14. Jahrgang | Nummer 3 | 7. Februar 2011

Die Linke und die Nation – Plädoyer für eine Annäherung

von Detlef Clemens

Warum eigentlich sieht man Jürgen Trittin nie mit einem Deutschlandfähnchen wedeln oder Gregor Gysi im WM-Trikot? Warum singen die SPD Delegierten zum Abschluss eines Parteitages „Wenn wir schreiten Seit an Seit“ und nicht die Nationalhymne?
Eigentlich war die Nation ein Projekt der progressiven Kräfte des 19. Jahrhunderts. Die Idee der Nation als eine politische Größe erhielt durch die französische Revolution eine Dynamik, die sich schnell auf dem Kontinent verbreitete. Nation hieß vor allem anderen den Blick zu schärfen für das Verbindende, Gemeinsame im Gegensatz zu Kleinstaaterei und Fremdherrschaft, aber auch gegen feudale und ständische Partikularinteressen. Die Mächtigen des Kontinents schauderten. Nation? Gesellschaftsvertrag? Republik? Unveräußerliche Menschenrechte? Wenn das Nation sein soll, dann ohne uns! Das ist doch bloß List und Tücke, der Aristokratie Privilegien zu nehmen. „Wir wollen unseren alten Kaiser Ludwig wieder haben“ riefen sie gemeinsam in der Erklärung von Pillnitz 1791 nichts Gutes ahnend.
Deutschland war jedoch noch kein Staat, sondern ein aus 36 souveränen Einzelstaaten bestehender Staatenbund. 36 Nationen gab es dagegen nicht – Nation verstanden als eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Herkunft, Sprache, Sitten und Bräuche. Deutschland wurde, so Helmuth Plessner, durch das „versäumte 17. Jahrhundert“, die fehlende Aufklärungstradition, die späte Nationalstaatbildung eine „verspätete Nation“. Frankreich, Spanien, Großbritannien und die Niederlande hatten sich durch jahrhundertlange politische Tradition und innerstaatliche Revolutionen bereits im 18. Jahrhundert als Nationalstaaten herausgebildet. Hierzulande fehlte ein solcher Mythos. Die Rechte begann eine breit angelegte Suche nach einem deutschen Mythos. 1842 ließ Kronprinz Ludwig I. bei Regensburg die Walhalla errichten und beschwor: „Möchte Walhalla förderlich seyn der Erstarkung und der Vermehrung teutschen Sinnes! Möchten alle Teutschen, welchen Stammes sie auch seyen, immer fühlen, daß sie gemeinsames Vaterland haben. Und jeder trage bei, soviel er vermag, zu dessen Verherrlichung!“
Die Arminiusverehrung erfuhr ihren Höhepunkt – die an Arminius als historische Person angelehnte Gestalt Hermann der Cherusker wurde zur Mythen- und Symbolfigur in Deutschland. Als in Detmold 1841 der Grundstein zum Hermannsdenkmal gelegt wurde, erlebte das deutsche Nationalbewusstsein, das von der Abgrenzung gegen andere Nationen lebte, einen Höhepunkt. Frankreichhass wurde in die Inschrift eingemeißelt: „An Arminius / Über den Rhein hast Du einst Roms Legionen getrieben, / Und Germanien dankt dir, dass es heute noch ist. / Schwinge auch ferner dein Schwert, wenn Frankreichs plündernde Horden / Gierig lechzend des Rheins heimische Gauen bedrohn.“ Dreißig Jahre nach Napoleon war der Franzosenhass allgemeiner Konsens. Nicht nur Heinrich Heine mahnte, dass Hass auf den Nachbarn nicht die Grundlage der Nation sein könne.
