18. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2015

Rechter Hand, linker Hand, beides vertauscht

von Walter Laqueur, Washington, D.C.

Das Zeitalter der Studenten- und Trinklieder ist längst vorbei, doch einige haben eine gewisse Aktualität bewahrt. Um das Jahr 1840 schrieb Heinrich von Mühler, einer von diesen Studenten, das seinerzeit berühmte Lied:

Grad aus dem Wirtshaus komm ich heraus,
Strasse, wie wunderlich siehst du mir aus.
Rechter Hand, linker Hand, beides vertauscht.
Strasse, ich merke wohl, du bist berauscht.

Wie der Zufall es will, besuchte der jugendliche Poet so wie der Schreiber dieser Zeilen eine Schule in Breslau, im Gegensatz zu ihm wurde er später preußischer Kultusminister (wenn auch kein sehr erfolgreicher).
Das „Rechter Hand, linker Hand, beides vertauscht“ klingt vertraut in unseren Tagen. Wie ist es dazu gekommen?
Der Abstand, die Kluft zwischen reich und arm, ist in unserer Zeit immer größer geworden. Am weitesten in den westlichen Ländern ist der Abstand in den Vereinigten Staaten. Um 1970 betrug der Anteil des reichsten ein Prozent der Bevölkerung am Nationaleinkommen etwa zehn Prozent, heute sind es über 20 Prozent. Doch China hat in dieser Hinsicht Amerika überholt; zwar bemüht sich die chinesische Regierung, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, doch bisher ohne großen Erfolg. Am weitesten allerdings ist die Kluft im heutigen Russland; auf 135 der reichsten Russen entfallen 35 Prozent des Nationaleinkommens.
Es handelte sich um eine Entwicklung, die alle Erdteile betroffen hat, auch die skandinavischen Länder, in denen der Abstand zwischen arm und reich in der Neuzeit am wenigsten zu spüren war. Auch dort haben sich die Folgen eingestellt, und die Sozialleistungen sind eingeschränkt worden.
Worauf beruhen diese Angaben? Einerseits auf den Forschungen von Corrado Gini, einem berühmten Statistiker der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts (allerdings war er auch ein bedeutender Faschist), anderseits auf der Arbeit führender Schweizer Banken wie der Credit Suisse.
Über gewisse Einzelheiten mögen sich die Gelehrten heute streiten, doch das Endergebnis ist nur selten in Frage gestellt worden. Zu den wenigen Ausnahmen gehört der berühmte russische Theologe und Philosoph Nikolai Berdjajew, der in einem seiner Werke die These aufstellte, dass ein großer Abstand im Einkommen der Menschen große Vorteile für das Allgemeinwohl habe. Es ist merkwürdig, dass gerade dieses Werk eines bedeutenden Denkers das Wohlwollen Wladimir Putins gefunden hat, der es der Aufmerksamkeit seiner Mitarbeiter empfahl. Da jedoch die Oligarchen Russlands sich keiner großen Beliebtheit erfreuen, ist es zweifelhaft, ob Putins Empfehlung wichtige politische Folgen haben wird.
Die meisten Beobachter sind der Meinung, dass diese soziale Entwicklung von erheblicher Wichtigkeit und auch sehr gefährlich ist, weil es das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit unterminiert, wenn der Abstand zwischen arm und reich eine gewisse Grenze überschreitet. Aber auch wirtschaftlich ist die Entwicklung schädlich, denn sie wirkt, wie die Geschichte gezeigt hat, hemmend auf das Wachstum der Wirtschaft. Die Kaufkraft eines großen Teils der Bevölkerung sinkt, und andere schädliche Erscheinungen stellen sich ein, etwa in Bezug auf die medizinische Versorgung und damit die Gesundheit der Bevölkerung.
