von Wolfgang Kubiczek
Die ukrainische Innenpolitik wird in diesen Tagen neben dem Konflikt in der Ostukraine und den Wahlen zur Werchowna Rada vor allem von der begonnenen Lustration („Säuberung“) staatlicher Strukturen bestimmt. Im Mittelpunkt soll der Kampf gegen Korruption im Staatsapparat stehen. Begrifflich lehnt man sich an politische Säuberungsprozesse in Nachbarländern wie Polen nach der Wende an. Dort war sie Begleiterscheinung des Systemwechsels. Im Unterschied dazu wird die „Säuberung“ in der Ukraine als Instrument des politischen Machtkampfes im Rahmen des bestehenden Systems genutzt. Unter dem Druck der rechtsextremen Svoboda-Partei und des „Rechten Sektors“ wurde sie zusätzlich durch eine antikommunistische Komponente ergänzt.
Die Gesetzgebung zur Lustration erfolgte in zwei Stufen. Am 7. April blockierten etwa hundertfünfzig Aktivisten der Maidan-Selbstverteidigungseinheiten, des Rechten Sektors und des Auto-Maidan das Gebäude des Obersten Gerichts und stürmten es anschließend. Die militanten Protestierer forderten gemeinsam mit Jegor Sobolew, Chef des „Öffentlichen Lustrationskomitees des Maidan“, die Lustration von Richtern und die Ernennung neuer Richter. Einen Tag später riegelten sie das Parlament ab, um den Abgeordneten Beine zu machen. Das verabschiedete umgehend das „Gesetz über die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Justiz in der Ukraine“.
Ein Blick in die jüngste Vergangenheit der Ukraine zeigt, dass die Forderung nach einer unabhängigen Justiz, frei von Korruption, ihre volle Berechtigung hat. Nach Erreichung der Unabhängigkeit ertönte zwar der Ruf nach einer Justizreform, es fehlte allerdings der politische Wille zu ihrer Umsetzung. Auch unter der fünfjährigen Präsidentschaft des im Zuge der „orangenen Revolution“ an die Macht gekommenen Präsidenten Justschenko (2005-2010) wurde das Anliegen einer Justizreform dem Selbstlauf überlassen. Sie wurde offenbar nicht als Priorität angesehen.
Janukowitsch missbrauchte dann die Justiz noch offensichtlicher zur Auseinandersetzung mit der politischen Opposition. Führende Politiker der Vorgängerregierungen – Ministerpräsidentin Timoschenko, Innenminister Luzenko und Verteidigungsminister Iwaschenko – wurden zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Im „Corruption Perception Index“ von Transparency International rangierte die Ukraine im Jahr 2013 von insgesamt 177 bewerteten Ländern auf Rang 144.
Bereits im Februar hatte die Rada einen Beschluss zur „Säuberung“ des Verfassungsgerichts gefasst. Ihm fielen zwölf von achtzehn Verfassungsrichtern zum Opfer, und zwar alle, die zuvor für eine Rückkehr der Ukraine zum Präsidialregime gestimmt hatten, was einen Machtzuwachs von Janukowitsch zur Folge hatte. Nach der „Säuberung“ des Verfassungsgerichts von tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern des ehemaligen Präsidenten konzentrierte sich die Regierung auf die gewöhnliche Justiz.
Mit Inkrafttreten des Gesetzes vom April wurden sämtliche Gerichtspräsidenten, deren Stellvertreter und alle Sekretäre von Gerichtskammern landesweit von ihren Funktionen entbunden. Weiterhin legte das Gesetz die sofortige Entlassung von Mitgliedern aller Körperschaften fest, die für die interne Disziplin und die personelle Besetzung im juristischen Dienst zuständig waren. Diese Personen dürfen auch künftig nicht derartige Positionen besetzen.
Eine Sonderkommission zur Durchleuchtung von Richtern wurde gebildet. Sie soll Richter herausfinden, die Urteile gegen Maidan-Aktivisten von November 2013 bis Februar 2014 und im Zusammenhang mit den Rada-Wahlen von 2012 gefällt, ihren „Schwur auf juristische Ethik“ verletzt oder an Urteilen gegen politische Oppositionelle mitgewirkt haben. Laut Jazenjuk können bis zu neuntausend Richter von der Lustration erfasst werden. „Human Rights Watch“ kritisiert, dass die Mehrheit der Kommissionsmitglieder von Regierung und Parlament bestimmt wird und damit eine politische Ausrichtung erhält. Außerdem fehle es an Garantien für deren Unabhängigkeit sowie an einem fairen Prozess für diejenigen, die vor der Kommission erscheinen müssen.
