von Conrad Schuhler
1. Am Anfang steht:
Die Welthandelsorganisation (WTO) funktioniert nicht im Sinne der Erfinder
Eine zentrale Institution in der „global governance“ , dem globalen System politisch-ökonomischer Regulation, stellt die Welthandelsorganisation (World Trade Organisation, WTO) dar. Sie wurde 1995 als Nachfolgerin des GATT (General Agreement on Trade and Tariffs) gegründet. Das GATT, auch heute noch als Teil der WTO gültig, entwickelte bereits, ganz im Sinn der globalen Investoren, die Prinzipien des „Freihandels“: das Verbot staatlicher Handelsbeschränkungen, die Senkung von Zollsätzen, die Meistbegünstigung – jede Vergünstigung für einen Partner muss für alle gelten – und die Inländerbehandlung – kein ausländischer Wettbewerber darf schlechter gestellt werden als Inländer. Mit der WTO wurde eine wuchtige Behörde geschaffen, die ihrer Satzung entsprechend diese Liberalisierung des Welthandels vorwärtstreiben sollte. Noch in ihrem Geburtsjahr 1995 wuchsen ihr die Kontrolle über den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services, GATS) und der „Schutz des geistigen Eigentums“ (Trade-Related Aspects of Intellectual Rights, TRIPS – Patente, Urheberrechte und ähnliches) zu. Alles bestens, musste sich der Investor sagen, der gerade dabei war, seine Mittel auf die profitabelsten Regionen der Welt aufzuteilen.
Doch das WTO-System funktionierte nicht. Der Gründe gab es viele.1
Einer lag in der schnellen Entwicklung der globalisierungskritischen Bewegung mit Attac, die anlässlich der WTO-Ministerkonferenz 1999 dort den Globalisierungseliten die „Battle of Seattle“ lieferte. Nach der nächsten Minister-Konferenz in Doha erklärte die Internationale Union der Lebensmittel-, Landwirtschafts-, Hotel-, Restaurant-, Cafe- und Genussmittelarbeiter-Gewerkschaften (IUL) 2002, den Hintermännern der Doha-Runde „vehementen Widerstand zu leisten“, die „den Konzernen die Instrumente in die Hand geben, um ihre Macht auf Kosten demokratischer Rechte und der Rechte von ArbeitnehmerInnen und ihrer Gewerkschaften zu festigen und auszuweiten“.2
Die kapitalistische Globalisierung hatte in globalisierungskritischen Bewegungen, in Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) und Gewerkschaften einen Widerpart gefunden, der sie auch diesmal wieder, beim Konflikt um das TTIP, bedrängt und ebenso in die Enge treiben will, wie dies bei den Vorhaben der WTO der Fall war und ist.
Zum Widerstand der Globalisierungskritiker kam allerdings ein entscheidender Faktor hinzu: der Widerstand der Schwellen- und Entwicklungsländer gegen die vom Kapital der Metropolen diktierte Handelspolitik. Während die alten Metropolen – die USA/NAFTA, EU-Europa und Japan als dritter in der „Triade“ – in den beiden anderen zentralen Instituten der „Global Governance“ , der Weltbank und dem Weltwährungsfonds, sich über Stimmrechte, die ihrem Kapitalanteil entsprechen, in eine Veto-Position bringen, gilt in der WTO das Prinzip „ein Land, eine Stimme“ . Die WTO hat derzeit 160 Mitglieder, darunter auch China und Russland. Alle haben sich verpflichtet, ihre nationalen Gesetze den Regelungen der WTO anzupassen. Doch sollen diese Beschlüsse übereinstimmend gefasst werden. Jedes Land kann also theoretisch ein Veto einlegen. Diese eher theoretische Möglichkeit wurde aber ins Praktische verlängert, indem die Schwellen- und Entwicklungsländer sich als eigene Stimmengruppen organisierten, ohne deren Zustimmung die Metropolen nichts durchsetzen können. Eben deshalb strandeten auch alle Versuche der so genannten Doha-Runde, eine Agenda der USA und EU gegen die Interessen der Schwellen- und Entwicklungsländer durchzusetzen – von Doha 2001 über Cancún/Mecico, Hongkong, Genf bis Bali 2013. Die WTO ist seit langem unfähig, die Interessen des „Nordens“, der alten Metropolen USA und Europa, zufriedenstellend durchzusetzen. Deshalb haben sich diese einen anderen Weg überlegt.
