von Wolfgang Brauer
1886 erregte ein Bild eines jungen Malers auf dem 5. Osloer Herbstsalon einen fürchterlichen Skandal. Es handelte sich um „Das kranke Kind“ (entstanden 1885/86; heute Nationalgalerie Oslo) des 23-jährigen Edvard Munch. Dargestellt ist ein junges, offenbar todkrankes Mädchen, das gegen ein großes weißes Kissen gelehnt in einem Sessel sitzt. Neben ihr gesenkten Kopfes eine ältere Frau – die Mutter? –, die ihr die linke Hand hält. Der fiebrige Blick des bleichen Kindes, die Gesichtsfarbe hebt sich nur wenig vom schier erdrückenden Kissen ab und steht in scharfem Kontrast zum kastanienfarbenen Haar, scheint sich im Leeren zu verlieren, ist schon nicht mehr von dieser Welt. Die Körperhaltung der Mutter scheint weniger tröstend, es ist eine Trauerhaltung. Wir sehen nicht ihr Gesicht. Resignation und Verzweiflung sind dennoch spürbar. In Munchs Bild sind die Linien fast aufgelöst, er arbeitet stark flächig. Die Farbgebung wirkt mit Ausnahme von Kopf und Händen der beiden Figuren fast monochrom. „Narretei“ und „roh ausgeführt“ waren noch die harmlosesten Vorwürfe an die Adresse des Malers. Dessen Bild musste wie eine Kampfansage an den in der norwegischen Malerei zu jener Zeit vorherrschenden Naturalismus wirken – Christian Krohg, Lehrer und zeitweise selbstloser Mentor Munchs malte 1880/81 ein „Krankes Kind“ (Nationalgalerie Oslo) mit fast fotografischer Genauigkeit.
Munch sollte dieses Sujet nie loslassen. Sowohl in der Malerei als auch in seinem überbordenden grafischen Werk griff er es immer wieder auf, stets zu neuen Lösungen gelangend. Allein vom genannten Bild entstanden bis 1925 fünf sehr verschiedene Fassungen. Die 1896 gemalte zweite Fassung, heute im Kunstmuseum Göteborg, treibt die „Narretei“ fast bis an die Grenzen expressiver Stilmittel. Nie verlassen sollte ihn auch die 1886 erlebte Art vernichtender Kritik, die eher zum Lehmklumpen denn zum intellektuellen Diskurs neigte. Höhepunkt dieser Kampagnen sollte 1937 die Einbeziehung des Werkes dieses nordischsten aller nordischen Künstler in die Nazi-Aktionen gegen die „entartete Kunst“ in Deutschland werden.
Es waren biographische Gründe, die Edvard Munch zu diesem Motivkreis geradezu zwanghaft führten: „In meinem Elternhaus hausten Krankheit und Tod. Ich habe wohl nie das Unglück von dort überwunden. Es ist auch für meine Kunst bestimmend gewesen.“ 1868 starb die Mutter an Lungentuberkulose, 1877 die älteste Schwester Sophie an derselben Krankheit. Mutterersatz wird die Tante Karen Bjølstad, sie starb 1931 und kümmerte sich zeitlebens aufopferungsvoll um die Familie.
Munch selbst hielt diese und auch die engsten Freunde meist auf Abstand. Es gelang ihm nie, länger anhaltende Beziehungen zu Frauen aufrecht zu erhalten. Auch der großen und auf verzehrende Art intensiven Beziehung zur jungen Tulla Larsen, die er 1898 traf, war keine Dauer beschieden. Die Trennung von Tulla im Jahre 1902 verlief unter dramatischen Umständen und unter nie richtig klar gewordener Einbeziehung eines Revolvers. Die Spätfolgen für die Munchsche Psyche – und die Wirkungen auf das Werk – waren allerdings enorm. „Der Tanz des Lebens“ (1899/1900; Nationalgalerie Oslo), entstanden auf dem Höhepunkt der krisenhafte Beziehung zu Tulla, ist in dieser Hinsicht ein Schlüsselwerk: „Ich erwähnte, dass meine Werke ein Erlebnis brauchen – innere Spannung“, kommentierte der Maler selbst die häufig bis an die Grenzen jeglicher Loyalität gehende Einbeziehung ihm nahestehender Menschen in seine hochdramatischen, Tabus konsequent ignorierenden Bildfindungen. Und an den „inneren Spannungen“ drohte er im Verlaufe seines Lebens oft zu zerbrechen.
Der norwegische Schriftsteller Atle Næss deckte diese biographischen Tiefenschichten des Werkes Edvard Munchs in einer bereits 2004 im Osloer Gyldenal Norsk Forlag erschienenen Biographie auf. Næss stützte sich in seinem jetzt in deutscher Übersetzung – Daniela Stilzebach leistete eine grundsolide Übersetzerarbeit – vorliegenden Buch auf umfangreiches Quellenmaterial, wie die Briefe der Familie und der Freundinnen und Freunde Munchs. Entstanden ist so der Roman eines Lebens, der weniger fachkundigen Lesern einen unkonventionellen Zugang zum Werk dieses großen Symbolisten vermittelt, den Kundigen aber auch Anregungen zur Überprüfung vertrauter Interpretationsmuster liefert.
Ein wenig bedauerlich ist es allerdings, dass der Autor die Möglichkeit verschenkt hat, etwas tiefschürfender den Hintergründen der enormen Tiefenwirkung Munchs in der deutschen Kulturlandschaft nachzuspüren. In Deutschland, er stellt das ausführlich dar, gelang Edvard Munch der Durchbruch. Die „deutschen Erfolge“ waren entscheidend für seine Anerkennung in Norwegen. Geradlinig vollzog sich dies aber weder in Berlin und schon gar nicht in Dresden. Die Ablehnung Munchs durch den Liebermann-Clan ist leicht nachvollziehbar. Emil Nolde bekam diese seinerzeit auch schmerzhaft zu spüren. Aber die Nachhaltigkeit, mit der sowohl die Naturalisten im Umfeld Gerhart Hauptmanns als auch eine Generation später die Maler der „Brücke“ sich mit Munch auseinandersetzten, wirft viele Fragen auf. Die Sogwirkungen Griegs, Ibsens und Strindbergs spielen sicher eine Rolle. Die produktive Aufnahme des Werkes Paul Gauguins und Vincent van Goghs durch Edvard Munch und damit seine Mittlerrolle für diese Einflüsse auch auf die deutschen Kollegen, Atle Næss erwähnt dies durchaus, ist dabei auch nicht zu unterschätzen.
Diese kleinen Einwände schmälern jedoch mitnichten den Gewinn, den auch der Rezensent aus der Lektüre dieser großartigen Munch-Biographie zog.
Atle Næss: Edvard Munch. Eine Biographie, Berlin University Press, Wiesbaden 2015, 668 Seiten, 38,00 Euro.
Schlagwörter: Atle Næss, Deutschland, Edvard Munch, Expressionismus, Naturalismus, Norwegen, Wolfgang Brauer