Folgende Merkmale charakterisierten 1848 das Linke: Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit. Dann kam etwas dazu, was die Linke fortan von den bürgerlichen Kräften unterscheiden würde: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch.“ Zu der Zeit, da das Bürgertum alles daran setzte, den Nationalstaat zu gründen, sah Marx ein Gespenst durch Europa wandeln, das von Grenzen und Nationen nichts wissen wollte: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.“ Die deutsche Linke – viele ihrer Repräsentanten befanden sich imExil – war damit schon international orientiert ehe der Nationalstaat überhaupt gegründet war. Marx, ein Rabbinerspross – nicht auf der Suche nach einer Nation sondern nach einem Volk, seinem Volk – befand, dass die Lebensbedingungen des Proletariats „allen nationalen Charakter abgestreift“ hätten. Die ganze Gesellschaft – unabhängig von Nationen – spalte sich in zwei einander gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat. Kommunisten verschiedener Nationalitäten versammelten sich im Februar 1848 in London und entwarfen das Kommunistische Manifest. Bloß der Form nach sei der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. „Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.“
Marx hatte sein Volk gefunden und die Nation wurde eine sekundäre Größe. Die Linke kämpfte um Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit gegen antiparlamentarisch und antidemokratisch gesinnte Führungsschichten. Nation hatte für die Rechte nichts mit Demokratie und Parlamentarismus zu tun – zumindest nicht in Deutschland. Nation war … na was? Das wusste man nicht so genau. Wo sollte man anfangen, wenn es nicht mal ein Oben gab? Frankreich war Nation, hatte einen Kaiser mit dem klangvollen Namen Napoleon. Großbritannien war Nation mit einer Königin und wurde in der Viktorianischen Epoche zur Weltmacht. Deutschland hatte nichts. Preußen? Da war Friedrich Wilhelm III, der von Friedrich Engels als „einer der größten Holzköpfe, die je einen Thron geziert“ bezeichnet wurde. Und in Bayern ließ sich erst Ludwig I. von der Skandalnudel Lola Montez den Kopf verdrehen und dessen Nachnachfolger Ludwig II. war erst Romantiker, dann Exzentriker und Alkoholiker, drehte schließlich völlig durch, wurde entmündigt und ertränkte sich im Starnberger See – eine Figur wie Rudolph Moshammer, jedenfalls niemand, an dem sich Konservative aufrichten konnten. Trübsal und Tristesse!
Zunächst stocherte man im Nebel ehe man – das Bildungsbürgertum vorneweg – den Blick auf die blühende Kultur richtete. Kultur erstrahlte an Höfen der Königreiche, Großherzog- und Herzogtümer, Fürstentümer und in den Städten. Sie erhielt neue Funktionen in der höfischen und kirchlichen Repräsentanz. Feiertage wurden mit Opernaufführungen zelebriert. Höfische Theaterbauten, Theater innerhalb fürstlicher Residenzen, in Gartenanlagen integrierte Heckentheater, die Elite schuf sich die Elitekultur. Schon Goethe war dem Treiben der Zeit mit der erhabenen, distanzierten Indifferenz eines arrivierten Genies begegnet, dem, ganz Kulturmensch, alles Politische per se verdächtig oder – wie er im Faust sagte – „garstig“ war. Deutschen Unterlegenheitsgefühlen gegenüber den etablierten Nationalstaaten wurde nun mit Verweis auf Goethe, Schiller und Kant begegnet, man sei eben das „Land der Dichter und Denker“. Und Kultur sei ohnedies das geistigere, seelisch tiefergehende Element und wurde der als oberflächlich abgewerteten Zivilisation gegenüber gestellt. Nation war nun in Ermangelung eines politischen Kristallisationspunktes wenigstens kultureller Pomp und Pathos. Was blieb der Rechten anderes als die Einweihung von Denkmälern für Dürer, Goethe, Schiller oder Bach, bei denen sich die bürgerlichen Schichten als nationale Gesellschaft darstellen konnten? Nation war Wagners Opernzyklus „Der Ring der Nibelungen“, der ab 1851 entstand. Nation war Hoffmann von Fallerslebens 1841 verfasstes Lied der Deutschen mit „Deutschland, Deutschland über alles … Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“. Vor allem war Nation jedoch die Sehnsucht nach dem Kaiser. Und die Ersatzdroge Kultur half im aufkommenden Zeitalter des Nationalismus nicht lange.