2. Das Netz von Freihandelsverträgen rund um den Globus
Da man global mit WTO-Regelungen nicht voran kam, spannten die politisch-administrativen Eliten des Metropolen-Kapitals im Verein mit der Lobby der Transnationalen Konzerne (TNK) ein dichtes Netz von bilateralen bzw. regionalen Freihandels- und Investitionszonen um den Erdball. Im noch gültigen Strategiedokument der EU, „Global Challenge – Competing in the World“ heißt es: „Europa bleibt der WTO verpflichtet und arbeitet hart daran, die Verhandlungen so bald wieder aufzunehmen, wie es die Umstände in anderen Ländern erlauben.“ Der nächste Satz firmiert schon unter der Überschrift „Freihandels-Vereinbarungen“: „Freihandelsvereinbarungen (Free Trade Agreements, FTAs), können auf den WTO und anderen internationalen Regeln aufbauend weiter und schneller Offenheit und Integration vorantreiben, indem sie Probleme anpacken, für die die multilaterale Diskussion nicht bereit ist und indem sie den Grund legen für die nächste Stufe multilateraler Liberalisierung.“ 3
Unterhalb der blockierten WTO-Ebene ist so ein hochkomplexes Geflecht von Handels- und Investitionsabkommen entstanden. Ende 2013 wurden 3.200 solcher Abkommen gezählt, 90 Prozent von ihnen enthielten so genannte Investor-to-State Dispute Settlements (ISDS), Streitbeilegungsverfahren, die es Konzernen ermöglichen, Unterzeichnerstaaten in geheimen Tribunalen auf Schadenersatz zu verklagen.4
Alleine die Bundesrepublik Deutschland hat mehr als 140 solcher Abkommen ausgehandelt und alle enthalten ISDS-Vorschriften.5
Die EU-Kommission ist selbst eine der treibenden Kräfte dieser Zonen-Bildung. Ende März 2014 hatte die EU 48 solcher Verträge über Handel und Investitionen abgeschlossen, darunter vor allem mit Ländern in Lateinamerika, Afrika, dem Nahen Osten und dem Balkan. 82 weitere Verträge stehen kurz vor dem offiziellen Abschluss, u.a. mit Kanada (CETA), Japan, Brasilien und den USA (TTIP). Ein spezielles Investitionsabkommen mit China wird ebenfalls gerade verhandelt.6
Das Ziel all dieser hundert- und tausendfachen Verhandlungen ist es, den internationalen Verkehr von Waren und Kapital so multilateral wie möglich freizügig und „politikfrei“ bzw. demokratieresistent zu machen. Politische Entscheidungen nach den Vertragsabschlüssen sollen die Investitions- und Profitpläne, auch wenn die neuen politischen Regeln demokratisch zustande kommen, nicht stören dürfen.
