von Werner Richter
Gespräche mit marxistischen Theoretikern offenbaren immer wieder, dass sie sich häufig nach wie vor im Rahmen althergebrachter absoluter Weisheiten des Marxismus/Leninismus bewegen. Das betrifft auch die Selbstverständlichkeit, die Marktwirtschaft in sozialistischer Alternative als einzig vorstellbare Zukunftsvariante zu betrachten. Das Kapital soll abgeschafft werden – aber wie?
Der bisher einzig angedachte und versuchte Weg zur Eliminierung des Kapitals war die juristische Proklamation des Volkseigentums. Ist so das Kapital tatsächlich abgeschafft worden? War wohl nichts, sieht man in die Geschichte. Es schwant, dass es sich um eine rein akademische Fragestellung ohne Bedeutung für die realen gesellschaftlichen Verhältnisse handelt.
Aber was ist mit den Wertverhältnissen? Was bewirken die, wenn kein Kapital mehr, mal die Realisierbarkeit vernachlässigt, vorhanden ist? Bewirken Wertproduktion sowie Nachträglichkeit der Wertrealisierung nicht die Reanimation des Kapitals mit allen bekannten Folgen, und wirkt das Kapital dann nicht im Verborgenen? Die Lösung der Widersprüche kapitalistischer Produktionsweise ist innerhalb des Warenproduktionssystems nicht erreichbar. Warum aber hält dann das Gros der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler an der Lösung der Kapitalwidersprüche innerhalb der Warenwirtschaft fest?
Die Wirtschaftstheorie hat wie die kapitalistische Weltwirtschaft in den letzten 30 Jahren einen grundlegenden Wandel erfahren. Gingen Ökonomen bis dahin von den grundlegenden Erkenntnissen der „Klassiker“ der Ökonomie aus, um historische und aktuelle Analysen der ökonomischen Verhältnisse, insbesondere der Wertfunktionen, in der menschlichen Gesellschaft zu betreiben, traten nun immer häufiger auf Einzelaspekten basierende Thesen an ihre Stelle. Diese neuen Ausgangsthesen der Wirtschaftsanalyse (besonders typisch die von Hayek & Co der sogenannten Neocons) brachten den Glauben ein, „der Markt regelt alles“, an dem gemessen zum Beispiel die Werttheorie allein der „klassischen Phase“ des Kapitalismus und nicht mehr der „modernen finanzbestimmten Ökonomie“ zugeordnet werden konnte. Der Glaubensgrundsatz selbst jedoch blieb unhinterfragt.
Eine pseudoökonomische Theorierichtung, inzwischen weltweit dominant, war geboren. Think Tanks mit immer neuen Theorien, die bei Lichte besehen nicht ökonomisch, dafür historisch, soziologisch, juristisch oder medial begründet waren, schossen wie Pilze hervor und es regnete Nobelpreise. Irritiert stellte bereits 1996 Paul Krugman als einer der letzten ökonomischen Mohikaner fest, dass die ökonomische Theorie in die Hände von Nichtökonomen geraten war. Ihm wurde auf seinen diesbezüglichen Einwand entgegen gehalten, dem Verständnis der modernen Wirtschaft seien ökonomische Grundkenntnisse abträglich. Die ökonomische Theorie ist seitdem nicht mehr in der Spur ökonomischer Analyse der Produktionsverhältnisse. Sie dient unter Negation der wachsenden Dysfunktionalität des Warenwirtschaftssystems der Suche nach Auswegen innerhalb des Systems. Mathematisch ist dies die Hoffnung, den Schnittpunkt zweier paralleler Geraden, der im Unendlichen liegt, im Endlichen zu erreichen. Die ökonomische Theorie wandelte sich zur Wirtschaftsstrategie, polit-strategische Zielstellung ersetzte die Analyse der objektiven Realität. Beredtes Zeugnis dafür gab Kanzlerin Merkel auf die Frage nach ihrer Wirtschaftstheorie: Es gibt keine, wir lösen Probleme Schritt für Schritt, wie sie gerade anfallen.
Nun ist diese Entwicklung keinesfalls ein Problem allein der Ökonomen. Unstrittig dürfte sein, dass die ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft grundlegend für alle Beziehungen der Gesellschaft sind, ob politisch, sozial, kulturell, juristisch, historisch oder philosophisch betrachtet. Und die ökonomische Theorie ist bestimmend für die sozial-politische Strategie und Taktik auch der linken, gesellschaftskritischen Richtungen insgesamt. Insofern kann die ökonomische Diskussion nicht alleinige Sache der Ökonomen sein. Den Nichtökonomen kommt eine „externe“ Kontrollfunktion zu und sie müssen ihre Basis neu orten. Sich raushalten wegen angeblich zu geringer Grundkenntnisse, kann nicht die Losung sein.
In den oben erwähnten Gesprächen wird immer wieder deutlich, die alten „Grundwahrheiten“ stehen unerschütterlich, auch die, dass keine bedürfnisgerechten Produkte außerhalb der Warenwirtschaft hergestellt und verteilt werden können. Gibt denn die Geschichte der letzten Jahre nicht Anlass genug, erstmal inne zu halten und das gesamte Theoriegebäude von Grund auf zu überdenken? Entspricht nicht auch die Infragestellung der Marktwirtschaft selbst der Marxschen Forderung, alle Erkenntnisse immer wieder zu prüfen? Auf diesen Umstand machte in seinem Vermächtnis Eric Hobsbawm aufmerksam, besonders in seiner Forderung „Die Grundrisse entdecken“, also Reset des Marxismus, back to the roots. Das ist nicht mehr und nicht weniger als die Forderung, sich zunächst der rein ökonomischen Analyse der Produktionsverhältnisse bar jeder politischen Einfärbung zu nähern, so wie es Marx in den Grundrissen und dem „Kapital“ vorgemacht hat. (Auch wenn meines Erachtens Hobsbawm dabei dem gleichen Fehler unterliegt, die „Arbeitwerttheorie“ als gegeben zu benennen.)
Es braucht also „neues Denken“. Schon seit geraumer Zeit arbeitet eine Gruppe von Ökonomen an einer alternativen Wirtschaftstheorie. Sie sucht Ansatzpunkte für eine wissenschaftlich begründete Bestimmung einer nichtwarenwirtschaftlichen Gesellschaft, die die Grundwidersprüche des Kapitalismus löst. Vielleicht sind das Phantasten, aber ihre Erkenntnisse – wie die Plausibilitätsprüfung von Christian Siefkes (Beitragen statt tauschen, 2008), die Projektschilderung der Degrowth-Konferenz und die Diskussion auf der alternativen Website sollten zur Kenntnis genommen werden für die Bestimmung eigener Positionen.
Schlagwörter: Kapital, Karl Marx, Marktwirtschaft, Ware, Werner Richter, Wert