen der Umsätze in einigen Bereichen der Leichtindustrie und im Dienstleistungsgewerbe, am Ende aber griffen die neoliberalen Umgestaltungen, darunter Privatisierungen, Abbau der Beschäftigtenzahlen, Lohndruck. Die offizielle Arbeitslosigkeit in Ägypten liegt bei zehn Prozent, unter den Jugendlichen deutlich höher. Rund vierzig Prozent der etwa 80 Millionen Ägypter muss von einem Einkommen unter zwei US-Dollar pro Tag leben. Die Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel um mindestens 50 Prozent treffen vor allem die Armen. Vor den 175.000 staatlich subventionierten Bäckereien bilden sich regelmäßig lange Schlangen. Hungeraufstände gehören seit Jahren zum Alltag. Ägypten, einst die Kornkammer der Mittelmeerregion, ist heute der zweitgrößte Getreideimporteur der Welt. Zugleich ist es, spätestens seit dem Friedensvertrag mit Israel von 1979, der wichtigste Verbündete der USA in der arabischen Welt. Ägypten erhält etwa 1,3 Milliarden Dollar US- Militärhilfe im Jahr; hinzu kommen Wirtschaftshilfe in Höhe von 700 Millionen Dollar sowie Vorzugspreise für Weizen. Die Europäische Union fördert das Land im Rahmen des „Barcelona-Prozesses“ und der Mittelmeerunion.
Derweil orakelte Der Spiegel, das Land „scheint wie von einem Alp befreit, doch der Westen droht einen verlässlichen Bündnispartner zu verlieren – und Israel einen seiner wenigen arabischen Freunde“. Wenn das entscheidend ist, sind Demokratie und Menschenrechte nicht so wichtig, zumindest nicht die tragenden Ideen der westlichen Außenpolitik. Einmal mehr zeigt sich, dass die Menschenrechtskarte dann gezogen wird, wenn es um Länder geht, die nicht zu den „Verbündeten“ zählen – gegen China, Iran, Belarus. Die globale Machtprojektion fragt nicht nach Menschenrechten und Demokratie, sondern nach „Verbündeten“, die so funktionieren, wie sie sollen. So also der Wandel in der Wortwahl von „Revolution“ zu „blutigen Unruhen“. Blutige Unruhen müssen rasch beendet werden, und wenn es sein muss, durch die Armee. So hat Obama zwar mit Mubarak telefoniert, eine nachdrückliche Solidarisierung mit den Menschen, die auf den Straßen für Demokratie und Menschenrechte kämpfen, ist nicht erfolgt. Das seit fast zwanzig Jahren anhaltende Gerede, die arabischen Völker seien zur Demokratie nicht fähig – „genetisch“, weil sie „keine Aufklärung“ in ihrer Geschichte gehabt hätten oder wegen der Religion, was die verschiedenen Argumentationsfiguren von rechts bis links auch in Deutschland sind, wird auf den Straßen von Tunis, Kairo oder Sanaa als das entlarvt, was es ist: Geschwätz. Wenn es Solidarität geben muss, dann jetzt.
Derweil hat in Ägypten offensichtlich eine unglaubliche Operation zur Erhaltung der Macht Mubaraks begonnen. Nachdem die reguläre Polizei, ohnehin für ihr brutales Vorgehen gegen Regimegegner und Demonstranten bekannt, die Demonstrationen nicht mehr unterdrücken konnte, wurden die Polizeikräfte plötzlich abgezogen. Dann wurden einzelne Polizisten und Polizeioffiziere ertappt, wie sie sich an Plünderungen und Brandschatzungen beteiligten, dann wurden tausende Kriminelle aus den Gefängnissen entlassen, und so tauchten plötzlich „Unterstützer“ für Mubarak auf, die mit aller Gewalt, mit Knüppeln, beritten auf Kamelen, auf denen sie in die Demonstrationen hineinritten, schließlich mit Gewehren und Maschinengewehren in die Massen schossen, um die Demonstranten auseinander zu treiben. Inzwischen gab es mindestens zwölf Tote und Hunderte Verletzte.
Die „blutigen Unruhen“, von denen die deutschen Medien so wertneutral reden, sind vom Regime angezettelt. So schrieb die slowenische Zeitung Delo am 3. Februar 2011: „Der Angriff auf die Demonstranten war genau organisiert und geschickt durchgeführt. Der Angriff trägt die Handschrift des ersten Mannes des ägyptischen Geheimdienstes, Omar Suleiman, den Präsident Mubarak am Freitag (20. Januar) zum Vizepräsidenten des Landes ernannt hat. Wie sich gestern gezeigt hat, lässt ihm Mubarak freie Hand bei der Abrechnung mit den Gegnern des Regimes.“ Eine Staatsmacht, die ihre Polizei verkleidet, damit sie zusammen mit Verbrechern offensichtliche Verbrechen begeht gegen die Bevölkerung, zu deren Schutz sie eigentlich geschaffen wurde, ist eine Metamorphose der Macht, die neu ist in der Geschichte.
Die Armee, die zwischendurch erklärt hatte, sie werde nicht auf ihre Brüder, Schwestern und Kinder schießen, verhielt sich bei dieser Eskalation neutral, sie hatte die Demonstranten zum Gehen aufgefordert und war dann nicht wirksam eingeschritten – die Demonstranten sind selbst schuld, was demonstrieren sie auch weiter. Die US-Regierung hatte zwischenzeitlich erklärt, es gäbe keinen Grund, die „Militärhilfe“ zu kürzen. Und so ist wohl eine Metamorphose der Macht angezielt, die die Revolution einfängt, um sie im Rahmen der Regimetransformation zu halten, sozusagen das Mubarak-Regime ohne Mubarak. „Aufbruch ins Ungewisse“, hatte Der Spiegel getitelt. Der Westen will seinen Verbündeten mit Gewissheit behalten. Wahrscheinlich ist das der Neuanfang, den die Kanzlerin meinte.