Da die WTO vor allem von den Schwellen- und Entwicklungsländern blockiert wird, sucht man sich Koalitionen der Willigen zusammen. So gibt es seit 1998 den Energiecharta-Vertrag (Energy Charter Treaty, ECT), den 51 Länder unterzeichnet haben und der bindende ISDS-Regelungen enthält. Die USA und Kanada haben den Vertrag nicht unterzeichnet, Deutschland hingegen schon, weshalb es jetzt von Vattenfall in Sachen vorzeitiger Atomausstieg auf rund vier Milliarden Euro Schadenersatz verklagt wird.7
Ein weiteres multilaterales Projekt ist TISA (Trade in Services), zu dem im April 2014 in Genf die Verhandlungen von den „Wahren, guten Freunden von Dienstleistungen“ aufgenommen wurden. So bezeichnen sich die 50 teilnehmenden Staaten, darunter die USA, Kanada, Japan, Australien und natürlich die EU. Sie wollen das GATS ausweiten, das noch Ausnahme- und Schutzklauseln für Dienstleistungsbereiche enthält, die von hohem öffentlichen Interesse sind. Diese Klauseln sollen verschwinden ebenso wie die im GATS enthaltene Möglichkeit, Privatisierungen wieder rückgängig zu machen. „Auch die GATS-Regeln, die nationalen Arbeits- und Sozialgesetzen, Umwelt- und Verbraucherschutzbestimmungen bislang noch Vorrang vor einem deregulierten globalen Dienstleistungsmarkt einräumen, sollen gestrichen werden.“8
3. Die gefährliche neue Qualität von TTIP: der Westen formiert sich zur Wirtschafts-Nato – die Transnationalen Konzernen werden zu Subjekten des Völkerrechts, auch rechtlich zu den Herren der internationalen Beziehungen
3.1 TTIP, die Wirtschafts-Nato
Die Fülle von vorhandenen und anstehenden Handelsverträgen bringt selbst manchen Gutwilligen, und das heißt: Globalisierungskritiker, beim TTIP zu der Frage: Was soll die Aufregung, das gibt es doch schon alles? Doch sind TTIP und das auf der pazifischen Seite von den USA gleichzeitig betriebene TPPA (Transpazifische Partnerschaftsabkommen, heute in der Regel nur noch TPP) nicht bloß eine Fortführung der bisherigen reaktionären Liberalisierung des Welthandels. Es handelt sich um einen höchst gefährlichen Quantensprung.
Zwar gibt es viele FTAs, aber das angestrebte TTIP hätte ein einmaliges, enormes Gewicht und formuliert einen klaren Anspruch auf die Führungsrolle in der Weltwirtschaft. Die alten Metropolen USA und Europa wollen ihren großen, aber schwindenden Einfluss mit TTIP und TPP stabilisieren und ihre Dominanz unanfechtbar machen. Dies wird das Moment des Konflikts im Rahmen der weltwirtschaftlichen Beziehungen gefährlich erhöhen.9
Dass es um globale Führung gehen soll, zeigt sich nicht nur in der Begriffsprägung von Hillary Clinton, TTIP sei eine „ökonomische Nato“, sondern auch in den Erklärungen der EU-Kommission. Deren Handelskommissar De Gucht formuliert unumwunden, „wir werden TTIP nutzen, um Regeln und Standards voranzutreiben, die die Grundlage für zukünftige internationale Abkommen bilden können“. Es ginge um „die Sicherung der gemeinsamen transatlantischen Führungsposition bei der Entwicklung globaler Normen und Standards“.10
Die Kraft, die hinter TTIP stecken würde, wäre riesig. Es wäre das größte Handels-und Investitionsabkommen der Geschichte. Mit 850 Millionen Menschen stellen die USA und EU-Europa zwar „nur“ knapp 12 Prozent der Weltbevölkerung, aber auf sie entfallen rund 46 Prozent des Weltsozialprodukts (zählt man die NAFTA-Staaten Kanada und Mexico dazu, sind es 50,4 Prozent) und ein Drittel des Welthandels. An allen Auslandsinvestitionen tätigen sie einen Anteil von 65 Prozent.11
So imposant die geballte Wirtschaftskraft der alten Metropolen auch ist, so agieren die USA und EU-Europa dennoch aus der Defensive. Allein die fünf BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), wo 40 Prozent der Weltbevölkerung leben, erzielen heute schon rund 30 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Und ihre Wachstumsraten liegen klar über denen der entwickelten Industrieländer. Die US-Geheimdienste gehen davon aus, dass Asien allein 2030 wirtschaftlich mächtiger ist als die USA und Europa zusammen.
Wenn EU-Handelskommissar De Gucht von der „Sicherung der transatlantischen Führungsposition“ als Ziel von TTIP spricht, verrät dies eine aggressive Tendenz gegen die Richtung der bisherigen Entwicklung der Weltwirtschaft. Es ist eine Kampfansage an die regionalen Wirtschaftsblöcke, die schneller wachsen als die angestrebte TTIP-Zone. TTIP läutet eine Phase der verschärften Konflikte um Märkte, Ressourcen, Transportwege ein. Der globale Wettbewerb wird noch intensiver und noch kriegerischer. Die Wirtschafts-Nato wird sich auf die Militär-Nato stützen und umgekehrt.
