von Wolfgang Schwarz
Zwei Dinge sind unendlich,
das Universum und die menschliche Dummheit,
aber bei dem Universum
bin ich mir noch nicht ganz sicher.
Albert Einstein
Nun sollen wir uns also richtig fürchten vor Moskau?
„Putin lässt Kampfjets über Europa kreisen“, „Zwei Bomber gelangten bis westlich von Portugal“, „Lettland sichtet russisches Kriegsschiff“, „Russland hat eine mit Atomsprengköpfen bestückbare Interkontinentalrakete getestet“ – so titelten und berichteten als seriös geltende deutsche Medien Ende Oktober. Unseriöse menetekelten gleich, als stände der Dritte Weltkrieg vor der Tür: „Putin schickte Atombomber Richtung Europa!“
Der neue NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg reagierte mit Pawlowscher Promptheit: Die russischen Aktivitäten seien „eine Provokation für die euroatlantische Sicherheit“. Aber keine Bange: Alle zwei Tage starte die NATO derzeit eine Übung in den östlichen Mitgliedstaaten. Und: „Die NATO ist stark, sie bleibt wachsam.“
Die sicherheitspolitische Substanz solcher gegenseitigen militärischen Mätzchen bewegt sich auf Nonsensniveau und man könnte sie ignorieren, wären sie nicht auf beiden Seiten Symptom eines kraftmeierisch-militanten Gehabes, bei dem – wie beim gegenseitigen Sich-Anpöbeln angetrunkener Kneipengänger – das Risiko des Ausartens in eine handfeste Keilerei nie gänzlich auszuschließen ist.
Und überdies: Bezogen auf die deutschen Mainstreammedien scheint die nächste Runde beim Wiederaufrichten des Feindbildes Russland eingeläutet und scheinen dabei so ziemlich alle Mittel recht zu sein, eine immer noch nicht aus der Ruhe gebrachte Mehrheit der Öffentlichkeit hierzulande das Fürchten zu lehren. Dazu werden Fakten zielgerichtet aufgeblasen, Sachverhalte hingegen, die dem intendierten Ergebnis entgegenstehen, entweder zurechtinterpretiert oder geflissentlich unterschlagen.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Fakten: Was war tatsächlich geschehen?
Erstens – russische Kampfflugzeuge des Typs MiG-31 und atomwaffenfähige TU-95-Bomber hatten, begleitet von Iljuschin-Tankflugzeugen, Bereiche der Ost- und Nordsee und des Schwarzen Meeres sowie des Atlantiks bis auf Höhe von Portugal beflogen, im internationalen Luftraum. Daran sollen an zwei Tagen in vier Formationen insgesamt 26 Maschinen beteiligt gewesen sein. Kampfflugzeuge aus den NATO-Staaten Norwegen, Großbritannien, Portugal, Türkei, Dänemark und Deutschland hatten die Gelegenheit zu Abfangübungen genutzt, wobei „abfangen“ in diesem Falle zunächst nur bedeutet, sich den russischen Maschinen auf Sichtweite zu nähern und sie zu begleiten. (Auch Schweden und Finnland, die nicht der NATO angehören, starteten Abfangjäger.)
Zweitens – die lettischen Streitkräfte hatten ein russisches Kriegsschiff etwa 13 Kilometer vor der Küste „entdeckt“, in internationalen Gewässern.
Drittens – ein russisches Nuklear-U-Boot hatte aus der Barentssee eine interkontinentale Trägerrakete vom Typ „Bulawa“ gestartet, die erfolgreich ihr Zielgebiet auf der Halbinsel Kamtschatka erreichte.