Die Rechte besaß die Meinungsführerschaft und Deutungshoheit über das was Nation sein sollte und sicherte sich die Urheberschutzrechte. Die Linke – und erst recht das Volk – hatten zum einen andere als Identitätsprobleme und die Frage, wem man Denkmäler errichten sollte, zum anderen folgten sie der Formel des Kommunistischen Manifests, der zu Folge „die Arbeiter kein Vaterland“ haben. Die Linke ließ sich vom Phänomen Nation abdrängen und es wurde ein Spezifikum der deutschen Linken, dass die Nation zweitrangig erschien. Ohne es tatsächlich zu sein – Ferdinand Lassalle, August Bebel, Paul Singer oder Friedrich Ebert waren zutiefst überzeugte Patrioten. Der Sieg der Reaktion verstärkte den spezifisch deutschen Dualismus zwischen den Ideen von Nation und Demokratie, der deutsches politisches Wahrnehmen und Denken bis heute prägt. Anders als in Frankreich, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern, in denen Nation und Demokratie nach erfolgreichen Revolutionen früh zusammenwuchsen und als Einheit gesehen werden und ein Bekenntnis zur Nation in der Regel auch ein Bekenntnis zur Demokratie mit einschließt, ist in Deutschland das Verhältnis Nation – Demokratie bis heute ein „eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne“, charakterisiert Hans-Ulrich Wehler.
Und es kam noch schlimmer: Durch den nun folgenden Wechsel vom kulturellen zum politischen Nationalbewusstsein – von Goethe und Schiller zu Wilhelm und Bismarck – verkörperte die Rechte die Nation. Bis heute wird deswegen der Nation auf der linken Seite mit Zurückhaltung und Skepsis begegnet und die Rechte neigt zur bedingungslosen Apotheose. Bismarck verfolgte erfolgreich die Lösung der „nationalen Frage“. Und schon bei der Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 versprach Wilhelm I. „Güter und Gaben des Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung“. Es war freilich politisches Kalkül, eine zaghafte Sozialgesetzgebung einzuführen, die dennoch vorbildhaft für ganz Europa war. „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“ Staatsbildung und die soziale Absicherung der Menschen vollzogen sich fast zeitgleich. Das verschaffte dem Staat eine ungeheure Legitimation, beförderte die Staatsgläubigkeit, was 1933 in die Katastrophe führte. Die Rechte hatte leichtes Spiel, Marx das Volk auszuspannen. Die Linke blieb sich mit dem antimonarchistischen Selbstverständnis treu – und allein.
Die Rechte war am Ziel ihrer Träume und tat, was sie immer tat: sie baute Denkmäler und weihte sie ein. Mehr als 1.000 von Wilhelm I., unzählige für Bismarck plus 240 Bismarcktürme wurden bis zur Weimarer Republik errichtet. Und sogleich suchte sie eine Verbindung von Friedrich I. Barbarossa zu Kaiser Wilhelm I. und damit vom Kaiserreich zum mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – wenn schon denn schon! Am Kyffhäuserdenkmal in Thüringen 81 Meter hoch anschaulich dargestellt.
