von Heino Bosselmann
Das staatspolitische Denken des säkularen Europa gründet in der philosophisch geprägten, aber historisch kaum greifbaren Vorstellung des Gesellschaftsvertrages, also in der Annahme, kontraktualistische Handlungen hätten das „zoon politikon“ vom „status naturalis“ in den „status civilis“ geführt. Von Bodin bis Rawls versucht die Philosophie dieses Phänomen zu erklären und präferiert verschiedene Staatsformen – nach eher konservativen Vorstellungen den machtvoll leviathanischen Souverän, der den Fährnissen des Naturzustandes wehrt, nach liberalem Muster einen contrat social, den alle Vollbürger zu aller Gunsten verhandelnd vereinbarten.
Einmal dahingestellt, ob sich hinter dem Begriff des „Gesellschaftsvertrages“ eine der Illusionen der Aufklärung verbergen mag und der Staat nicht viel eher als pragmatische Herrschaft erklärbar würde, die sich aus dem Widerstreit der großen Ungleichheit oder des fanatischen Glaubenszwists klärend erhebt, legitimiert sich Staatsmacht, zumal die demokratische, gern mit dem Verweis auf ein allgemeines Wohlfahrtsversprechen.
Der hineingeborene Staatsbürger jedenfalls findet „Gesellschaftsverträge“ vor, sieht sich in sie hineingestellt und wird mit der Erwartung der Autoritäten konfrontiert, in diesen angeblich nicht nur erprobten, sondern besten aller möglichen Staaten unbedingt identifiziert hineinzuwachsen. Solcherart sollte der junge Sowjetbürger Kommunist werden, der Bundesbürger sich als Demokrat verstehen und der Abiturient des Jahrgangs 1938 einen Aufsatz im Sinne des Nationalsozialismus schreiben können. Diskrepanzen ergeben sich, sobald der Mensch sich als selbstständiges Wesen begreift und sich eine individuelle Position, eine eigene Ortung erarbeitet, von der aus er sich zum verordneten Gemeinwesen kritisch zu verhalten beginnt.
Was aber, wenn man diesen „Gesellschaftsvertrag“, der immer ohne einen selbst geschlossen wurde, so überhaupt je von einem konkret fassbaren Akt einer solchen Ur-Konstituierung die Rede sein kann, was also, wenn man ihn als unzureichend, ungerecht oder gänzlich inakzeptabel zu erkennen meint? Was, wenn ein System, das aus der Innenperspektive seiner eigenen Deutungsbehörden als das bestmögliche erscheint, einem urteilskräftigen Betrachter als inakzeptabel gilt? Wie verhält sich der Bürger im prinzipiellen Konflikt, in der Kollision mit dem Staatswesen, das ein starker Beschützer und ebenso starker Gegner sein kann? Sapere aude! Sapere aude?
Zum Überschreiten der roten Linie bedarf es keiner „Wutbürger“ und nicht der Barrikade, sondern einzig des Revisionsbedürfnisses gegenüber sogenannten „Grundvereinbarungen“, von denen wieder die Frage bliebe, wer sie vereinbart habe. Man muss nicht das Diktum Rosa Luxemburgs aufrufen, Freiheit wäre immer die Freiheit der Andersdenkenden; es geht um mehr, nämlich um die Gretchenfrage an die Adresse jedes Staates: Wie hältst du’s mit dem Widerstand? Denn Widerstand ist zwar nicht sogleich die Revolution, aber doch etwas anderes als die joviale Kultiviertheit der Opposition im geschützten Raum. Widerstand ist die prinzipielle Infragestellung eines Konsenses, der als verordnet erscheint, als vernünftig dargestellt und wie alles vermeintlich Vernünftige und Geordnete mit einer moralischen Schutzmauer umgeben wird: Es sei das Gute darin verkörpert.
Indes: Demokratie ist Herrschaft. Es gibt einen legislativen „Gesetzgeber“, der – derzeit von immer weniger Aktiven legitimiert – Entscheidungen exekutiv umsetzt, durchaus in der vom geschmähten Carl Schmitt beschriebenen dezisionistischen Weise. Wer sich dagegen stellt, ist ein Feind des Systems, also ein Vertragsbrüchiger im Sinne des contrat social, mithin destruktiv, was die Demokratie betrifft, und böse, was die mit Vernunft begründete Moralität dieser besten aller möglichen Ordnungen anbelangt. Schon dem ideellen Verweigerer werfen die Machthaber vor, er würde mit seinem Denken die Hölle öffnen, indem er offiziell zu beschweigende Fragen couragiert stellt oder nur nach klarer Sprache sucht.