Eine nüchterne Bewertung dieser Vorgänge ergibt Folgendes:
Erstens – der internationale Luftraum steht allen Staaten offen. Die Deutsche Flugsicherung (DSF) sprach daher von „völlig legalen“ Flügen der russischen Militärflugzeuge, und der estnische Luftwaffenchef Jaak Tarie warnte vor Panikmache. Es sei nicht ungewöhnlich, dass sich russische Flugzeuge nahe dem baltischen Luftraum bewegten, es bestehe keine direkte Gefahr für Estland. Auch dem in den Medien zusätzlich kolportierten Vorwurf, Russland hätte damit, dass seine Maschinen „stumm“ geflogen seien – ohne Kontakt zu zivilen Luftsicherungsbehörden in den betreffenden Regionen und mit abgeschalteten Transpondern, die Passagierluftfahrt gefährdet, trat DFS-Sprecher Axel Raab entgegen: Die Russen seien nach internationalem Usus nicht verpflichtet gewesen, ihre Transponder einzuschalten oder einen Flugplan mitzuteilen. „Sie müssen sich auch nicht mit der zivilen Flugsicherung in Verbindung setzen.“
Zweitens – internationale Gewässer stehen ebenfalls allen Staaten offen. Und dass die russischen Streitkräfte in der Ostsee eine Baltische Flotte unterhalten, ist seit deren Gründung im Jahre 1703 ein offenes Geheimnis. Mindestens entsprechende Überwassereinheiten werden daher alle Ellen lang vor den Küsten von Ostseeanrainern gesichtet und üblicherweise folgen daraus weder nationale noch gar internationale Aufgeregtheiten. Es sei denn, die Sichtung erfolgt in Hoheitsgewässern – wie vor Jahren bei einem sowjetischen U-Boot in Schwedens Schären.
Drittens – die Entwicklung der strategischen ballistischen Trägerrakete Bulawa mit sechs Nukleargefechtsköpfen sowie zum Über- wie Unterwasserabschuss aus U-Booten datiert zurück bis 1992. Erfolgreich getestet wurde die Rakete über Reichweiten bis zu 9.000 Kilometer. Der bis dato letzte Fehlstart – von einem mit Bulawa armierten U-Boot aus – ereignete sich im September 2013. Im Übrigen ist Russland nukleare Supermacht und hält die Begrenzungen im Rahmen der nuklearstrategischen Abrüstungsvereinbarungen mit den USA (New Start) strikt ein, modernisiert seine strategischen Atomstreitkräfte aber ansonsten ebenso wie die USA die ihrigen.
Neben der Medien-Berichterstattung und der NATO-Reaktion zu den aktuellen russischen Militäraktivitäten gibt es weitere „Alarmsignale“. So wusste etwa die Berliner Zeitung zu berichten: „Bis zum Jahr 2020 will Russland 20 Atom-U-Boote bauen, die mit Bulawa-Raketen ausgerüstet werden sollen.“ Und Stoltenberg hat addiert: „In diesem Jahr haben wir mehr als hundert russische Flugbewegungen verzeichnet, das ist dreimal so viel wie im gesamten Jahr 2013.“
All dies und anderes mehr relativiert sich jedoch rasch, wenn man einen Blick auf das militärische Kräfteverhältnis zwischen der NATO und Russland wirft. Die strategischen Kernwaffen Moskaus werden allein durch ihre amerikanischen Pendants ausgeglichen. Zwischen beiden Seiten besteht ein Patt, sodass bei einem nuklearen Überfall der Angreifer mit vernichtender Vergeltung rechnen muss. Dass die russischen Nuklearstreitkräfte mittlerweile über Fähigkeiten verfügen, die aus amerikanischer Sicht höchst beunruhigend sein müssen, soll dabei gar nicht übersehen werden. So kreuzte 2012 ein mit atomaren Marschflugkörpern großer Reichweite ausgestattetes russisches U-Boot einen Monat lang in den Gewässern des Golfes von Mexiko und wurde erst beim Verlassen des Gebietes entdeckt. Aber am grundsätzlichen Pattparadigma ändern auch solche Fähigkeiten nichts. (Auf westlicher Seite sieht sich Moskau im Übrigen noch mit den strategischen Nuklearstreitkräften Frankreichs und Großbritanniens konfrontiert.) Und im Bereich der konventionellen Streitkräfte hat die NATO ein signifikantes quantitatives und qualitatives Übergewicht, wie zum Beispiel Barry Blechman und Russell Rumbaugh in ihrem Essay „Bombs away“ in Foreign Affairs kürzlich zusammenfassend aufgelistet haben.
