von Heino Bosselmann
Jüngst meldete die Berliner Zeitung, 40 Prozent der Polizeibewerber der Stadt bestünden den erforderlichen Eignungstest nicht, davon 85 Prozent wegen mangelnder Deutschkenntnisse. – Dies ist kein Problem der Polizei allein. Und doch war es für die deutsche Bildungspolitik bislang kein Thema, wenn nach Auskunft des Rates für deutsche Rechtschreibung jeder fünfte Fünfzehnjährige als funktionaler Analphabet gelten muss, und das im Ergebnis seiner neunjährigen Schulzeit.
Im Gegensatz zu den längst nicht mehr zu überblickenden Reformen, Reförmchen und Kampagnen sind die alarmierenden Defizite im Beherrschen der deutschen Sprache nirgendwo Chefsache. Zwar beklagen Berufsausbilder das Unvermögen zum Lesen und Schreiben bei Lehrlingen ebenso, wie es Professoren mit Blick auf ihre zunehmend agrammatischen und illiteraten Studenten tun, aber die Schule improvisiert weiter herum. Die Sprache als Grammatik der Gedanken zu beherrschen, das erscheint weit weniger wichtig als inszenierte Initiativen wie „Schule für Courage“, „Schule gegen Rassismus“ und „Europäische Schule“ – sämtlich dankenswerte Vorhaben, nur eben fragwürdig, wenn es den jungen couragierten Europäern und Demokraten an Wort und Schrift gebricht.
Bedauerlich ferner, dass es angesichts der kulturellen Bestandsverluste keinerlei Ansätze zur Verbesserung des Lesens und Schreibens gibt und die Schule es offenbar immer weniger vermag, elementare Standards des Sprachlichen zu sichern, wie es sogar die geschmähte preußische Pantoffelschule einst verstand, die so gut wie jeden nach acht Klassen alphabetisiert entließ.
Die gegenwärtige Bildungspolitik reagiert auf alarmierende Defizite, indem sie einfach die Anforderungen senkt. In der diesjährigen Vergleichsarbeit VERA für den Deutschunterricht der sechsten und achten Klassen in Mecklenburg-Vorpommern, verantwortet vom hochdotierten Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, wurden Rechtschreibung und Grammatik nur in drei randständigen Aufgaben geringer Wichtung getestet – simple Einsetzübungen sowie Ableitungen zu Wortstämmen, also reines Grundschulwissen. Der Schwerpunkt hingegen lag auf dem Verstehen zweier Kinderrundfunk-Beiträge sowie Leseaufgaben zu zwei kurzen literarischen Texten, insbesondere mit multikultureller Sachthematik. Alles flott digitalisierbar im Multiple-Choice-Verfahren abgefragt. Für das Schreibvermögen scheint indes zu gelten, dass bereits richtig ist, was irgendwie verstanden wird.
Sowohl für die Prüfungen zur Mittleren Reife als auch für das Abitur sind Fehlerquoten weitgehend abgeschafft. Nur wenn das Verständnis der Abschlussarbeit durch formale Schwächen entscheidend erschwert ist, können in der Deutsch-Reifeprüfung ein, im extremen Fall zwei Notenpunkte abgezogen werden. In Berlin und Brandenburg wird bei schriftlichen Deutschprüfungen in der sogenannten Oberschule überhaupt kaum mehr geschrieben, stattdessen sind – wiederum Multiple Choice – auf Verständnisfragen hin einfach auswählend vorgegebene Antworten anzukreuzen.
Weshalb soll denn eine Nation, die sich nicht mehr als solche begreifen möchte, ihre Sprache pflegen, die einst das Medium ihres hohen Ausdrucks und ihrer literarisch-künstlerischen Beseeltheit war? – Nur: Wie spricht man eigentlich „europäisch“ und wie „globalisiert“? – Wenn es keine Vaterlande mehr gibt, was soll dann Muttersprache sein?
