17. Jahrgang | Nummer 23 | 10. November 2014

„Die letzten Tage der Menschheit“

von Arthur G. Pym

Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden,
sind wirklich geschehen […] Die unwahrscheinlichsten Gespräche,
die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden;
die grellsten Erfindungen sind Zitate.
Karl Kraus
„Die letzten Tage der Menschheit“,
Vorwort

Dieses „vielaktige satirisch-dämonisch-titanenhafte Werk“, wie es der Journalist und Filmproduzent Max Schach 1920 in einer Besprechung nannte, – eine bitterböse, abgründige Tragödie in fünf Akten mit Vorwort und Epilog – hat Karl Kraus in den Jahren ab 1915 aus über 200 Szenen montiert, deren Klammer und roter Faden die Grauenhaftigkeit, der Wahnwitz und die Absurdität des Krieges, insbesondere der modernen Kriegführung sind. Die ersten Szenen veröffentlichte der Autor in seinem kultur- und zeitkritischen Periodikum Die Fackel ebenfalls bereits ab 1915. Bei Erscheinen der Buchausgabe schrieb man das Jahr 1922.
Mit der im Vorwort angesprochenen Authentizität war es Kraus ernst: Vielfach hat er Zitate aus der Presse, militärischen Tagesbefehlen, Gerichtsurteilen und anderem mehr verwendet. Sie sollen etwa ein Drittel des Textes ausmachen.
Das Stück, dessen Aufführung „nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde“, wie Kraus selbst addierte, hätte sich dem Theater gleichwohl nicht entziehen müssen. Max Schach: „Es scheitert nicht an dem Widerstand der Theaterdirektoren. Reinhardt und andere haben sich um das Werk beworben, aber der Autor hat es als zur Aufführung ungeeignet abgelehnt.“ Der hatte es für Leser gedacht. Und für Hörer. Kraus selbst hat Auszüge vielfach vorgetragen* – in halb Europa, vor allem in Österreich und Deutschland, aber auch bis Prag und Paris. (Erst 1928 legte er dann doch noch – auf Drängen Dritter – eine sehr stark gekürzte Bühnenfassung vor.)
Heute gibt es kongeniale Einspielungen aus den Jahren von 1962 bis 1975 im Umfang von immerhin fünf CDs mit dem stimmgewaltigen Helmut Qualtinger**, der zugleich über ein gerüttelt Maß an parodistischem Talent verfügte und jede Gestalt des Stückes mit eigener Stimme sprechen lässt. Nicht selten schmierig, um die sich oft nur oberflächlich über einen Abgrund von Egoismus, Bösartigkeit und Chauvinismus breitende Gemütlichkeit des Österreichischen und seiner Landleute zu demaskieren. (Wie es zu tun sich zum Beispiel auch Ödön von Horwath, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, oder Georg Kreisler, „Wie schön wäre Wien ohne Wiener“, „Der Tod muss ein Wiener sein“, angelegen sein ließen.)
Nun also Corinna Harfouch im Schloss Neuhardenberg. Im schlicht-eleganten schwarzen Etuikleid, schmuck- und schnörkellos, wie man sie von Soloauftritten kennt, betrat sie die Bühne, nahm Platz, und was sie bot an interpretierender Lesung war einmal mehr von hoher Meisterschaft. Minimalistisch in der Gestik, das Spiel mit der Stimme hingegen atemberaubend, unter die Haut gehend.
Insbesondere wer Corinna Harfouch als Harras in Zuckmayers „Des Teufels General“ an der Berliner Volksbühne gesehen hat oder als Magda Goebbels in „Der Untergang“, der wird sich bei der nachfolgenden Passage aus der 10. Szene des IV. Aktes – „Isonzofront. Bei einem Brigadekommando. Nach Tisch.“, einem Monolog der einzigen Kriegsberichterstatterin des k. u. k. Kriegspressequartiers, Alice Schalek – unschwer eine Vorstellung davon machen können, mit welcher manischen Euphorie und zugleich nachgerade aasiger Lüsternheit auf Frontgemetzel die Aktrice den Text zum Vortrag brachte:

„Die Schalek (steht umgehen von Offizieren):
Schritt für Schritt bin ich jetzt die Front am Isonzo längs des Görzer Abschnittes abgegangen. Alles haben sie mir gezeigt! Also was ich da erlebt hab! Die im Hinterland sitzen, können sich das gar nicht vorstellen. Nach langem Bitten bekam ich also die Erlaubnis mitzugehen. Ich fühlte, wie die Freiwilligkeit die Last erschwert. Daß ich nicht mitgehen muß, verursacht den innern Hader. Zur angegebenen Stunde, um 5 Uhr nachmittags, melde ich mich beim General als abmarschbereit. Ich bitte darum, mit einem Herrn gehen zu dürfen, der ohnedies heute in Stellung muß. Durch mich soll keiner gefährdet werden, von dem es der Dienst nicht verlangt! Ein blutjunger Leutnant, der über die sich eröffnende Abwechslung seelenvergnügt ist, biegt mit mir am Fuße des Berges ab, den wir umgehen, um ihn dann von der Flanke anzufassen. Vorher bekomme ich den Befehl, punkt 9 Uhr wieder an der Ausgangsstelle zu sein. Tiu, tiu, tiuuu – geht es uns von der Seite an. Und plaudernd bummelten wir durch die Mondnacht wiederum heim. Aber dann! Beim Artilleriebeobachter der Podgora bin ich gesessen, atemlos harrend, was sich in seinem Abschnitte begeben würde. Nun, eine Bejahung der Instinkte, eine Betonung der Persönlichkeit hat Platz gegriffen, wie sie nie vordem hätte gezeigt werden dürfen. Oberhalb der Parkmauer des Schlosses bin ich beschossen worden. Wir stehen da, ohne Regung. Mag der Feind uns sehen! Kein Wort haben wir noch gesprochen. Jetzt sehe ich ihn an. Dünn ist er und blaß. Nicht viel über Zwanzig. Etwas Sonderbares geht in mir vor. Ich sehe den Leutnant an; Volksschullehrer ist er in einem ungarischen Dorf. Und wie ein blendendes Licht steigt in mir eine Erkenntnis auf. Während des Trommelfeuers auf dem San Michele erleuchtet ein neues Verstehen jede Windung meines Gehirns. Der Leutnant ahnt nicht, wie seine Haltung auf meine Erkenntnis wirkt. Er sieht mich an und lächelt. Er fühlt, daß ich mit ihm denke, unsere Nerven schwingen während des Trommelfeuers im Takt. Es klingt wie eine Solonummer im Orchester … Tk, tk, tk – geht es los … Der erste Ton ists des Morgens, wenn ich um halb vier aufstehe, um in die Stellung zu gehen. . Tiu, tiu, tiu – tk, tk, tk – kings! … Aber auch nicht der Gedanke daran, daß man ungehorsam sein, den Befehl mißachten könnte, kommt einem von uns beiden in den Sinn. Die ungeheure Triebkraft eines Befehls verspüre ich jetzt am eigenen Leib. Der Leutnant bleibt stehen. Eine Nachtigall lockt und die Akazien duften betäubend. Jetzt freilich kommt es von der andern Seite; nicht mehr so peitschend und eilig, sondern langsam brüllend, fast hohnvoll singend. Der Leutnant zerrt mich an die Wand. Wu – wu – wu – Ein Blindgänger war’s … Kein Gedanke daran, stehen zu bleiben oder Deckung zu suchen. Befehl: Um neun Uhr stellig zu sein. Zum erstenmal kann ich ganz mit der Mannschaft fühlen. Was für eine Erleichterung ist ein Befehl! Wunderbar leicht kommt man durchs Feuer, wenn der Befehl es heischt. Wohl jenem Volk, das im Befehl leben dürfte, vertrauend, gläubig, daß der Befehl auch der richtige sei, von den Besten der Besten ersonnen; so wie es hier der vorwärtsdrängende und jeden Rückfall abschneidende, das Eigentum schützende Befehl vom Isonzo ist! Verwundete