In seinem Bericht zur Menschenrechtssituation in der Ukraine vom Mai 2014 bringt der UN-Hochkommissar für Menschenrechte ebenfalls seine Besorgnis zum Ausdruck: Das Gesetz „kann zu ungerechtfertigten und willkürlichen Entlassungen von Richtern führen. Es richtet sich nicht nach allgemein anerkannten Erfordernissen im Bereich juristischer Verfahren: es führt die rückwirkende Haftbarkeit für Handlungen ein, die vor der Annahme des Gesetzes nicht als strafbar galten […] Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte bekräftigt seine früheren Empfehlungen, dass jegliche Aktivitäten zur Lustration in voller Übereinstimmung mit den grundlegenden Menschenrechten für die betroffenen Personen durchgeführt werden müssen[…].“
Von anderem Kaliber hinsichtlich der Anzahl der Betroffenen ist das im September von der Rada angenommene „Gesetz zur Säuberung der Macht“, gemeinhin als Lustrationsgesetz bezeichnet; die zweite Stufe des Lustrationsprozesses. Jazenjuk, ein strikter Befürworter des Gesetzes, schätzt, dass eine Million Staatsdiener der politischen Durchleuchtung unterzogen werden. Während in Osteuropa die entsprechende Gesetzgebung schwerpunktmäßig die jeweiligen Geheimdienste im Fokus hatte, zielt das ukrainische Gesetz zusätzlich auf diejenigen, die sich offen politisch zur „Partei der Regionen“, zur Kommunistischen Partei, zu Janukowitsch selbst bekannt hatten oder in der Zeit seiner Präsidentschaft Positionen im öffentlichen Dienst bekleideten. Da es sich hierbei um politische Kräfte handelt, die ihre Basis vorwiegend in den östlichen und südöstlichen Landesteilen hatten, bekommt die Gesetzgebung zusätzlich einen stark ausgeprägt nationalistischen, antirussischen Aspekt.
Deutliche Kritik gab es bereits im Vorfeld des Rada-Beschlusses. Die Washington Post bezweifelte, dass Lustration überhaupt positive Auswirkungen auf Demokratieentwicklung, Regierungsführung und Eindämmung der Korruption haben würde und warnt die ukrainischen Politiker davor, bestimmte Eliten aus der südlichen und östlichen Ukraine lebenslänglich von der politischen Mitwirkung auszuschließen. Statt Lustration sei deren Einbindung in die Politik ein besserer Beitrag zur politischen Stabilität. „Human Rights Watch“ warnte, dass die vorliegenden Entwürfe die Plattform für einen willkürlichen, gesetzwidrigen und massenweisen Ausschluss von der politischen Mitwirkung zur Folge hätten und somit grundlegende Menschenrechte verletzen würden. Und die in Brüssel beheimatete Denkfabrik „Crisis Group“ befürchtet, dass man ein Lustrationsgesetz anstrebt, dass „undemokratisch, spaltend und nicht vollstreckbar“ sei.
Die Debatte in der Rada und letztlich die Annahme des Gesetzes vollzog sich unter Drohungen rechtsnationalistischer Demonstranten vor den Toren des Parlaments, einschließlich der Anwendung physischer Gewalt. Dort und im ganzen Land kam es zur sogenannten „Müllcontainer-Lustration“ , in deren Folge Oppositionelle bis aufs Blut misshandelt, in Müllcontainer geworfen und mit Abfall, Fäkalien und Farbe begossen wurden. Die landesweite Terroraktion gegen Oppositionelle wurde in den deutschen Medien übrigens weitgehend ignoriert.
Ursprünglich war auch die Durchleuchtung aller Wahlfunktionen, einschließlich des Präsidenten, vorgesehen. Aber diese Bestimmung wurde unter dem Druck der UDAR-Partei (mit anderen Worten indirekt durch Präsident Poroschenko) fallen gelassen. Die Abgeordneten bekamen den Gesetzestext erst wenige Minuten vor der Abstimmung zu Gesicht. Die wurde dreimal durchgeführt, bis das erforderliche Quorum zustande kam, eine nach den Verfahrensregeln illegale Prozedur. Das war aber nicht das Ende der Merkwürdigkeiten, denn das verabschiedete Gesetz bekam die Öffentlichkeit nicht zu Gesicht. Es wurde im Regierungsapparat – offenbar im Justizministerium – völlig umgeschrieben und dann erst dem Präsidenten zur Unterschrift vorgelegt.