Die fatale Rechtschreibreform von 1996 und deren Reformen der Reform von 2004 und 2006 – schon damals ein Zugeständnis an sprachliche Regression – verwirrten das schriftsprachliche Vermögen mehr, als dass sie es verbesserten. Überhaupt gilt den ersten Netzaktivisten das Einhalten von Regeln und Standards bereits als allzu bevormundender „Orthographie- und Grammatik-Faschismus“.
Im Verständnis der Kultusbürokraten und Bildungsforscher kommt dem Elementarsprachlichen nur vergleichsweise geringe Bedeutung zu. So fehlt in der bildungspartikularistischen Schullandschaft eine systematische Sprachausbildung, innerhalb der Morphologie, Syntax, Lexikologie und Stilistik ruhig aufeinander aufbauen beziehungsweise sich in entwickelnder Sprachbefähigung durchdringen. Der DDR-Zentralstaat konnte das mit seinen „Lehrplänen“ absichern, die Bundesrepublik aus strukturellen Gründen nicht im selben Maße. Sie verfügte jedoch vor 1990 immerhin noch über traditionell weitgehend intakte Gymnasien. Und selbst wer dort Latein nicht begriff, mochte im Zuge seines Bemühens wenigstens etwas von Grammatik verstanden haben.
Der Deutschunterricht an den Grundschulen verläuft heutzutage zwar langsamer als früher, kindgerechter, wie es heißt, aber leider nicht so substantiell oder gar leistungsorientiert. Das Alphabet ist erst in der zweiten Klasse – eher zu ihrem Ende hin – bekannt, so dass recht spät zusammenhängend gelesen und geschrieben werden kann. Fragwürdig ferner, wenn den Druckbuchstaben der Vorzug vor der Schreibschrift gegeben wird, ganz zu schweigen davon, dass da und dort deren gänzliche Abschaffung zugunsten von Tastaturgebrauch ernstlich erwogen wird.
Die Rahmenrichtlinien des Faches Deutsch – ohnehin nirgendwo zwingend einzuhalten – werden dominiert von Bestandteilen, die nicht explizit der Entwicklung des Lesen- und Schreibenkönnens vorbehalten sind. Den Vorzug haben sogenannte Methodenkompetenzen, Medientheorie, Kommunikation und Präsentationstechniken. Es regiert das „exemplarische Prinzip“ – und damit die Illusion, aus einem Beispiel heraus entwickle der talentierte Schüler sich alles andere selbstständig. Sprachthemen werden „integrativ“ abgehandelt. Es gibt etwa keine gesonderten Lesebücher mehr, die frühere Generationen von Schülern der Literatur aufschlossen. Heute findet sich innerhalb der Deutsch-Lehrbücher nur ab und an ein literarischer Text. Zwischen einem sich als cool und hip verstehenden, aber eher hyperkinetisch wirkenden Layout, das sich schrill einem für jugendlich gehaltenen Geschmack anzudienen versucht. Wer mehr und besser Ausgewähltes thematisieren möchte, steht am Kopierer. Von einem literarischen Kanon zu reden, das gilt mittlerweile als reaktionär. An vielen Gymnasien und Regionalschulen wird pro Schuljahr nur noch ein Buch als Ganzschrift gelesen. Wenn überhaupt.
Diktate schreiben? Schlimm konservativ! Schon der Wortstamm klinge doch autoritär, ja eindeutig nach Diktatur. – Dabei leistete der Zusammenhang von Vermittlung, Schreiben nach geduldigem Vortrag und konzentrierter Berichtigung einst eine Menge. Die Worte und Wendungen gingen durch die Hand wie durch den Kopf. Die Sätze klangen, und man erspürte ihren Rhythmus, was bei schnellen Einsetzübungen auf Arbeitsblättern so nicht erlebbar ist. Entschleunigte, gründliche Sprachausbildung. Und die stetige Wiederholung übte. Kein Vergleich zu einem eiligen „Coaching“.
Derzeit sind nirgendwo Zeichen auszumachen, die eine Verbesserung des Lesens und Schreibens an der Schule erhoffen ließen.
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