holen uns ein … Einer ist taubstumm geworden. Er winkt und deutet, was ihm geschah. Die Autos warten und bald sind wir im Quartier. Der Tisch ist gedeckt und in dampfenden Schüsseln wird das Mahl aufgetragen. In jedem Auge steht noch der Abglanz des Erlebnisses. Aber wir essen ganz tüchtig und schlafen prächtig und nächsten Mittag spielt die Militärmusik bei der Offiziersmesse auf. Wir haben ja den benötigten Graben. Im Freien wird gespeist, die Spargel schmecken gar köstlich und süße Walzermelodien wetteifern mit dem Kuckuck und mit dem Specht … In Rom erfährt Salandra wohl nichts, als daß er heute einen Graben verlor. Nun, das Trommelfeuer auf dem Monte San Michele hatte ich hinter mir. Am nächsten Tag aber gings noch einmal hinaus. Interessant sind die Verwundetenzüge. Die Leichtverletzten nehmen noch Haltung an und salutieren, andere heben matt den Blick und versuchen, mit der Hand nach der Mütze zu fahren, viele aber liegen unbeweglich, haben den Mantel übers Gesicht gezogen und sehen und hören nichts … Das Gefecht ist zu Ende. Wir können also gehn. Andern Tags dachte ich, ach was, den Monte San Michele läßt du heute rechts liegen. Heute führt mich mein Weg zur Nachbardivision, zu den ungarischen Truppen des Heeres. Leichengeruch weht über die Straße weg. Kein Korso einer Großstadt ist so menschenbelebt wie diese granatenbestrichene Straße. Hier liegen seit acht bis zehn Monaten zwischen den Stellungen ganz mumifizierte, durchlöcherte Leichen. . Die Gräben sind eng, fast nur mannsbreit und die Leute schlafen langausgestreckt auf ihrem Grunde. Man steigt über sie weg, aber sie wachen nicht auf. . Sechs Einschläge zählen wir und eine rasche Aufnahme gelingt. Ich darf durch einen Panzerschild hinausschauen und den Trichter bestaunen … Beim Bataillonskommandanten bekomme ich ein Glas Eierschnaps. Das tut wohl. Die Nerven vibrieren doch von dem ewigen Krachen ringsum. ‚Decken Sie frisches Zeitungspapier auf‘, ruft der gastfreie Offizier. (Offenbar eine Galanterie für mich.) Sechs Schüsse – sechs Volltreffer … Platte auf Platte fülle ich mit Bildern für die Zukunft. . Und dann zurück hierher. Beim Brigadier wartet ein Frühstück auf uns; dankbar nehme ich’s an. Das war aber ein Frühstück –! Weil mich Cadorna heute wiederum verschonte, weil die Granate wiederum gerade um ein Viertelstündchen zu spät kam, gab’s eine Flasche echten Champagners und als besonderen Lohn eine Dose wirklichen Kaviars. Knusprige Kipfel und bunte Blumen, Radieschen und ein Damastgedeck – solche Kontraste gibt’s nur an der Front!“

Nach wenigen Sätzen schon, als klar wurde, wohin das läuft, stockte dem Publikum der Atem. Hätte die Harfouch plötzlich geschwiegen, jede zu Boden gehende Stecknadel wäre glockenlaut in die Stille gefahren. Der ganze Saal – eine einzige Gänsehaut.
Der Schlussapplaus des Publikums entsprach mehreren Vorhängen auf großer Bühne. Mit einer verweisenden Verneigung teilte Corinna Harfouch die Ovation mit dem Dichter.

* Eine Szene im Original zu hören ist auf der CD „Karl Kraus liest aus seinen Schriften“, Membran Music Ltd. 2006.
** „Qualtinger liest Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit“, Preiser Records 1999.

Das Programm der Stiftung Schloss Neuhardenberg findet sich im Internet.