von Wolfgang Schwarz
Wenn vor dem Hintergrund der aktuellen Zuspitzungen im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland die Frage nach den Perspektiven gesamteuropäischer Sicherheit aufgeworfen wird, dann kommt man nicht umhin, zwei grundlegende Prämissen in Rechnung zu stellen:
Erstens: Stabiler Frieden in Europa ist nicht ohne, schon gar nicht gegen, sondern nur mit Russland zu erreichen, also nicht ausgrenzend oder gar konfrontativ, sondern nur kooperativ.
Zweitens: Sicherheit zwischen gegnerischen Nuklearmächten, die über Trägersysteme entsprechender Reichweite verfügen, ist nur als gemeinsame und gleiche, das heißt, als kooperativ vereinbarte und kooperativ implementierte Sicherheit möglich. Gegenseitige Abschreckung und ein dem Kalten Krieg vergleichbares Verhältnis schaffen demgegenüber lediglich gemeinsame Unsicherheit – behaftet mit dem Risiko eines Versagens der Abschreckung, also mit der Gefahr möglicher nuklearer Vernichtung und Selbstvernichtung.
Dazu eine Nebenbemerkung: Die letztgenannten Zusammenhänge schienen am Ende des Kalten Krieges schon einmal ausdiskutiert zu sein – und zwar im Konsens zwischen Ost und West. Schon damals war die Erkenntnis, dass ein thermonuklearer Krieg keinen Sieger sehen würde, im Übrigen nicht neu. Egon Bahr zum Beispiel war sich darüber, wie er in seiner Rede vom 9. Juli dieses Jahres anlässlich des 60. Jahrestages des Russel-Einstein-Manifestes resümierte, im Vorfeld der Arbeit der Internationalen Palme-Kommission Anfang der 1980er Jahre klar geworden und hatte daraus das alternative Prinzip der gemeinsamen Sicherheit abgeleitet. Angesichts der gegenwärtigen, teils bizarr-gestrigen sicherheitspolitischen Debatten – bis hin zu (wieder einmal) nuklearen Counterforce-Szenarios in den USA, aber auch bis hin zu atomarem Säbelrasseln und Einsatzüberlegungen für taktische Kernwaffen im Kontext möglicher konventioneller Auseinandersetzungen mit der NATO auf russischer Seite – ist es hohe Zeit, an diese und andere „alte Weisheiten“ nachdrücklich zu erinnern.
Doch zurück zu den zuvor genannten Prämissen; über die kann man diskutieren, auch kontrovers; ernsthaft zu bestreiten sind sie meines Erachtens nicht.
Für die gesamteuropäische Sicherheit, insbesondere für deren zentrale Achse, das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland, ergibt sich daraus die zwingende Schlussfolgerung, dass Krieg nachhaltig ausgeschlossen werden muss. Vergleichbares ist auf einem Teil unseres Kontinent bereits einmal gelungen – in Westeuropa nach 1950 durch die westeuropäische Integration, insbesondere durch die Überwindung der „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich, letztlich, um den damaligen Weg und das seinerzeitige Modell auf einen heutigen Begriff zu bringen: durch Sicherheitspartnerschaft.
Die stellt sich aber leider auch heute nicht von selbst ein, wie die Periode verpasster Chancen oder besser: vorsätzlich ignorierter Gelegenheiten im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland seit 1990 gerade gezeigt hat. Die jetzige erneute Zuspitzung dieses Verhältnisses hat eine Reihe von Ursachen, deren maßgeblichste jedoch darin liegt, dass die politischen Kräfte im Westen seit Ende des Kalten Krieges mehrheitlich der Erweiterung der eigenen Einflusssphäre den Vorzug durch die diversen EU- und NATO-Osterweiterungen gegenüber der Entwicklung einer neuen Sicherheitsarchitektur zusammen mit Russland gegeben haben.
Sicherheitspartnerschaft muss aktiv gestiftet, gestaltet und gelebt werden, und sie kann es – siehe Westeuropa –, wenn zuvor verfeindete Staaten sich auf relevanten Gebieten (politisch, wirtschaftlich, im Bereich der Zivilgesellschaften) zielgerichtet vertraglich miteinander verbinden und schließlich sicherheitspolitisch miteinander verbünden.
Mit Blick auf Russland muss das Fahrrad dabei nicht neu erfunden werden. Nutzbare institutionelle Rahmen sind vorhanden, und es liegen überdies konzeptionelle Ansätze und Ideen für mögliche Wege zum Ziel sowie für dessen sicherheitspolitische Strukturierung vor; auf die drei meines Erachtens substanziellsten will ich kurz verweisen:
Sicherheitspartnerschaft mit Russland könnte zum einen im Rahmen einer politisch aufgewerteten, mit mehr Kompetenzen ausgestatteten und mit substanzielleren Aufgaben betrauten OSZE realisiert werden, weil in diesen Kontext alle relevanten Akteure bereits eingebunden sind und ein organisatorisches Konstrukt vorhanden ist.