Demokratievorstellungen folgen zum einen dem utilitaristischen Verständnis, Mehrheitsentscheidungen wären gute Entscheidungen, mindestens aber gerechtere als Minderheitsvoten oder gar die Dekrete eines sich mit dem Gottesgnadentum oder gar via Ideologie legitimierenden Autokraten. Anthropologische Grundlage der Demokratie ist ferner die mit Verweis auf die hochgehaltene Aufklärung geradezu axiomatische Behauptung, der Mensch wäre vernünftig. Politik folgt dabei verkürzt Beweisführungen, die insbesondere Immanuel Kant zur Bestimmung des Menschen und seiner Ethik hinterließ, Herleitungen, die philosophiegeschichtlich so berückend sind wie fragwürdig, nichtsdestotrotz aber zum propagandistischen Leitfaden erhoben werden, insbesondere im Bildungsbetrieb des Staates, der nur thematisiert, was ihm in die Legitimationslegende passt. Nebenbei: Die klassischen staatsbürgerlichen Lehren werden entscheidend dadurch konterkariert, dass mehr denn je das Geld und die Buchhaltungspolitik zum Souverän und die Wirtschaft zur Ideologie avancieren. Was etwa gilt ein Parlament noch gegen eine Ratingagentur?
Man muss kein Kenner staatsphilosophischer Grundlagenliteratur sein; es reicht für den produktiven Verdacht bereits aus, sich die Ereignisse der letzten beiden Jahrhunderte aus der Perspektive des gesunden Menschenverstandes anzuschauen, um neben Kants Würdigung des vernunftgeleiteten Menschen die Vorstellung Schopenhauers gelten zu lassen, dieser Mensch wäre ebenso fähig, einen anderen zu töten, um sich mit dessen Fett die Stiefel zu schmieren. Solch freilich negative Sicht – oft als Kränkung empfunden, aber eine Schule des illusionslosen Blicks – findet sich nicht nur in den Handlungen von Einzelwesen gespiegelt, sondern drastischer noch in denen von Staaten, auch solcher demokratischer Verfasstheit. Allein die Geschichte der USA, des oft gehuldigten „Musterlandes der Demokratie“, liefert eindrucksvolles Material, das an der Ethik und Anthropologie der Aufklärung im allgemeinen und an der Gerechtigkeit und Güte der Demokratie im besonderen auf ganz empirische Weise zweifeln lässt.
Selbst wenn sie dies bedauernd eingestehen müssten, argumentieren die Demokraten, läge dennoch der entscheidende Vorzug im Wesen des Demokratischen darin, sich qua permanentem Diskurs, Gewaltenteilung und Wahlrecht immer neu korrigierend regulieren zu können, Missstände im Prozess gesellschaftlicher Reifung progressiv auszuschließen und evolutionär dem Ideal menschlichen Zusammenlebens näher zu kommen. Das harmoniert mit Hegels Geschichtsphilosophie ebenso wie mit Habermas’ europäischen Hoffnungen.
Was aber, wenn die Demokratie an ihrer gefährlichsten Krise litte, wenn ihr also die Demokraten abhanden kämen, entweder weil es sie so reif und vernünftig nie gab oder weil vom alerten Citoyen nach Jahrzehnten des reinen Ökonomismus nur der tumbe Bourgeois übrigblieb, dessen Urteilskraft über Preisvergleiche hinaus – Ich bin doch nicht blöd! – völlig degenerierte, so sie je tatsächlich bestand? Wo noch gibt es neben dem Verbraucher den aufgeklärten Bürger? Was, wenn die Demokratie trotz aller Regularien zur Oligarchie, Kleptokratie, Plutokratie verkam, die wohl noch de jure demokratisch verfasst sein mag, de facto aber zum Klientelismus oder Lobbyismus schrumpfte? Kurz: Was geschieht, wenn sich eine kritische Mehrheit vom System abwendet, weil sie es nur noch als Farce erlebt?