Das Gesetz selbst ist für die Herrschenden ein Freibrief zur missbräuchlichen Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Es verbietet die Ausübung öffentlicher Ämter durch jene Staatsdiener aller Ebenen, die in der Janukowitsch-Zeit im öffentlichen Dienst tätig waren. In Artikel 1 des Gesetzes wird als Ziel der Lustration „die Verhinderung der Teilnahme solcher Personen an der Regelung staatlicher Angelegenheiten“ benannt, „die durch ihre Entscheidungen, Handlungen oder Untätigkeit Beschlüsse gefasst (und/oder diese befördert) haben, die auf die Usurpation der Macht durch den Präsidenten der Ukraine Viktor Janukowitsch zielten; die die Grundlagen der Sicherheit und Verteidigung der Ukraine untergraben haben oder auf gesetzeswidrige Verletzungen der Menschenrechte und Freiheiten abzielten.“ Damit ist Tür und Tor für seine willkürliche Anwendung zur Beseitigung unliebsamer Personen aus einflussreichen Ämtern, aber auch zur Austragung persönlicher Fehden und im Kampf um lukrative Posten in der Verwaltung geöffnet. Auch sind ehemalige Mitglieder der Kommunistischen Partei, des Komsomol-Apparates und des KGB von der Lustration betroffen. Der Lustrationsprozess soll unter der Ägide des Justizministeriums vollzogen werden. Das Gesetz sieht kein zeitliches Ende für die Überprüfung von Personen vor, so dass man von seiner ständigen Anwendung mit dem Ziel ausgehen muss, politisch Andersdenkende, besonders solche, die für eine engere Beziehung zu Russland eintreten, aus dem Staatsapparat fern zu halten.
Das Gesetz schafft, wie es in einer Analyse des polnischen „Zentrums für Oststudien“ heißt, „einen Präzedenzfall, der jeglichen künftigen Machttransfer von den jetzt in der Ukraine herrschenden Kräften zur Opposition verhindert.“ Und weiter: „Ausgehend von der Stärke der lokalen politischen und bürokratischen Cliquen in der Ukraine ist wahrscheinlich, dass die Lustrationsprozeduren auf niedrigeren Ebenen oder an der Basis weder fair noch effektiv verlaufen werden…“.
Im politischen Spektrum der Ukraine sind die Initiatoren und teils fanatischen Befürworter der extremen Säuberungsaktion nicht nur unter den neonazistischen und rechtsnationalistischen Parteien auszumachen. Von besonderem Eifer ist der alte und wahrscheinlich neue Ministerpräsident Jazenjuk. Dagegen vermutet man, dass Präsident Poroschenko eher zum Jagen getragen werden musste. Zum einen konnte nur im letzten Moment verhindert werden, dass er als Mitbegründer und stellvertretender Vorsitzender der heute verfemten „Partei der Regionen“ (2001) sowie als Wirtschaftsminister (2012) unter Janukowitsch selbst lustriert worden wäre. Denn mit seiner Vita könnte er in der heutigen Ukraine nicht einmal in einer Kommunalverwaltung tätig werden. Zum anderen kann man ihm zubilligen, dass er die Gefahren einer massenhaften Entfernung von Spezialisten aus Staatsämtern für die innenpolitische Stabilität des Landes erkennt.
In einer von der regierungsnahen ukrainischen Nachrichtenagentur „UNIAN“ durchgeführten Umfrage teilten 50,7 Prozent ihrer Leser die Auffassung, dass sich im Ergebnis der Lustration nichts ändern werde, dass nur die „Prügelknaben“ betroffen seien, die tatsächlichen Missetäter aber auf ihren Posten verbleiben und weiter das Volk ausrauben werden. 18,3 Prozent erwarten, dass es gelingen wird, sich von den größten Gaunern und korrupten Beamten zu befreien. Weitere 18,1 Prozent erwarten, dass es zwar weniger korrupte Beamte geben wird, aber gleichzeitig einen Mangel an erfahrenen Spezialisten und 13 Prozent erwarten, dass alles nur noch schlimmer wird, da neue Leute sich bereichern und das Land noch stärker ausrauben werden als ihre Vorgänger.
