von Wolfgang Brauer
Wer das nächtliche Wispern der Bücher zu hören vermag, würde aus dem Regal meiner Büchersammlung, in dem die Schauspieler-Autobiographien stehen, allnächtlich ein fürchterliches Geschrei vernehmen, in dem nur ein einziges Wort, das Personalpronomen „ich“, überlaut verstehbar wäre. Ein Buch mindestens würde schweigen, allenfalls ein wenig vor sich hergrummeln. Und das wäre eines, das nun tatsächlich etwas zu sagen hat über die Kunst des Theaters, ihr Wesen und ihre Gesetze – ja, ich persifliere Arno Holz… –: Die Rede ist von Jürgen Holtzens Band „He, Geist! Wo geht die Reise hin?“
Der Titel ist gut gewählt. Das ist ein Zitat aus Shakespeares „Sommernachtstraum“. Puck, Hofnarr des Elfenkönigs Oberon, ein Geist also, baggert damit zu Beginn des zweiten Aufzuges die Dienerin der Elfenkönigin Titania an. Holtz spielte den Puck 1996 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Jürgen Gosch. 1964 begann der Aufstieg dieses Meteors am deutschen Theaterhimmel übrigens auch mit Shakespeare. Unter der Regie von Adolf Dresen gab er den Hamlet in einer kongenialen Neuübersetzung von Maik Hamburger. In Greifswald! Das Haus gehört derzeit zum „Theater Vorpommern“ (mit Stralsund und Putbus), geht es nach dem Willen der Landesregierung, wird es wohl gänzlich im Nirwana versinken.
Ich will mich jetzt nicht zu Mutmaßungen hinreißen lassen, weshalb seitdem jeder des Schreibens kundige Mensch an deutschen Theatern meint Shakespeare „neu“ übersetzen zu müssen. Auch die traurige Geschichte von städtischen Bühnen wie Greifswald, Erfurt – in Erfurt hatte Holtz sein erstes Engagement – oder Brandenburg/Havel soll hier nicht erzählt werden. Mir geht es um dieses bemerkenswerte Holtz-Buch aus dem Verlag Theater der Zeit, das ich jedem, der um den besonderen, süchtig machenden Geruch eines Theatersaales weiß, wärmstens anempfehlen möchte. Eigentlich handelt es sich um eine Text- und Bildersammlung aus vier Jahrzehnten. Die Bilder sind Wiedergaben toller Zeichnungen des Mimen sowie ein biographischer Querschnitt in Gestalt beeindruckender Inszenierungsfotos. Bei der Dramaturgie der Textanordnung hat offenbar Puck seine Finger im Spiel gehabt. Sie sind nicht getreu des Goetheschen Autobiographie-Musters „Mittags mit dem Glockenschlage zwölf kam ich auf die Welt…“ angeordnet, Goethe taucht seltsamerweise in der Aufzählung der „wichtigsten Rollen“ des Autoren im Anhang des Buches nicht auf, dafür aber Schiller.
Der erste Text des Bandes ist die Dankesrede zur Verleihung des Konrad-Wolf-Preises 2014, dann steigt man Schicht für Schicht herab bis in das Jahr 1963 – und findet einen Text, in dem Holtz über die Gestaltung des „positiven Helden“, einem Lieblingskonstrukt des realsozialistischen Theaters, anhand eines Stückes des sowjetischen Dramatikers Ignati Dworezki philosophiert. Das ist anregend, aber Geschichte.
Seine 2014er Rede hingegen liest sich sehr heutig: Der Kulturetat gehöre „ursächlich zum Sozialstaat“, allerdings habe sich das Theater „sichtbar in seinen, vor allem publikumsignoranten Experimenten, ein wenig festgefressen“. Das ist wie ein vorweggenommener Beitrag zur aktuellen Auseinandersetzung um den Berliner Staatssekretär Tim Renner. In einem in den Band aufgenommenen Gespräch mit dem Filmemacher Thomas Knauf – 2014 drehte dieser die Dokumentation „Holtz – Gespräche um nichts“ – wird er noch deutlicher: „Die neuen Vorschläge für die marktgerechte Existenz des Theaters töten das Theater. Widersteht das Theater der Warenwelt nicht, hört es auf Theater zu sein.“
Mit Sicherheit kommt jetzt der Hinweis, in der DDR wäre das anders gewesen. Da war doch das Theater „Mittel zur kollektiven Selbstverständigung“, die DDR habe sich förmlich als „Theater-Republik“ verstanden. Diese Position ignoriert aber zwei sehr wesentliche Dinge. Zum einen übernahm die Kunst, das gilt für die anderen Gattungen unisono, Funktionen im gesellschaftlichen Diskurs, die durchaus nicht in ihrem Wesen liegen. Fragen der Steigerung der Arbeitsproduktivität in der volkseigenen Industrie lassen sich sicher auch im Theater verhandeln – besonders kunstnah ist das eher nicht. „Das Theater in der DDR hatte sich an der Ventilierung der immergleichen, der sozialen, der Elends- und der Klassenfrage fettgefressen.“ Holtzens Befund ist hart, sicher im Einzelnen auch ungerecht, aber er liegt damit so falsch nicht.
Zum anderen: Im Juni 1983 verließ auch Jürgen Holtz die DDR und ging in den Westen. „Am Bahnhof Friedrichstraße nahmen der Exodus der künstlerischen Intelligenz der DDR und die Abschiede kein Ende. Unsere Hilflosigkeit wuchs. Und unser Zynismus“, schreibt er in einem berührenden Text auf den Tod von Benno Besson 2006. – „Der erste, dem ich im Westen begegnete und der mir Arbeit anbot, war Egon Günther.“ Die DDR blutete intellektuell zunehmend aus, und die Daheimgebliebenen, so sie nicht in Resignation versanken, schlugen sich die Schädel wund.
Wenn Theater die „Plattform der mündigen Bürger“ ist, wie Jürgen Holtz 2004 eine Rede überschrieb – was ist, wenn dem „mündigen Bürger“ seine Mündigkeit abhandenkommt? Wenn nur noch die „Dramaturgie des Dilettantismus, die Dramaturgie der Nabelschau, der Langeweile und des Mittelmaßes“ übrigbleiben? Ergebnis ist dann, so Holtz, ein „altbackenes Theater, das sich aufmotzt mit Licht- und Videoschnickschnack oder nackend auszieht, um sich glaubhaft zu machen […] Dieser Quatsch lässt sich gut verwalten. […] Die Gemeinschaft der Selbstbestimmten und der Authentischen braucht ja keine Künste. Sie macht sich täglich selber welche neu!“ Seine Anamnese des Zustandes des deutschen Theaters ergibt einen vernichtenden Befund. Er verbindet dessen Niedergang übrigens katalytisch mit dem Verfall der deutschen Linken… Und er wird bestätigt durch die Leichtigkeit, mit der die diversen kulturpolitischen Mätzchenmacher aller Parteien fast ungestört ihre Schneise der Verwüstung durch die Kulturlandschaft der Republik ziehen können.
Jürgen Holtz gibt dem Theater durchaus eine Zukunft: „Die Ästhetik des Theaters sollte der Aufstand sein! Der Aufstand für die Demokratisierung des Wissens. Nur darin manifestiert sich sein Anspruch auf Kunst. Nur so besteht die Chance im Übrigen, dass sie sich verbrüdert mit anderen Aufständen.“ Resignativ ist das nicht.
Jürgen Holtz: „He, Geist! Wo geht die Reise hin?“ Reden. Einreden. Widerreden, Theater der Zeit, Berlin 2015, 160 Seiten, 25,00 Euro.
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