Vor diesem Hintergrund könnte man Putins wiederholte Versicherung, keine aggressiven Absichten gegen die baltischen Staaten und Polen zu hegen, was immer man sonst von seiner Glaubwürdigkeit halten mag, auch als Ausdruck eines nüchternen Kräftekalküls werten. Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte jedenfalls zu den jüngsten militärischen Demonstrationen Moskaus, sie sei „akut nicht besorgt“.
Bleibt die Frage: Warum rasselt Putin aber dann mit dem Säbel? Oder präziser gefragt: Warum beantwortet er das Säbelrasseln der NATO entlang der russischen Grenzen seit diesem Frühjahr auf eben solche Weise?
Die Antwort könnte schlicht lauten: Weil er es – nach Chaosjahren bei den russischen Streitkräften – inzwischen wieder kann, und weil er es will. Der amerikanische Sicherheitsexperte Ariel Cohen dazu gegenüber The Washington Times: Die „radikale Eskalation aggressiven russischen Muskelspiels“ demonstriere, dass „Russland nicht länger eine geschlagene Macht des Kalten Krieges ist“. Und der Chef der „Luftoperativen Abteilung“ an der Hochschule der schwedischen Armee in Stockholm, Stephan Persson-Tyrling meint: „Die Russen haben über längere Zeit in ihre Streitkräfte investiert. Sie möchten wieder als Supermacht wahrgenommen werden. Jetzt wollten sie der Welt zeigen, wie weit sie sind.“ Wenn dazu allerdings, um nochmals auf die aktuellen militärischen Demonstrationen Moskaus zurückzukommen, langsam fliegende Turboprop-Langstreckenbomber TU-95 (Erstflug: 1952) verwendet werden, deren zielferner Abschuss im Falle des Falles wohl eine geringere Herausforderung wäre, als einen Treffer beim Scheibenschießen auf dem Rummel zu landen, dann muss man die Sache nicht besonders dramatisieren. Zumal die NATO an „aggressivem Muskelspiel“ ja nichts schuldig bleibt …
Von größerer strategischer Professionalität und Klugheit als aufseiten der militanten Gernegroße vom Schlage des gerade gegangenen NATO-Generalsekretärs Rasmussen und der Falken in den USA sowie in diversen NATO-Stäben und -Einrichtungen zeugen die aktuellen militärischen Demonstrationen Moskaus aber natürlich nicht. Doch mehr ist von einem Staat, dessen frühere Herrschaftselite nur zu spiegelbildlichem Nachvollzug nuklearer amerikanischer Overkillrüstung fähig war und sich nicht zuletzt infolgedessen schlussendlich vom Westen totrüsten ließ, auch nicht unbedingt zu erwarten. Und so provoziert man sich mit militärischen Nadelstichen derzeit halt gegenseitig, wobei außerdem das Kalkül eine Rolle spielt, dass sich damit höhere Rüstungsausgaben plausibel machen lassen. Alles im Übrigen sattsam bekannte Verhaltensmuster aus dem Kalten Krieg.
Bleibt zu hoffen, dass – wie in jenem – die Führungskräfte an der Spitze beider Seiten zu keinem Augenblick vergessen, dass es in einem heißen Krieg gegeneinander keine Sieger geben würde. Zumindest das hat im Kalten Krieg ja funktioniert und sollte daher vielleicht auch heute erwartet werden dürfen.
Schlagwörter: der Westen, militärisches Kräfteverhältnis, NATO, Russland, Wolfgang Schwarz