von Wolfgang Brauer
„Man sollte täglich in alten Tagebüchern lesen. Mir scheint, das würde die Tastatur der Orgel, auf die ein Schreibender zu spielen hat, erweitern.“ Das trägt Erwin Strittmatter am 23. März in sein Tagebuch ein. Natürlich meint er die eigenen Tagebücher damit. Ein Autor benutzt seine täglichen Notizen, wenn er sie denn führt, natürlich als „Steinbruch“ für seine literarischen Texte. Aber Strittmatter ordnete scheinbar alles, fast alles muss bei genauerer Lektüre seiner Äußerungen einschränkend gesagt werden, dem „Werk“ unter. Dieser Mann war sich seines Wertes und seiner solitären Stellung in der deutschen Literatur bewusst. Und er war ein sehr genauer und kritischer Beobachter der Zeitumstände und ein fleißiger Aufschreiber. Almut Giesecke hat jetzt den zweiten Band der Strittmatter-Tagebücher herausgegeben. Er umfasst eine Auswahl aus den Aufzeichnungen der Jahre 1974 bis 1994. Die letzte Notiz stammt vom 26. Januar 1994. Fünf Tage später ist Erwin Strittmatter tot.
Ich bekenne – ich habe den Band stellenweise mit denselben ärgerlichen Gefühlen gelesen wie seinen Vorgänger „Nachrichten aus meinem Leben“ (Die unendliche Geschichte des Erwin Strittmatter in Das Blättchen 19/2012). Das lag an den zahlreichen Auslassungen. Der Herausgeberin sind die nicht anzulasten. Almut Giesecke hat sich einer Sisyphos-Arbeit unterzogen. Jeder, der einmal editorisch tätig war, wird dies bestätigen können. Es sind die berüchtigten „persönlichkeitsrechtlichen Gründe“, das Lebenselixier „investigativer“ Journalisten und schludernder Biographien-Schmiede, die Autoren, Herausgebern und Verlegern das Leben zur Hölle machen können. Aber: Was gestrichen ist, macht erst recht neugierig. Da könnte doch was sein… Da ist auch meistens etwas. Häufig völlig Belangloses, aber doch auch oft das Werk Erhellendes. So peinlich die Sachen sich mitunter lesen – dem Mitteilungsbedürfnis der Brechtschen Geliebten muss man dankbar sein.
Ich bin der Herausgeberin dankbar, dass die anrührende Szene der Wiederbegegnung Strittmatters mit Ilonka Spadi (die große Liebe Esau Matts im ersten Band des „Ladens“) nicht der Schere zum Opfer fiel. Ich bin Ruth Mossner (im Tagebuch nennt er sie die „Bittersüsse“) dankbar, dass sie die Karte der „Persönlichkeitsrechte“ eben nicht zog. „Zirkus Wind“, zuerst 1979 im Bändchen „Meine Freundin Tina Babe“ erschienen, brachte der Leipziger Reclam-Verlag 1982 als Geburtstagsgabe zu Strittmatters „70.“ heraus. Der Band mit den bezaubernden Illustrationen der Mossner liegt jetzt neben mir – und es entspann sich ein eigenartiger Dialog zwischen beiden Büchern. Die tiefsten Urgründe des Entstehens von Kunst sind nicht erklärbar. Aber man kann sich ihnen mit vielem Bemühen nähern. Die Notizen des alten Mannes vom Schulzenhof über Ilonka und die „Bittersüsse“ – noch dazu angesichts der Reaktionen der „Lieblichen“, so nennt er gelegentlich Ehefrau Eva – helfen bei dieser Annäherung.
Das hat jetzt nichts mit Schlüssellochguckerei zu tun. Dieser Schriftsteller rang sein Leben lang mit sich um das eigene Selbstverständnis. Die Frauen, die seinen Weg teilten, die Freunde, die mit ihm gingen – oder mit denen er sich überwarf –, all diese Menschen waren in dieses Ringen mehr oder weniger bewusst einbezogen. Geradezu beispielhaft steht dafür die tragisch verlaufende Beziehung zwischen dem Über-Vater Erwin und Sohn Matthes, der drei Wochen vor dem Vater starb. Auch aus solchem Ringen erwuchs Strittmatters Kunst. Egal ob Lope Kleinermann („Ochsenkutscher“, 1950), Stanislaus Büdner („Der Wundertäter“, 1957, 1973, 1980) oder Esau Matte („Der Laden“, 1983, 1987, 1992) – seine Helden sind immer auf eine sehr eigene Art ein Alter ego des Dichters. Wenn Siegfried Lenz schon vor Jahrzehnten penetrante Dichter-Forscher anknurrte, sie mögen doch, wenn sie etwas über ihn erfahren wollten, seine Bücher lesen, dann trifft das in gleichem Maße auf Erwin Strittmatter zu.
