Über die politische Kultur der Gegenwart
von Günter Gaus
Ich bin kein Demokrat mehr. Mir fehlt nicht viel deswegen. Das wäre früher undenkbar gewesen. Wie hätte man kein Demokrat sein können? Natürlich stehe ich weiterhin auf dem Boden der FdGO. Ich bin also kein Fall für den Verfassungsschutz Otto Schilys, dem wir unsere innere Sicherheit anvertraut haben. Für die Nachgewachsenen und auch für die aus dem Osten neu Hinzugekommenen muss ich altgewohnter Bundesrepublikaner wohl erklären, was die Buchstaben FdGO abkürzen: freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Als vor mehr als dreißig Jahren, um das Jahr 68 herum, aufmüpfige westdeutsche Studenten und Taxifahrer wie Joschka Fischer viel demonstrierten und die Sicherheitsorgane der BRD viele Demonstranten fotografierten, um Belege für Überprüfungen wegen etwaiger Berufsverbote zu sammeln; ach, was wir schon alles getan und vergessen haben – zu jener Sturm- und Drangzeit der Bundesrepublik war es gängiger Hohn unter aufgeweckten jungen Leuten, im Studentenheim oder in einer Kneipe nach hitzigen Debatten für gemutmaßte Mikrofone des Verfassungsschutzes zu beteuern: „Und außerdem stehe ich fest auf dem Boden der FdGO.“ Das hat gewiss auch Gerhard Schröder gelegentlich gerufen, es garantierte immer einen Lacher im Kreis der Gleichgesinnten, als er noch als Juso der sozialen Gerechtigkeit hinterher war.
Nur zwei Mal in meinem Leben habe ich mich bisher daran erheitern können, dass der feste Standpunkt auf dem Boden der FdGO allen Ernstes, ohne jeden Anklang von Hohn und Spott und Selbstverspottung, als Begründung für ein bestimmtes Verhalten und eine Berufsausübung genannt worden ist. Vorgetragen ohne jede Scheu vor der Gestelztheit der Aktenfloskel, die doch unfreiwillig komisch ist. Freilich kann sie auch durchaus einen inquisitorischen Tonfall annehmen: „Es gibt Zweifel, dass Sie…Wir haben Sie fotografiert…“ Anfang der sechziger Jahre beruhigte mich Wolf Dietrich, der erste Chefredakteur des ZDF, dem seine Verwurzelung im rechten Rand der CDU zu einer leitenden Position im „Herz-Jesu-Fernsehen“, wie man seinerzeit sagte, verholfen hatte – Wolf Dietrich also beruhigte mich im Blick auf meine damalige Anstellung bei der linksliberalen Süddeutschen Zeitung, er könne und werde abweichende Meinungen ertragen, so lange der Andersdenkende auf dem Boden der FdGO stehe. Wörtlich so.
Das zweite Mal geschah es erst unlängst auf einer größeren Geselligkeit. Eine junge Frau, Mitte dreißig, ihr nicht viel älterer Lebenspartner und ich wurden einander vorgestellt. Die Rede kam auf den Beruf der jungen Leute, beide amteten als Staatsanwalt. Ganz ohne Hintersinn, frei von jeder Unterwanderungsabsicht, nur um ein Gespräch im Stehen, ein Glas in der Hand, so fortzuführen, dass die beiden von sich reden könnten, fragte ich sie, ob denn der alltägliche Umgang mit Anklagen, mit der dunklen Seite des Lebens, aufs Gemüt schlage? Die Herrschaften blitzten mich an, die Dame verlautbarte, ihr Partner nickte dazu mehrmals bekräftigend, sozusagen lauthals, mit dem Kopf: Wenn man – von hier an wörtlich wiederholt – „auf dem Boden der FdGO steht“, mache solche Pflichterfüllung keine Beschwer. Eine Abfuhr, die ich bis dahin nicht für menschenmöglich gehalten hatte: Mein Herr, Sie haben unseren Beruf fixiert. Für Zweifler: Die Namen der beiden Feststehenden sind mir bekannt. Ich strebte ohne Aufhebens von ihnen fort. Sahen sie mir nach? Ich versagte mir einen Blick über die Schulter zurück. Welche Art Anklagen erhoben die beiden jungen Menschen? Oder wussten sie etwas von mir, was ich selber noch nicht wusste und dessentwegen sie mir das faltenlose Ruhekissen ihres Gewissens präsentierten?