3.2 Die TNK werden auch formal zu den Herren des USA-EU-Blocks
– sie werden zu Subjekten des Völkerrechts
Während die WTO-Bestimmungen und WTO-Initiativen sich im Wesentlichen darauf konzentrierten zu verhindern, dass Regierungen inländische Wettbewerber bevorzugt behandeln – was allein schon einen beträchtlichen Wettbewerbsvorsprung für die überlegenen TNK garantierte – soll TTIP (und TPP) stark erweiterte Befugnisse für die TNK bei der Aufstellung der Regeln und Verträge und bei ihrer Anwendung schaffen. Zwei Verfahren sollen eingesetzt werden. Einmal soll ein Rat für regulatorische Kooperation eingerichtet werden, wo TNK-Vertreter zusammen mit EU-Kommission und US-Regierung Regelungen formulieren, die erst dann dem EU-Parlament und den sonstigen Gremien zugeleitet werden. Zum anderen geht es um die Einführung von Sonderklagerechten, die einzelne TNK instand setzen, vor neu einzurichtenden Schiedsstellen gegen Regierungen zu klagen, die durch neue Gesetze oder Verordnungen ihre Profitaussichten schmälern. Bislang war dies im Rahmen des Energy-Charter-Vertrags möglich. Im Rahmen der WTO können nur Regierungen gegen Regierungen klagen. Mit TTIP und TPP wird das Investor-Staat-Verfahren auf den Großteil der Weltwirtschaft übertragen. Die TNK werden zu bestimmenden Subjekten des Völkerrechts.
Der „Rat für regulatorische Kooperation“
Es geht hierbei zunächst um die Erstellung des TTIP-Vertrags selbst. In einem gemeinsamen Papier vom Oktober 2012 haben Business Europe und die US-Chamber of Commerce – also zwei zentrale transatlantische Polit-Tanks der kapitalistischen Unternehmen – den Vorschlag gemacht, eine regulative Kompatibilitätsanalyse anzufertigen, wo sie gemeinsam mit den EU- und US-Behörden das Feld der Neuregelungen abstecken wollen. Die EU-Kommission griff diesen Vorschlag bereitwillig auf und will ihn in Form eines „Regulierungsrates“ verwirklichen. Es wird also eine Behörde aufgebaut, wo TNK-Vertreter in geheimer Kooperation mit EU-Kommission und US-Regierung festlegen, welche „Regulierungsmaßnahmen zu entwerfen“ sind. Diese transatlantische Superbehörde soll auch in Zukunft, nach Abschluss der TTIP-Verhandlungen, beibehalten werden. Nach Inkrafttreten des Vertrages soll er neue Regeln kontrollieren und beurteilen.12
Der TTIP-Vertrag selbst ist von Anfang an ein auf dem Reißbrett der TNK entworfenes Projekt. Sie sind die eigentlichen Macher, die Behörden in Washington und Brüssel und den beteiligten Hauptstädten sind die politischen und administrativen Handlanger.