Dennoch ist diese Tagebuch-Edition selbst in ihrer Torsohaftigkeit von großem Wert. Neben dem tieferen Verständnis, das sie uns, wie angedeutet, für die schwierige Persönlichkeit dieses Jahrhundertautoren ermöglicht, zeigt sie auf, unter welch widrigen und förderlichen Umständen dessen großes Erzählwerk entstand. Die Entstehungsgeschichte des „Ladens“ lässt sich auf atemberaubende Weise nachvollziehen. Umso bedauerlicher ist, ich wiederhole es, dass die von Strittmatter noch selbst im Jahre 1990 („Die Lage in den Lüften“) herausgegebenen Notizen zur Entstehung und dem Kampf um die Veröffentlichung des dritten Bandes der „Wundertäter“-Trilogie in die vorliegende Tagebuch-Edition keine Aufnahme fanden. Sowohl der Roman selbst als auch die Tagebuch-Aufzeichnungen aus „Die Lage in den Lüften“ sind Strittmattersche Schlüsseltexte.
Übrigens auch für sein Verhältnis zur DDR und ihrer Obrigkeit. Der Künstler Erwin Strittmatter war diesem Land mit Leib und Seele, auch auf Gedeih und Verderb verbunden. Wenn die Söhne Erwin und Jakob zu Beginn des Jahres 1994 angesichts von Äußerungen des Vaters in der Fernseh-Dokumentation „Zeugen des Jahrhunderts“ mitteilten, dass sie „gelitten hätten, weil ihr Vater sich politisch für ein Leben rechtfertigte, das durch seine literarischen Leistungen längst gerechtfertigt“ sei, muss man wohl den Söhnen zustimmen.
Strittmatter prägte dieses Land mit, es prägte ihn. Im Juni 1981 bewertet er die gerade stattfindenden Volkskammerwahlen als die Farce, die sie vom Anbeginn dieses Staatswesens immer waren. Aber er schreibt auch: „Weißt du einen besseren Staat für mich? Irgendeinen brauche ich doch! Also ist mir der, in dem ich zur Zeit lebe, der liebste, denn ich will geschützt vor Räubern, Mördern und privaten Ausbeutern Bücher schreiben…“. Zwei Jahre später: „Wir handeln gegen Devisen mit Menschen. Das muss man sich stets vor Augen halten, bevor man vom Sozialismus redet!“ Und ein Jahr später, am 30. Juni 1984, zieht er für sich den Schlussstrich: „DEM ALTEN MANNE GEHT’S NICHT MEHR UM DIESEN Staat. Es geht ihm nur noch um sein Werk, und dass die Beherrscher dieses Staates ihn dieses Werk bis zu seinem Tode fortsetzen lassen, ohne ihn mit ihrer Dummheit und ihren Intrigen daran zu hindern.“ Am 5. Oktober desselben Jahres erhält er den Nationalpreis der DDR 1. Klasse für das Gesamtwerk (übrigens schon einmal 1976!).
Diese gelebte – und geschriebene! – Widersprüchlichkeit lässt sich mit Hilfe der Tagebücher Erwin Strittmatters besser verstehen. Almut Giesecke hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, einen der ganz großen deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts vom Schmutzbewurf derer zu befreien, die Literatur mit dem zwischen zwei Buchdeckeln eingeklemmten Zeitgeist gleichsetzen. Die heutigen Dunkelmänner geben sich weltläufiger als die kleingeistigen Kunst-Dompteure der DDR es jemals vermochten. „Der Zustand meiner Welt“ zeigt auf, dass sie aus dem gleichem Holz geschnitzt sind.
Man sollte täglich in alten Tagebüchern lesen. Es müssen nicht die eigenen sein. Auch und gerade aus denen anderer lässt sich Erhebliches zum eigenen Weltverständnis beitragen. Sie müssen nur eine so ehrliche Sprache sprechen wie die Tagebücher Erwin Strittmatters.
Erwin Strittmatter: Der Zustand meiner Welt. Aus den Tagebüchern 1974 – 1994, Aufbau Verlag, Berlin 2014, 663 Seiten, 24,95 Euro.
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