Und wo stand die Linke? Sie war da, nicht heroisch triumphierend, obwohl sie allen Grund gehabt hätte: Am Ende des Jahrhunderts gab es vieles, wofür die Linke stand: Demokratie, geschriebene Verfassungen, liberale Grundrechte und soziale Absicherung. Nicht vergleichbar mit heute, doch es war schon ziemlich viel, wenn man bedenkt, dass den Mächtigen das alles abgetrotzt werden musste, dass der ersten Republik auf deutschem Boden, in Mainz, schnell die Luft abgedreht worden war, dass der französische Geist einer liberalen Republik verweht und die deutsche Revolution gescheitert war, dass die Rechte mit der Installierung der Hohenzollernmonarchie einen Triumph feierte und dass die Linke in diesem Jahrhundert nie Macht im Sinne einer Verantwortung im Amt hatte. Freilich war das alles viel zu zart, schwach und kaum verwurzelt.
Lange begnügte sich die Rechte nicht mit dem Bauen und Einweihen von Denkmälern. Kolonialismus, Imperialismus und Krieg. Das Deutsche Reich mischte kräftig mit und durfte anschließend wieder Denkmäler bauen– nun zu Ehren der gefallenen Soldaten: Tapferkeit, Vaterlandsliebe, Treue, Opferbereitschaft, Kameradschaft und Pflichterfüllung bis in den Tod. Tugenden, die Linke, die die Signale der Völker hörte, scheinbar nicht auszeichneten. Und schon konnte man sie wieder in die Ecke stellen und mit Fingern auf sie zeigen. Vaterlandslose Gesellen!
Wir haben gesehen, dass es in der spezifisch deutschen Wahrnehmung von Politik zunächst ein Spannungsverhältnis zwischen Nation und Demokratie gab. Mit dem Entstehen der politischen Lager absorbierten die Lager diese Spannungen und gaben ihnen einen lokalisierbaren politischen Ort. Die Rechte stand für die Nation, die Linke nicht. Die Deutungshoheit über das Nationale und ihre Verkörperung hat die Rechte nie aus der Hand gegeben. Schlimmer noch: Das Nationale wurde zu einem Thema, an dem die Linke nicht vorbei gelassen wurde. Es wurde von der Rechten zu einem Geßlerhut aufgebaut, den jeder Linke zu grüßen hatte, wollte er sich nicht im diffusen Licht des unsicheren Kantonisten wieder finden. Fünfte Kolonne Moskaus, unsichere Kantonisten, Vaterlandsverräter – zimperlich war die Rechte nie, wenn sie drauf hauen konnte.
Die kritische Wahrnehmung von Nation und Nationalem hat im politischen Tagesgeschehen Fehlentwicklungen begünstigt. Der Nationalsozialismus hatte das Nationale schließlich vollkommen desavouiert. Die Linke verlor nun ihr erhaben–distanziertes Verhältnis und sah in allem Nationalen den Anfang vom Nationalismus, der in Deutschland pathologische Dimension erreicht hatte. Für Linke – ohnedies Kosmopoliten, wenn nicht politische dann wenigstens kulturelle – war der Deutsche der ängstliche, fremdenfeindliche Michel, der vor jeder Form des Andersseins im Sauerkraut des Nationalen Zuflucht sucht. Als Pendants dieser Gesellschaft wurden die unangepassten Migranten eine Projektionsfläche der eigenen Dissidenz. Man hielt das für avantgardistisch und der Mainstream war liberal und folgte. Das traumatisierte Verhältnis zur Nation erschwerte die Integration der Migranten, denn wie sollte man diese zur Teilnahme in ihrer neuen Umgebung bewegen, wenn sich wesentliche Teile der Gesellschaft ihrerseits gegen jede Identitätsbildung sträubten. Migranten wurden aus jeder Verantwortung sich zu integrieren entlassen. Warnende Zwischenrufe wurden als „rechts“ oder gleich als „rassistisch“ abgetan und die Bürgerlichen schürten bereitwillig mit widerlichem Rechtspopulismus, Unterschriftenaktionen und „Kinder statt Inder“-Slogans Ressentiments. In ihrer Entwicklung nicht zielgerichtet, sondern dem Spiel der „spontanen Ordnungen“ und dem Prozess von „Versuch und Irrtum“ überlassen, waren Linke die wirklichen Liberalen mit den gleichen Fehlentwicklungen, die uns in der Ökonomie so geläufig waren. Die Art und Weise, wie mit den Migranten umgegangen wurde, ist niemandem gerecht geworden. Parallelgesellschaften mit einer desintegrierten, desorientierten, desillusionierten und teilweise verwahrlosten Jugend, die ziellos zwischen den Kulturen herumirrt, ahnungslos wohin sie gehört, sind entstanden.