Das Sonderklagerecht der internationalen Investoren
Exporte und Importe zwischen den USA und EU-Europa sind ökonomisch wichtige Faktoren. Zusammen belaufen sie sich auf rund 810 Milliarden Euro pro Jahr, was einem Viertel des deutschen Bruttoinlandsprodukts entspricht. Doch sind die gegenseitigen Direktinvestitionen noch bedeutsamer, sie sind „das wahre Rückgrat der transatlantischen Ökonomie“ , wie auch die Unternehmerverbände einschätzen.13
Der Gesamtbestand der US-Auslandsinvestitionen beträgt rund 4,2 Billionen US-Dollar. Mehr als die Hälfte davon befindet sich in Europa. Umgekehrt ist Europa mit 71 Prozent aller Direktinvestitionen der wichtigste Investor in den USA. Ihr Wert beläuft sich auf 1,8 Billionen Dollar.14
Für diesen riesigen Investitionsbestand und für die zukünftigen Investitionen wollen die Investoren, sprich: die Transnationalen Konzerne, eine Absicherung gegen etwaige neue demokratische Festlegungen in den einzelnen Staaten, wo eventuell soziale Rechte, Arbeitnehmerrechte, Umweltrechte und ähnliche ernster genommen werden als vorher und die die zum Zeitpunkt der Investition vorhandenen Profitaussichten schmälern würden. Ein solches Vorkommnis soll durch TTIP ausgeschlossen werden. Pascal Kerneis vom European Services Forum, dem u.a. auch Siemens, die Deutsche Bank und Microsoft angehören, drückt dieses Ziel klar aus: „Die Industrie wird sich jedem Abkommen widersetzen, in dem der Investitionsschutz gegenüber öffentlichen Interessen, einschließlich der Arbeits- und Menschenrechte das Nachsehen hat.“ Die US-Handelskammer erwartet, dass das TTIP-Investitionskapital den Investoren als „globaler Goldstandard für andere Investitionsabkommen“ dient.15
Das Hauptinstrument für dieses Ziel, kapitalistische Investitionen „demokratiesicher“ zu machen, sollen die Sonderklagerechte für Konzerne sein.16
Nach den von Whistleblowers durchgesteckten Entwürfen für TTIP soll den TNKs die Möglichkeit eingeräumt werden, den nationalen Rechtsweg zu umgehen und die Regierungen, die sich zu profitmindernden Regelungen entschlossen haben, vor internationalen Schiedsgerichten auf Schadenersatz zu verklagen. Schon die Drohung damit würde manche eher verzichten lassen auf solche Schritte. Bei einem allfälligen Verfahren hätten die Regierungen schlechte Karten.
Die Prozedur hat bekannte Vorbilder. In den meisten der bisher gültigen Verträge werden die Schiedsgerichte von einer Unterorganisation der Weltbank (ICSID = Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten) oder aus dem Dispute Settlement Body der WTO gebildet. Sie haben nichts mit Organen der Rechtspflege zu tun, sondern werden von den genannten Gremien aus Anwälten des Privatsektors, aus Professoren, Diplomaten, Vertretern von Regierungen u.a. bestimmt. In der Regel setzen sich die Schiedsgerichte aus drei Anwälten aus auf Investitionsstreitigkeiten spezialisierten Groß-Kanzleien zusammen. Sowohl die einberufenden Gremien als auch die Schiedsrichter, die daneben auch als Konzernanwälte tätig sind, sind aber allesamt den Prinzipien des „Freihandels“ verpflichtet. Dementsprechend interpretieren einige Schiedsgerichte „den Standard der ‚fairen und gerechten Behandlung‘ so, dass Staaten immer völlig transparent und ohne Widersprüche zu handeln hätten und die legitimen Erwartungen eines Investors bezüglich des regulatorischen Umfelds seiner Investition nicht enttäuschen dürften“.17
ISDS-Regelungen sind für internationale Investoren in erster Linie eine Rückversicherung gegen soziale Revolutionen und politische Umbrüche. So kann es nicht wundernehmen, dass in der ersten Reihe der Beklagten sich Argentinien, Ecuador und Venezuela befinden, wo Privatisierungen rückgängig gemacht und Unternehmen verstaatlicht wurden.