Obwohl von offizieller Seite der erste November als Beginn der Lustration benannt wurde, hat die Abrechnung mit den Verfemten bereits eingesetzt. Das Justizministerium hat eine ständig ergänzte Liste aller Lustrierten mit Namen, ehemaligem Arbeitsplatz, Grund der Lustration und Dauer seines Berufsverbots ins Internet gestellt. Ende Oktober befanden sich bereits 318 ehemalige Beamte auf der Liste. Die gefeuerten Offiziellen müssen sich zusätzlich einer „Vermögenslustration“ unterziehen, was bedeutet, dass sie und ihre Familienangehörigen die Legalität der Mittel nachweisen müssen, mit denen sie während ihrer Amtszeit Vermögen erworben haben.
Das Gesetz verstößt gegen mehrere Verfassungsgrundsätze der Ukraine. Sollte es wirklich gelingen eine vom Staat unabhängige Judikative zu schaffen, stünde dem Land eine Welle von aussichtsreichen Verfahren bis hin zum Verfassungsgericht ins Haus. Sieht man vom Zweck der politischen Rache ab und legt allein das Ziel der Korruptionsbekämpfung zugrunde, dürfte das Gesetz sein Ziel verfehlen. Schließlich wäre es naiv zu glauben, dass sich alle korruptionsanfälligen Ukrainer in der Janukowitsch-Administration versammelt hatten, während die hehre politische Ziele verfolgenden Individuen an der politischen Spitze nunmehr die Korruption ausmerzen werden. Korruption ist keine Frage von „Guten“ und „Bösen“, sondern Folge eines Systems, das individuelle Bereicherung als höchstes Erfolgskriterium feiert.
Das Ergebnis der Wahlen vom 26. Oktober lässt keine Schlüsse auf eine Abschwächung der Lustrationspraxis zu, es sei denn, der Mangel an Verwaltungsfachkräften würde mit der Zeit so groß, dass eine Anpassung aus rein pragmatischen Erwägungen erforderlich wäre. Von den fünf als Maidan-Parteien titulierten politischen Kräften in der neuen Werchowna Rada (Block Poroschenko, Volksfront von Jazenjuk, Samopomitsch des Bürgermeisters von Lwiw, Radikale Partei von Oleg Ljaschko und Batkivtschina von Timoschenko), könnte mit gewisser Vorsicht lediglich von dem amorphen „Block Poroschenko“ eine gewisse Kompromissbereitschaft und Flexibilität erwartet werden. Die ursprüngliche Absicht von Poroschenko war, mit einem überzeugenden Wahlergebnis auch den künftigen Regierungschef (Kandidat war Wladimir Groisman)zu stellen. Damit hätte das Land aus einer Hand vom Präsidialamt regiert werden können. Schließlich scheiterte schon die „orangene Revolution“ am Machtkampf zwischen Präsident und Ministerpräsidentin. Diese Option wurde Poroschenko durch den Wähler verbaut. Im Ergebnis sind zwei etwa gleichwertige Machtzentren mit gleichstarken Führungskräften entstanden. Poroschenko selbst sah sich nunmehr gezwungen, Jazenjuk als künftigen Ministerpräsidenten vorzuschlagen, wobei er eine breite Koalition aller fünf Maidan-Parteien anstrebt, vielleicht in der Hoffnung, dadurch den Einfluss von Jazenjuk zu relativieren. Allerdings zeigt sich jetzt schon, dass Poroschenko bereit ist, radikalere Töne anzuschlagen, um gegenüber seinen extrem nationalistischen Partnern nicht ins Hintertreffen zu geraten. Jüngstes Indiz ist seine Ankündigung, das in Minsk vereinbarte Gesetz über den Sonderstatus der von Separatisten gehaltenen Gebiete der Ostukraine wieder aufzukündigen.
Die Einschätzung des Kiewer Soziologen Denis Kirjuchin zu den Rada-Wahlen dürfte des Pudels Kern treffen: „Heute befinden sich die gleichen politischen Kräfte an der Macht, nur mit einem geänderten Image. Alle Vertreter des großen Kapitals sind geblieben. Es hat sich nur das Kräfteverhältnis zwischen den großen finanziellen und wirtschaftlichen Gruppen verschoben. Wenn zuvor im Parlament die Interessen der Gruppen (von ukrainischen Oligarchen – W.K.) um Lewotschkin, Firtasch und Achmetow stärker vertreten waren, ist in der neuen Rada die Mehrheit in den Händen von Kolomojski.“ Auch hat das Land einen Oligarchen zum Präsidenten, der neben seinem Schokoladenimperium und vielen anderen Geschäften, eigene Medien, darunter mit „Kanal 5“ einen eigenen Fernsehsender besitzt.
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