Wen wundert’s, dass die Linke Probleme hat, das nationale Interesse zu definieren? „Angehörige der herrschenden Klasse werden … von nationalem Interesse reden, und Angehörige der beherrschten Klasse nur dann, wenn ihnen ihre Lage nicht bewusst ist“, schreibt Thomas I. Steinberg. Solche Sichtweisen finden sich zu Hauf in der linken Szene. Mal vulgärmarxistisch mal visionär, aber stets negativ. „Mit Kleinkrämerei und dem Beharren auf nationalen Interessen wird das historische Projekt der Osterweiterung bewusst gefährdet“, so André Brie zu Schwierigkeiten im Prozess der Osterweiterung der EU im November 2002. Als Kosmopoliten schwebten Linke stets in höheren Sphären. Gerne hat man dem nationalen Interesse den wärmenden Purpurmantel des europäischen Interesses umgehängt. Pluralis Majestatis – mehr nicht! Aber wahrhaben wollte man das nicht.
Gibt es eine linke Außenpolitik? Linke haben ihre politischen Vorstellungen in erster Linie in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen entwickelt. Wirtschaftsbeziehungen sind Machtstrukturen, der Besitz der Produktionsfaktoren schuf die Klassengesellschaft – auch inter nationes. Außen- und Sicherheitspolitik bedeuteten vielen lange Zeit nichts anderes als die Zementierung der Machtstrukturen. Außenpolitik unter der Prämisse einer problematischen Definition des nationalen Interesses bedeutet für die Linke immer ein Segeln zwischen Scylla und Charybdis – weniger für die Regierung als für die sie tragenden Parteien. Das haben Helmut Schmidt und Joschka Fischer schmerzhaft erfahren. Linke Außenpolitik hatte einen moralischen Impetus, Neigungen und Gefühle und die vagabundierten. Bis Juni 1967 waren Linke des Westens leidenschaftliche Anhänger Israels, danach waren sie ebenso leidenschaftliche Anhänger der Palästinenser. Im Juni 1967 waren sie gegen den Schah, für Onkel Ho Chi Minh haben sie sich zerrissen, sie bauten Schulen in Nicaragua und später boykottierten sie südafrikanische Äpfel. Staat ließ sich damit nicht machen. Die Parteilinke murrte und vermisste die Linie. Willy Brandt mahnte 1973: „Unsere Politik nach außen wird keine neue Weltmoral begründen können … Die SPD ist keine sozialistische Heilsarmee.“ Helmut Schmidt sprach 1986 vor dem Bundestag von der „moralischen Absicht“, die seinem politischen Pragmatismus zugrunde gelegen habe. Das politische Ziel müsse moralisch begründet sei, der Weg zu diesem Ziel jedoch müsse realistisch sein und dürfe nicht illusionär sein.