Die Beschlüsse der Schiedsstellen, gegen die es keine Berufungsmöglichkeit gibt, geben diese Interessenlage und Machtkonstellation wider. Im World Investment Report 2013 der UNCTAD wird die Zahl der abgeschlossenen, anhängigen oder abgebrochenen Schiedsverfahren mit 514 angegeben (2012 war mit 58 neuen Investor-Staat-Verfahren ein neues Rekordjahr). Von den 244 abgeschlossenen Fällen wurden laut UNCTAD 31 Prozent zugunsten des Investors entschieden, 42 Prozent zugunsten des beklagten Staates. 27 Prozent wurden als „vertraulich“ eingestuft und die Entscheidungen nicht bekannt gegeben. Unterstellt man bei ihnen dieselbe Pro/Kontra-Verteilung wie bei den übrigen, kommt man zu dem Ergebnis, dass zwei von fünf Klagen von Unternehmen gegen staatliche Regelungen zu Lasten ihrer Profite oder Profitaussichten Erfolg haben.18
Zu dieser Absicherung würde mit TTIP auch der gesamte Bereich des Finanzwesens und der internationalen Spekulation gehören. Im durchgesickerten Entwurf des Investitions- und Dienstleistungskapitels von TTIP werden als Definition von Investitionen auch „Anleihen, Obligationen, Kredite und andere Schuldeninstrumente“ umfasst.19
Damit sind auch Anleihespekulanten gegen die dringende Streichung und Neuordnung der Schulden abgesichert. Die enormen Schulden der öffentlichen Hände in der EU wie in den USA sind niemals aus der normalen Wirtschaftstätigkeit heraus wettzumachen. Die Frage ist, muss weiterhin die Allgemeinheit mit einer scharfen Austerity-Politik die Schuldenlast abtragen, oder müssen die Profiteure der Schuldenmacherei, die Spekulanten und Strategen des Finanzsektors, endlich herangezogen werden. Mit TTIP wollen die Haupt-Gläubiger, die großen Finanzinvestoren, für alle Zeiten festlegen, dass sie auf immer und ewig die Hand aufhalten können und dass ihnen gefällige Schiedsgerichte diese immer füllen sollen.
4. Der Widerstand wächst – weltweit und in Europa
4.1 Viele Staaten steigen aus ISDS-Verträgen aus
Weltweit hat der Widerstand gegen TTIP und TPP in den letzten Monaten stark zugenommen. Immer mehr Staaten lehnen sich vor allem gegen die Sonderklagerechte für Konzerne auf. Brasilien hat bis heute keine Investitionsabkommen abgeschlossen, die ISDS-Klauseln enthalten. Auch zwischen den USA und China, die einen hohen Kapitalaustausch verzeichnen, gibt es keine ISDS-Vereinbarungen. Südafrika lässt die bestehenden bilateralen Investitionsverträge auslaufen und will keine neuen mehr unterzeichnen. Australien weigert sich seit 2011, ISDS in Handelsverträge aufzunehmen. Der NAFTA, auf deren Katalog sich die TTIP-Entwürfe beziehen, „wird heute generell nachgesagt, dass es in Nordamerika Arbeitsplätze in der Fertigungsindustrie vernichtet und die soziale Ungleichheit vorangetrieben, Mexico in der Liga der Entwicklungsländer weit zurückgeworfen, die mexikanische Landwirtschaft zerstört und Millionen von Migranten auf der Suche nach Arbeit in Richtung Norden vertrieben hat“.20
4.2 EU-Kommission versucht es mit der Finte
eines Moratoriums und vorgetäuschter Transparenz
In den Ländern, die schon ihre praktischen Erfahrungen mit „Freihandelszonen“ gemacht haben, überwiegen Skepsis und Protest. In Europa und Deutschland ist der Widerstand so laut geworden, dass die EU-Kommission und die EU-Regierungen ihr Vorgehen taktisch korrigieren mussten. Die Verhandlungen mit den USA über ein „Investitionsschutzabkommen“ wurden für die Monate März bis Mai 2014 auf Eis gelegt. Die Frist soll, laut Kommission, zu einem besonders intensiven Dialog mit der Zivilgesellschaft genutzt werden.21
In Wahrheit geht es in der so genannten (digitalen) Konsultation um einen Fragebogen, der ausführlich die Position der Kommission begründet und in jedem Einzelfall mit der formalen Frage endet, wie der Antworter zum jeweiligen Punkt steht. So heißt die „Frage 4: Enteignung“ , nachdem zuvor ausführlich erklärt wurde, dass in Investitionsabkommen Enteignungen erlaubt sind, wenn sie für einen öffentlichen Zweck, nicht diskriminierend und rechtmäßig zustande gekommen und von einer „prompten und effektiven Entschädigung begleitet sind“: „Die obigen Erklärungen in Rechnung stellend … was ist Ihre Meinung über dem Ansatz des TTIP, mit der Enteignung umzugehen?“ 22
Das Einbeziehen der Zivilgesellschaft läuft auf ein kurzes Abfragen der „Konsultations“-Partner hinaus, wie sie sich den Umgang des Problems durch die EU-Kommission vorstellen. Es geht um keine ernsthafte inhaltliche Debatte, nirgendwo um eine Diskussion der anzustrebenden politischen Ziele. Dies ist kein Dialog, sondern eine taktische Maßnahme der Beruhigung der immer heftiger aufgebrachten Öffentlichkeit.