Wie ist es zu erklären, dass das Wachstum dieser Kluft bisher keine größeren Folgen gehabt hat, dass es nicht zu Protesten und Gewalt gekommen ist? Im Gegenteil, der politische Einfluss der Linken ist überall in Europa zurückgegangen. Das bezieht sich nicht nur auf die kommunistischen Parteien. Die Nachfolgepartei der KPdSU in Russland unterscheidet sich kaum von den anderen Parteien dieses Landes; mit der Ideologie von gestern, dem Marxismus-Leninismus, hat sie nichts mehr gemeinsam. Aber auch die sozialdemokratischen Parteien haben gelitten – in Frankreich wie Italien und selbst in der Bundesrepublik und den Niederlanden. In England besteht die Gefahr, dass die Labour Party in den kommenden Wahlen dezimiert werden wird; in Schottland, einst einer ihrer Hauptstützpunkte, ist sie von den Separatisten weitgehend ausgeschaltet worden.
Aber auch die konservativen Kräfte haben nicht wesentlich von dieser Entwicklung profitiert. Wer also sind die Nutznießer?
Das ist eine Frage die sich heute noch nicht schlüssig beantworten lässt. Es scheint jedoch sicher, dass bei der Entscheidung der europäischen Wähler nicht so sehr die wirtschaftliche Lage ausschlaggebend ist, sondern mehr politische und kulturelle (im weitesten Sinne) Probleme. In dieser Hinsicht gibt es gewisse Ähnlichkeiten mit dem heutigen Russland, wo trotz einer misslichen wirtschaftlichen Lage die Popularität von Putin kaum gelitten hat.
Was sind die Probleme, die für europäische Wähler anscheinend von solcher Bedeutung sind? Es sind in erster Linie wohl „Brüssel“ und Immigration, die die Gemüter erregen. Es ist der Unmut mit „Europa“, der Unwillen gegenüber Diktaten aus Brüssel und anscheinend noch mehr die Angst vor einer ungeplanten und ungewollten Einwanderung. Die Zahlen, die die Umfragen von Gallup in den letzten Wochen ergeben haben, sagen eigentlich alles: Mit 28 Prozent führt in Österreich die sehr rechte FPÖ, die Sozialdemokraten und die ÖVP kommen auf je 23 Prozent. Die Ergebnisse für Frankreich sind ähnlich bestürzend, führend ist der Front National von Marine Le Pen, die Sozialisten kommen auf ganze 13 Prozent.
Die Führer der linken Parteien in Europa haben die Stimmung der Bevölkerung ignoriert oder zumindest unterschätzt. Man wollte nicht wahrhaben, dass diese Stimmung in einer Zeit der ökonomischen Krise sich noch weiter verschärfen würde, und das rächt sich jetzt.
In Lateinamerika haben sich in ähnlicher Lage populistische Bewegungen durchgesetzt – der Peronismus mit teilweisen linken Parolen, Chavez in Venezuela als eine Art von Militärdiktatur mit vergleichsweise linken Parolen. Doch der Populismus hat Argentinien nicht vor dem Bankrott gerettet, und Europa ist nicht Lateinamerika.
Einiges lässt sich mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen: Mit der Zukunft Europas ist es nicht gut bestellt, und wenn die Parteien der Linken nichts (oder zu wenig) gegen eine unkontrollierte Einwanderung unternehmen, dann werden ihre politischen Chancen noch weiter sinken.
Das ist eine traurige Bilanz.
Ist eine Besserung der Lage möglich?
Gewiss.
Ist sie sicher?
Keineswegs.

Der Autor, Jahrgang 1921, ist ein amerikanischer Historiker und Publizist deutsch-jüdischer Herkunft. Er hatte unter anderem eine Professur an der Georgetown University inne und war von 1965 bis 1994 Direktor des Institute of Contemporary History in London. Sein jüngstes, 2015 bei Propyläen auch auf Deutsch erschienenes Buch „Putinismus. Wohin treibt Russland?“ wurde kürzlich im Blättchen besprochen.
Der Autor, der seit 50 Jahren praktisch ausschließlich Englisch publiziert, hat diesen Beitrag in Deutsch exklusiv für dieses Magazin verfasst.