Linke haben statt dessen immer affirmative Haltungen zu Fragen der Zusammenarbeit mit anderen Staaten und Organisationen eingenommen, sei es in Europa, im Rahmen der UNO, sei es zur Entwicklungspolitik, zur so genannten Neuen Weltwirtschaftsordnung, sei es zur internationalen Gerichtsbarkeit oder zu internationalen Vertragswerken. Internationalismus ist eine Konstante linken politischen Denkens, die Linke war immer internationalistisch, die Linke ist internationalistisch und sie wird immer internationalistisch sein. Konservative und Liberale haben –den Internationalisierungstendenzen der Ökonomie sich fügend – von der Linken das Internationalismus-Projekt übernommen und die Linke so neutralisiert. Ist Europa noch ein Projekt der Linken? Europapolitische Konzeptionslosigkeit hat sich breit gemacht. Bedenken werden laut. Lafontaine sprach von Fremdarbeitern, Schröder kokettierte mit dem Ablehnen des Euro, das Demokratiedefizit wird beklagt und hinter der Synchronisierung der Wirtschaftspolitik sieht die PDS das Ziel der Bundesrepublik, Sozialabbau, Reprivatisierung und die Verschlankung des Staates zu betreiben. Sei es kurzfristige Taktik oder längerfristige Strategie, Kritik am Integrationsprozess wird – anders als bei Konservativen, in deren Perzeptionszentrum zunächst Nation und Staat als solche stehen – immer innere Spannung erzeugen und legitimationsbedürftig sein. Alles Kokettieren mit Gegnern europäischer Integration, Kritikern transnationaler Organisationen oder internationaler Vereinbarungen ist à priori zum Scheitern verurteilt, weil es nicht authentisch ist.
Linke waren stets die treuesten Verfechter der Neuen Weltwirtschaftsordnung, der NWWO. Die Forderungen der armen Länder nach Entwicklungshilfe, nach verbessertem Marktzugang durch Abbau von Zolltarifen, nach Erhöhung des Anteils an der Weltindustrieproduktion, nach Mitsprache im internationalen Währungssystem und Beachtung ihrer Interessen, nach Schaffung von stabilen und gerechten Preisen für Rohstoffe, nach Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, nach Förderung des technischen Standards – alle diese Forderungen waren auch linke Forderungen.
Nun ist sie da, die Globalisierung, wenn auch nur mit unbefriedigenden, unzureichenden sozialen Flankierungen. Welche Positionen hat die Linke zu diesen Phänomenen erarbeitet? Heute herrscht die große Verunsicherung. Sind wir Goethes Zauberlehrlinge, die die Geister, die wir gerufen haben, nicht mehr beherrschen? Halten wir den gewaltigen Kapitaltransfer in die armen Länder immer noch für wünschbar (wissend um die Kapitalströme, die diese Länder gen Norden wieder verlassen)? Im Gegenteil: die Linke befürchtet einen weltweiten Verfall der Löhne und einen Abriss der Sozialstaaten bis auf die Grundfesten. Es wird überlegt, wie „sich die arbeitende Klasse als internationale Klasse formieren“ lasse, damit nicht länger „das internationale Kapital die Weltherrschaft ausübt“. „Gemeinsame Aktion von Gewerkschaften gegen Globalisierung“ schlägt Verdi vor, im Ergebnis müsse eine gewerkschaftliche Position stehen, die gemeinsame, allgemeine Interessen der abhängig Arbeitenden und der Bevölkerungsmehrheiten in allen Teilen der Erde nach vorne stellt und die Konkurrenz der verschiedenen Gruppen und Standorte überwindet. Das klingt vertraut, „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“. Die IG Metall meint dagegen, auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Gewerkschaften zu setzen, sei eher eine langfristige Aufgabe, weil jede Gewerkschaft ein Interesse am Erhalt von Arbeitsplätzen im eigenen Land habe. Sie zieht Streiks gegen Offshoring in Erwägung und sagt, nur durch die gemeinsame Gegenwehr, durch die Entwicklung von Gegenmacht, könne diese Spirale aufgehalten werden. Dabei müsse man sich auf eine dauerhafte Gegenwehr gegen die Kapitaloffensive einstellen.
Die Nation ist und bleibt die zentrale Bezugsgröße des Volkes. Sie ist weder antiquiert noch eo ipso gefährlich. Das gilt auch 160 Jahre nach Marx und 50 Jahre nach den Römischen Verträgen. Die Linke hat allen Grund, die Nation unverkrampft anzunehmen.