4.3 Die Bundesregierung folgt dem Plan: Öffentlichkeit beruhigen,
Mehrheiten sichern, neoliberale Prinzipien durchsetzen
Ähnlich taktierend verhält sich die deutsche Regierung. Justizminister Maas erklärt: „Ich sage ganz klar: Die Schiedsgerichte werden wir nicht brauchen.“ Auch müssten die nationalen Parlamente aller 28 EU-Staaten dem Vertrag zustimmen, nicht nur das EU-Parlament. Auch soll der Kulturbereich sowie Kommunalbetriebe wie Wasserversorgung und Müllabfuhr aus den Verhandlungen ausgenommen werden. Angesprochen auf die zusehends TTIP-ablehnende öffentliche Stimmung, sagt der Minister: „Die Stimmung dreht sich gerade. Es ist unsere Aufgabe, für gesellschaftliche Akzeptanz zu sorgen. Daran arbeiten wir – etwa, indem wir auch mit den Kritikern einen Dialog führen. Wir sind überzeugt: Das Freihandelsabkommen bietet die große Chance, klare Standards zu verankern.“23
Bemerkenswert der Hinweis auf die Aufgabe der Politik, nämlich gesellschaftliche Akzeptanz herzustellen für Projekte, zu deren Formierung die Gesellschaft nichts beitragen konnte, unter deren Verwirklichung aber die große Mehrheit der Gesellschaft sehr leiden würde. Die FASZ überschrieb denn auch ihr Interview: „Justizminister Heiko Maas beruhigt die Gegner des Freihandelsabkommens.“ Man will dort, wo es sich nicht vermeiden lässt, Zugeständnisse machen, aber die Grundlinien von TTIP sollen bestehen bleiben.
4.4 Die deutschen Gewerkschaften verschärfen ihren Widerstand
Für die deutschen Gewerkschaften geht es beim TTIP um ihre eigentliche Geschäftsgrundlage. Kommt es zu einer gemeinsamen Handels- und Investitionszone USA-EU, dann gelten in den beiden Räumen dieselben Arbeitsstandards. Doch von den acht von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO beschlossen Kernnormen haben die USA nur zwei unterzeichnet, und zwar die Abschaffung der Zwangsarbeit als Disziplinarmaßnahme und die Abschaffung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Nicht ratifiziert haben sie sechs für die gewerkschaftliche Arbeit grundlegende Normen:
1.) Die Koalitionsfreiheit, darunter das Recht der Beschäftigten, sich frei zu organisieren.
2.) Das Recht auf kollektive Tarifverträge.
3.) Abschaffung von Zwangs- und Pflichtarbeit, zum Beispiel der Häftlingsarbeit für private Unternehmen.
4.) Gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Mann und Frau.
5.) Mindestalter für den Eintritt in ein Arbeitsverhältnis.
6.) Verbot der Diskriminierung in der Arbeitswelt wegen Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, politischer Meinung, nationaler oder sozialer Herkunft.24
Trotz dieser offenkundig ihre Existenzbedingungen in Frage stellenden Gefahren haben sich die Gewerkschaften lange schwer getan, eine eindeutige Linie gegenüber TTIP zu finden. Statt ein klares Nein auszusprechen, reichte es in der Regel nur zu einem schwachen „So nicht“. Noch immer überwiegt diese Haltung, doch ist das „so nicht“ mittlerweile klar genug definiert, um die Gewerkschaften festzulegen, einem TTIP, der den bis jetzt bekannt gewordenen Plänen auch nur entfernt entspricht, zu widersprechen und entgegen zu wirken.