Und nun berufe ich mich vorsorglich darauf, vom Boden der FdGO nicht zu weichen, auch wenn meine rationale wie emotionale Grundierung eines Demokraten seit einigen Legislaturperioden zunächst verblasste und inzwischen gänzlich von mir abgefallen ist. Ich kann auch sagen: Natürlich bin und bleibe ich ein Legitimist in Bezug auf unsere Verfassung. Aber weiß ich, ob jeder öffentliche und geheime Wächter über unsere FdGO den Begriff „Legitimist“ versteht? Ich bleibe unverbrüchlich der republikanischen Staatsform verbunden. Zuverlässiger wohl als manche demokratischen Politiker, die vor meinen Augen aufblühten, als letztes Jahr ein Hohenzoller auf dem Berliner Empfang zum 3. Oktober durch die Saaltür trat. Und dem Föderalismus werde ich verfassungstreu weiter anhangen. Wer wie ich die Erkenntnis nicht länger verdrängt, dass die Demokratie sich selbst verloren hat, der fürchtet mehr als andere den Zentralismus von Macht, die nicht vom Föderalismus aufgeteilt wird. Das Gewaltmonopol des Staates zu respektieren, ist mir in unserer vergleichsweise besten aller Welten auf der Erde selbstverständlich.
Das Befremdetsein von Freunden über meine Selbstanzeige, ich sei kein Demokrat mehr, hat mich gelehrt, eine ungestellte Frage zu beantworten: Nein, ich bin nun weder Faschist noch Kommunist. Beide Bewegungen sind, bei allen Unterschieden, Äste am Baum des demokratischen Zeitalters, das ja in seinen guten Tagen und seiner geglückten Form viel Nützliches, Segensreiches, Wertvolles für unterprivilegierte Menschen mit sich gebracht hat. Der Kalte Krieg hat die korrekte Bezeichnung unserer demokratischen Variante, die „pluralistische Demokratie“, zum Feldgeschrei „Demokratie“ als Alleinvertretungsanspruch verkürzt, wodurch der kommunistische Trieb aus der gemeinsamen Wurzel gekappt werden sollte. Als Kind, Liebhaber und Hinterbliebener der Aufklärung ist mir jede Art des Faschismus ekelhaft und zuwider, weil er aus Ängsten vor der Moderne, die Terror erzeugen, mit demokratischer Massenhaftigkeit in eine Zeit vor der Aufklärung zurück strebt. Der Kommunismus, wie er real existierte, wurde vom alten Adam und der alten Eva betrieben – und danach war er auch. Von den Idealen des Kommunismus hat mich stets getrennt, dass ich, lutherisch geprägt, an den neuen Menschen nicht glauben konnte, dessen sie zu ihrer Verwirklichung bedurft hätten. Und den womöglich die Welt zu ihrem Überleben braucht.
An meinem Sozialverhalten wird sich nichts Auffälliges verändern. Selbstverständlich nehme ich nicht mehr an Wahlen teil. Aber mit diesem Abseitsstehen gehe ich ja schon in einer beträchtlichen Menge unter. Das Spielchen – ich gehe nicht, dann schlägt mir mein demokratisches Gewissen und ich gehe doch ins Wahllokal, wähle schließlich diese, um jene zu bestrafen – es ist endgültig vorbei. Aber ich werde weiterhin gehörig Respekt vor der Bild-Zeitung haben und meine kriminelle Energie wird sich nun nicht auf Steuerhinterziehen erweitern, das ist mir viel zu demokratisch, sondern bleibt beschränkt auf unerlaubtes Parken und gelegentliche Geschwindigkeitsüberschreitungen.