Im Falle der Bundesrepublik, einer Wohlstandsdemokratie, die nie gefährdet war, blieb mit der Krise rein rhetorisch vor allem ein Ideal übrig, das in etwa der Mitotes-Theorie des Aristoteles entspricht, der zufolge die Tugend in der „Mitte“ läge, ungefähr in der Weise, wie Odo Marquard die Stärken des Bürgerlichen beschreibt. Alle Parteien der gegenwärtigen Politik sehen sich als solche Kräfte der Mitte – ein Begriff, der, je mehr er sich sozial und politisch verengt, immer eindringlicher beschworen wird. Alle Wohlmeinenden wollen Mitte sein. Wer erklärtermaßen nicht zu dieser Mitte gehören will, wer die „Konsensdemokratie“ in Frage stellt, gilt aus deren Zentralperspektive je nach Widerständigkeit als verdächtig, gefährlich, feindlich, ja schließlich als pathologisch. Die Mitte, nach ihrem Selbstverständnis ansonsten pluralistisch, tolerant und humanistisch, kann, festgelegt aufs aufklärerische Erbe, mit ihren radikalen Gegnern nicht anders umgehen, als diese letztendlich als defekt hinzustellen, da für ihre Exegeten als vereinbart gilt, wie ein vernünftiger Mensch beschaffen sein soll. Noch in dem Totschlagargument, aus der Geschichte nicht das gelernt zu haben, was man lernen sollte, erregt sich der ganze pädagogische Impetus der Aufklärung.
Im Wunsch der Konsens-Demokraten, die Konfrontationsdenker und politischen Widerständler gehörten verboten, lebt die naive Hoffnung, nicht nur deren Parteien würden verschwinden, sondern ebenso deren Denken. Die Mitte wäre wieder unter sich. Weil er aus der Weltordnung des Demokratismus herausfällt, darf der intellektuelle Gegner keinen Platz beanspruchen, denn ein Außerhalb der „demokratischen Grundordnung“ gibt es per definitionem nicht. Widerstand undenkbar, wo doch nur demokratischer Widerstand in Diktaturen legitim erscheint. Insofern ist der „Radikale“ für die Mitte nicht einfach nur der Andersdenkende, sondern der politisch abartig Kranke, der sich entweder über Hilfsangebote zu kurieren hat oder als Paria isoliert gehört, in Quarantäne, damit sich bloß nicht die gesamte Gesellschaft an ihm infiziere.
Weil die Radikalen als hochinfektiös gelten, darf ihnen „kein Podium geboten werden“, soll sich niemand mit ihnen einlassen, dürfen sie nicht eingeschlossen werden in das, was sonst demokratisches Grundprinzip ist, die Auseinandersetzung mittels Argumenten nämlich. Weil diese Kräfte pathologisch seien, hätte die Diskussion gar keinen Sinn. Leider! Einen „Nazi“ oder „Ultralinken“ – gar beide! – zu einer Diskussion gar in eine Schulstunde einzuladen, um kritisch mit ihm zu sprechen – undenkbar! Offenbar fürchtet die Mitte vorbewusst selbst, ihr Immunsystem wäre nicht mehr intakt.
Bleibt die Frage: Woher kommen die Radikalen, was sind ihre Wurzeln, woher rühren ihre Motive? Die Antwort der Demokraten fällt simpel aus: All das sei ursächlich unerklärlich, eigentlich nonkausal. Denn der Mensch ist wesentlich „vernünftig“. Der Radikale erscheint so in gnostischer Weise als Verkörperung der Unvernunft, des Dunklen und Mephistophelischen, dem der gute Mensch nicht das Feld überlassen dürfte. Was aber ist so schwierig daran zu verstehen, dass, wenn Vernunft und Funktionalität die Konsensdemokratie begründen, Widerstand dagegen in dem Moment vernünftig sein könnte, in dem das System nicht mehr funktioniert und sich irrational verhält?
Ein Staatsbürger oder Politiker, der sich auf Kosten der Gemeinschaft perfide bereichert oder Vorteile verschafft, ist immer noch Teil der Ordnung, indem er sie verbal akzeptiert und beeidet. Er hat gefehlt und kann bestraft werden; er ist rehabilitierbar. Wer jedoch wirklich aufbegehrt (und nicht nur scheinbar oder weil es der PR-Berater vorschlug), fällt aus der Gemeinschaft heraus wie ein Krimineller. Bevor er nicht widerruft und vor den eigenen Anschauungen kapituliert, gilt er als nicht therapierbar und muss separiert werden.
Bleibt der Hinweis, dass der echte Widerständler, der Ego-non-Typ, darauf nicht warten sollte: Er könnte der Ausgrenzung durch selbstbewusste Positionierung zuvorkommen.
Schlagwörter: Demokratie, Gesellschaftsvertrag, Heino Bosselmann, Herrschaft, politische Mitte, Radikalität, Staat, Staatsbürger