von Ulrich Busch
Karl Marx hielt ihn für einen „geistlosen Eklektiker“ und „albernen Sophisten“, der sich sein Leben lang vergeblich bemüht hat, „Unversöhnbares zu versöhnen“. Eduard von Hartmann kritisierte sein Harmoniestreben als „unglaubliche Verwirrung und Gedankenlosigkeit“, worin jede Klarheit fehle und durch „Verschwommenheit der oberflächlich gefassten Begriffe alle Gegensätze abgestumpft“ würden. Friedrich Nietzsche tat ihn ab als einen „Flachkopf“ und Mann von bloß „mittelmäßigem Geiste“, den zu lesen sich kaum lohne. Siegmund Freud dagegen würdigte ihn als den „Mann des Jahrhunderts, der es am besten zustande gebracht hat, sich von der Herrschaft der gewöhnlichen Vorurteile frei zu machen“. Zeitgenössische Urteile bestätigen diese Sicht und heben gerade das als lobenswert hervor, was frühere Krittler als kritikwürdig empfanden: seine politische und ideologische Unvoreingenommenheit, seine Kompromissbereitschaft, sein Harmoniestreben, die Bereitschaft zum Ausgleich, seinen Fortschrittsglauben und liberalen Reformismus und seine praktische politische Betätigung.
Es darf daher nicht verwundern, dass in Zeiten revolutionärer Abstinenz, allgemeiner Veränderungsmüdigkeit und des Verzichts auf radikale Schnitte in Wirtschaft und Gesellschaft Gestalten wie John Stuart Mill (1806-1873) wieder stärker ins Blickfeld rücken. Seine Reformideen könnten Beispiele dafür sein, wie dringliche Fragen der menschlichen Existenz einer Lösung zugeführt werden könnten, ohne dass dadurch das System der kapitalistischen Produktion gefährdet wird. Ferner, wie man durch kluge Kompromisse etwas bewegt, ohne dass es dadurch zu einem für beide Seiten ruinösen Kräftemessen kommt. Und, wie man die Ökonomie derart „zwischen Science und Art“ platziert, dass sie weder wirklichkeitsfremde Modelltheorie noch theoriearme Politik ist. All das hat Mill geleistet oder wenigstens angestrebt. Es ist daher kein Zufall, dass in der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Theorie gegenwärtig eine wahre Mill-Renaissance zu beobachten ist. So gibt es in Deutschland derzeit gleich zwei parallele Editionsvorhaben: eine fünfbändige Auswahl seiner Werke, herausgegeben von Ulrike Ackermann und Hans Jörg Schmidt im Murmann Verlag, und eine ebenfalls fünf Bände umfassende Ausgabe der Ökonomischen Schriften von J. St. Mill, herausgegeben von Hans G. Nutzinger unter Mitarbeit von Michael Aßländer und Dieter Birnbacher beim Metropolis Verlag. Einleitend dazu veröffentlichte der Metropolis Verlag jetzt ein Buch mit dem Titel „Ökonomie Nach-Denken. Zur Aktualität von John Stuart Mill“, welches die Beiträge eines Workshops mit den beiden Editionsvorhaben verbindet.
In einem Beitrag von Michael Aßländer wird das Denken und Werk Mills in den Kontext der ökonomischen Debatten seiner Zeit gestellt. Mill erscheint hier – anders als bei Marx – als ein Vertreter der Aufklärung und als Vollender der Klassik, dem es darum ging, „die Ökonomie als eigenständige Wissenschaft mit klar umrissenem Forschungsprogramm und eigener Methodik zu etablieren“. Wichtig ist die Feststellung, „dass die Gesellschaftswissenschaft notwendig deduktiv“ sein müsse, eine Erkenntnis, welche die Sozialwissenschaften heute nicht mehr teilen, vielleicht aber auch nur vergessen haben. Bemerkenswert ist, dass Mill sich für eine Ökonomie als strenge Wissenschaft ausspricht, niemals aber für eine Wertfreiheit derselben. Als politische Ökonomie bleibt sie für ihn „eine soziale und moralische Wissenschaft“
Im folgenden Beitrag untersucht Dieter Birnbacher Mills Position als „politischer Denker“. Dazu gehört auch, dass er sich durchweg als „öffentlicher“ Denker verstand, das heißt alle seine Ideen und Analysen öffentlich machte und in der Öffentlichkeit diskutierte. Dabei sind insbesondere seine sozialpolitischen Vorschläge niemals dogmatisch, sondern immer praktisch und experimentell. „Mills methodisches Modell ist nicht die Theologie, sondern die Naturwissenschaft.“ Als Parlamentarier wirkte er aktiv an vielen Reformprojekten mit, auch wenn er als „Philosoph“ dort etwas aus der Rolle fiel und gegenüber den gewöhnlichen Politikern durch seine Intelligenz auffiel. Einen besonders nachhaltigen Beitrag leistete Mill auf dem Gebiet der Ökologischen Ökonomie. Die Grundlage dafür bot sein Herangehen an zentrale Fragen der Ökonomie aus der Sicht der Verteilung. Diesen Ansatz verfolgt übrigens auch Thomas Piketty, von dessen „Kapitalismus im 21. Jahrhundert“ gegenwärtig viel Aufhebens gemacht wird. Als Verteilungstheoretiker formulierte Mill zahlreiche Reformvorschläge, die letztlich auch das ökonomische Wachstum tangieren und die auf ein nachhaltiges Wirtschaften abstellen. Für all diese Vorschläge wird aber eine theoretische Begründung gefordert, denn allein „die richtige Gesinnung“ zu haben reiche, so Mill, niemals aus, um wirklich etwas zu verändern, betont Ulrich Hampicke im vorliegenden Band. Aber Mill und die gegenwärtige Ökologische Ökonomie haben auch gemeinsam, dass „im Rahmen des bestehenden Theoriegebäudes argumentiert wird“. Das heißt, es gibt hier „keine revolutionäre Grenzüberschreitung wie etwa bei Marx“.
Ein besonderer Stellenwert kommt bei Mill dem Begriff der wirtschaftlichen und politischen Freiheit zu. Von ihm aus argumentiert er gegen die mannigfachen Einschränkungen, welche planwirtschaftliche Formen des Wirtschaftens implizieren. Mit ihm begründet er auch seine Vorstellung von einem „liberalen Sozialismus“ und seine Sympathien für Genossenschaften – im Unterschied zu zentralistischen Staats- und Wirtschaftsmodellen. Das Buch erinnert an einen zu Unrecht vernachlässigten Denker; zugleich wirbt es für die unvoreingenommene Lektüre seiner zahlreichen Schriften.
Hans G. Nutzinger/Herwig Unnerstall und Gotlind Ulshöfer (Hrsg.): Ökonomie Nach-Denken. Zur Aktualität von John Stuart Mill, Metropolis Verlag Marburg 2014, 193 Seiten, 22,80 Euro.
Schlagwörter: Dieter Birnbacher, Hans G. Nutzinger, John Stuart Mill, Michael Aßländer, Ökonomie, Reform, Ulrich Busch