Sicherheitspartnerschaft mit Russland wäre andererseits auch durch ein System kollektiver Sicherheit im Raum von Wladiwostok bis Vancouver – nicht über die kurze, sondern über die lange Distanz – möglich, durch eine einheitliche Sicherheitsarchitektur, die neben den Staaten auch allen in diesem Bereich bereits vorhandenen internationalen Organisationen offenstände. Solches hatte Russland 2008 vorgeschlagen und damals durch einen entsprechenden Vertragsentwurf substantiiert.
Und dann ist da, drittens, noch die vor etlichen Jahren auch in Deutschland zur Debatte gestellte unorthodoxe Idee einer Öffnung der NATO für eine Mitgliedschaft Russlands. Dieser Idee stand selbst Präsident Putin zu Beginn seiner ersten Amtszeit aufgeschlossen gegenüber. Die Idee als solche mag für linkes Denken blasphemisch klingen oder wie der Versuch, Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Nichtsdestotrotz ließe sich auch so Sicherheitspartnerschaft herstellen: Die Staaten der NATO haben in den über 60 Jahren der Existenz des Paktes keine Kriege gegeneinander geführt – das war ein fundamentaler Bruch in ihren wechselseitigen Beziehungen im Vergleich zu den Jahrhunderten zuvor.
Die Aussichten allerdings, in nächster Zeit auch nur etwas im Sinne der hier angerissenen Ideen zu versuchen, Vorhandenes (wie etwa den NATO-Russland-Rat) zu reaktivieren und substanziell anzureichern oder zunächst auch nur den konfrontativen Drive im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland zu stoppen, stehen derzeit sehr schlecht – vor allem, weil auf westlicher Seite bei den Eliten und Entscheidungsträgern im Umgang mit Russland derzeit nahezu durchgängig die notwenige Empathie fehlt. In den USA geben die neokonservativen Falken den Ton an, und in der NATO bestimmen und forcieren vor allem die baltischen Staaten, Polen und Großbritannien den antirussischen Kurs in einem Maße, wie es kaum vorstellbar wäre, wenn sie aus Washington dafür nicht Rückendeckung hätten. Deutschland zieht einerseits militärisch mit (Stichworte sind unter anderem NATO-Speerspitze und intensivierte Manövertätigkeit bis hinein in die Westukraine) und ist andererseits politisch bestenfalls ambivalent: verbal zwar weiter pro Dialog mit Moskau, real aber, vor allem in der NATO und in der EU, ohne nachdrückliches Engagement in diese Richtung.
Auf russischer Seite sieht es nicht besser aus. Der überzeugte Sapadnik Putin, als der er sich bei seiner Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001 geoutet hatte, hat sich vom Westen abgewandt und betreibt das gefährliche Spiel wechselseitiger militärischer und anderer Nadelstiche nicht weniger aktiv wie die russlandfeindlichen Kräfte in der NATO. Und ohne Revision der Bukarester NATO-Entscheidung von 2008, die Ukraine und Georgien perspektivisch in den Pakt aufzunehmen, wird der russische Präsident kaum wieder zu einem konstruktiven Partner werden – weder zur Beilegung des Ukraine-Konflikts noch gar für die Einleitung einer neuen Entspannungspolitik zwischen West und Ost.
„Inzwischen“, so brachte Alexander Rahr, Projektleiter beim Deutsch-Russischen Forum, die Lage in einem Gastkommentar für die Neue Zürcher Zeitung, der passenderweise am Weltfriedenstag erschien, auf den Punkt, „steckt die Diskussion über die künftige Friedensordnung von Europa in einer Sackgasse. Jede Seite beharrt auf ihrem Standpunkt und ist von der eigenen Wahrheit überzeugt.“
Ob sich an dieser verfahrenen Situation mit dem Vorsitz Deutschlands in der OSZE ab kommendem Jahr zumindest punktuell etwas ändert, bleibt abzuwarten.
Langfassung eines Redebeitrages auf dem 19. Außen- und Sicherheitspolitischen Kolloquium der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg „70 Jahre Potsdamer Abkommen, 40 Jahre Schlussakte von Helsinki – Europäische Sicherheit im 21. Jahrhundert“ am 3./4. September 2015 in Potsdam.
Schlagwörter: der Westen, Egon Bahr, NATO, Russland, Sicherheitspartnerschaft, Wladimir Putin, Wolfgang Schwarz