Mein Abschied von der Demokratie – ein letztes Mal versichert: ohne den Boden der FdGO zu verlassen – ist im Geistigen zu vergleichen mit der Entrümpelung eines Hauses, bevor man es verlässt und ins „Augustinum“ zieht. Wenn man alt genug geworden ist, um alle Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung des Menschen aufgegeben zu haben, dann bleibt einem als intellektuelle Anstrengung nur noch das Vergnügen, sich selber nichts mehr vorzumachen. Und für die Öffentlichkeit niedergeschrieben habe ich das „Servus, Demokratie“, weil ich als bundesrepublikanischer Staatsdiener bei der DDR nicht ohne Mitleid erlebt habe, dass sich dort manche idealistisch gesinnten Menschen damit gequält haben, ihre bitteren, sie bekümmernden Einsichten in das Konkrete des real existierenden Sozialismus unausgesprochen zu lassen. Ich definiere Freiheit gern so: Das Maß an Freiheit lässt sich ablesen an der Zahl der Lippenbekenntnisse, die einer leisten muss, damit man ihn in Frieden lässt. Es waren gar nicht so viele in der DDR, wie wir uns im Westen schmeicheln. Wie viele und welche habe ich in unserer Demokratie nötig?
Sind es Vetternwirtschaft und Bereicherung, die mich abspenstig gemacht haben? Ach, nein. Das gänzlich selbstlose Dienen des Adels gehört als Behauptung zu der Gehirnwäsche, der sich ein nach oben schielender Teil des Bürgerstandes unterworfen hat. Wie die Kesselflicker haben preußische Generäle nach den Freiheitskriegen ungeniert und keineswegs diskret darüber gestritten und gerechtet, wie hoch die eigene Dotation und die der anderen gewesen ist. Und dieser Text war schon geschrieben, bevor das Hamburger Rathaus zur Vorstadtschmiere mutierte.
Ich bin vor allem deswegen kein Demokrat mehr, weil aus dem gesellschaftlichen Zusammenwirken von Wählern und Gewählten mehr und mehr eine Schauveranstaltung geworden ist. Stars, aus dem Fernsehen bekannt und ausgewählt nach dem Gelingen ihrer Auftritte, buhlen von Zeit zu Zeit um die Gunst des Publikums, das einst seinem Anspruch nach der demokratische Souverän gewesen ist. Unter Wahrung der demokratischen Formen ist der Inhalt dieses politischen Systems gegen wechselnde Events ausgetauscht worden.
In meinem befreundeten Umfeld verstehen nicht alle, warum die Inbesitznahme der Demokratie durch das Fernsehen mich zum distanzierten Beobachter des politischen Treibens hat werden lassen. Was soll schon dabei sein, wenn das Fernsehen die Politik auflockert? Es gibt schlechtere TV-Shows als Sabine Christiansens Beinüberschlag und ihr Talent, den sachlichen Faden, wenn sie ihn einmal in die Hand bekommen hat, an der falschen Stelle abzureißen. Darf die Demokratie denn nicht lustig sein und Spaß machen? Ganz im Gegenteil: Sie muss es unbedingt. Dies liegt im Interesse der Manipulateure des Souveräns.
Über Wilhelm II. hieß es: „Majestät braucht Sonne“, mit welcher Begründung dem Kaiser gewisse Kenntnisse von politischen Fehlentwicklungen vorenthalten wurden. Heute soll das souveräne Wahlvolk unterhalten werden; geübte Wahlkampfanimateure haben daraus die Lehre gezogen: Zerstreut es. Das Funktionieren einer Demokratie aber gründet sich auf die Bereitschaft des Souveräns, sich gelegentlich beim Gewinnen von Einsichten in das politische Tun und Lassen und dessen Konsequenzen anzustrengen. Schneller als gedacht wird die Verflachung der Politik in den Massenmedien ein bisschen amüsieren, schließlich langweilen und abstumpfen – und in jedem Falle das gleiche und allgemeine Wahlrecht aushöhlen. Ich bin kein Demokrat mehr. Wie einst das Drei-Klassen-Wahlrecht bestimmte Interessen begünstigte, so wird die Wahlausübung des bei Laune gehaltenen Fernsehpublikums interessengesteuert sein von gesellschaftlichen Gruppen, die selber wenig fernsehen.
Erstveröffentlichung in der Süddeutschen Zeitung, 23. August 2003. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schlagwörter: Demokratie, Events, FdGO, Freiheit, Günter Gaus, Manipulation