Auf seinem Bundeskongress im Mai 2014 in Berlin hat der DGB eine Reihe von Vorbedingungen beschlossen, ohne deren Erfüllung eine Zustimmung nicht in Frage kommen könne. Von den Anerkennung der ILO-Arbeitsnormen über die Ablehnung eines „Regulierungsrates“ bis hin zu der Forderung, dass „auf keinen Fall das Niveau von Umwelt-, Arbeitnehmer- oder Verbraucherschutzregeln abgesenkt werden darf“ . Es sei auszuschließen, „dass das demokratische Recht, Regelungen zum Schutz von Gemeinwohlzielen zu schaffen, durch ein Abkommen gefährdet, ausgehebelt oder umgangen wird“ . Investor-Staat-Schiedsverfahren seien strikt abzulehnen. Öffentliche Dienstleistungen müssten komplett aus den Verhandlungen mit den USA ausgenommen werden.
Handelsgespräche zwischen der EU und den USA könnten „dann Vorteile bringen, wenn sie dazu genutzt werden, eine grundsätzlich neue Ausrichtung der Handelspolitik voranzutreiben, die auch globale Standards für eine gerechte Gestaltung der Globalisierung setzt“. „Die laufenden Verhandlungen mit den USA“ , resümiert der DGB-Bundeskongress, „gehen diesbezüglich noch in die falsche Richtung.“25
Das „noch in die falsche Richtung“ lässt die Hintertür offen, man könne ja noch in die richtige Richtung kommen. Vergleicht man die DGB-Bedingungen aber mit den Vorgaben der EU-Kommission, dann ist es offensichtlich, dass nur eine Seite mit heiler Haut aus dieser Nummer herauskommen kann. Für den DGB wird es mit jedem Tag drängender, dass er sich von einem „So nicht“ zu einem entschiedenen Nein durchringen muss.
Die IG Metall, mit 2,3 Millionen Mitgliedern die größte Einzelgewerkschaft des DGB, setzt dieselben Bedingungen wie der DGB. Nur wenn diese Bedingungen – darunter ein Nein zu Regelungen zum Investitionsschutz und zur Liberalisierung oder Privatisierung öffentlicher Bereiche – erfüllt wären, würde sie TTIP zustimmen.26
Im Jahr 2015 soll der Vertrag abgeschlossen werden. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass er auch mit der Unterstützung der Gewerkschaften verhindert wird.
5. Wie neulich im MAI: der Widerstand setzt sich durch
Dass Verträge wie TTIP in letzter Minute noch verhindert werden können, ist nicht ungewöhnlich. Es ist sogar eher die Regel.
Beispiel Nr. 1: das multilaterale Investitionsabkommen (MAI) 1995/98
1995 wurden die Verhandlungen, wie auch diesmal, geheim begonnen. Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, wo die Haupt-Industrieländer zusammengeschlossen sind, hatte die Verhandlungen geführt und wollte über den in der WTO gewährten Investitionsschutz hinausgehen. Die Verhandlungen waren abgeschlossen. Dann legte die globalisierungskritische Bewegung los. In Frankreich, wo Attac 1996 entstand, wurde der Druck so groß, dass die Regierung die schon unterschriebenen Verträge 1998 verwarf. MAI war vorbei.
Beispiel Nr. 2: ACTA 2006 – 2012
Vom G8-Gipfel in Sankt Petersburg 2006 an liefen die Verhandlungen zu ACTA. Es ging angeblich um ein Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA), um neue Standards im Kampf gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen. Für die Gegner ging es darum, das Netz freizuhalten von der Bevormundung und Zensur der großen Internetdienstleister.
2011/2012 unterzeichneten die meisten Länder den Vertrag – darunter die USA, Kanada, Australien und die EU und ihre einzelnen Mitgliedsländer, darunter auch Deutschland. Der Sturm des Widerstands in ganz Europa brachte das EU-Parlament dazu, den ACTA-Vertrag im Juli 2012 nicht zu ratifizieren. Die Kommission hatte zugestimmt, die nationalen Regierungen hatten zugestimmt, doch das EU-Parlament widersetzte sich angesichts des hochbrandenden öffentlichen Protests.
Um eine Wiederholung dieser Konstellation geht es heute: Das EU-Parlament muss wissen, dass eine Zustimmung zu TTIP es in Widerspruch zur öffentlichen Meinung bringt. Und zweitens geht es darum, auch in den einzelnen Nationen für eine Zustimmungspflicht der Parlamente einzutreten und diesen klar zu machen, dass die Bevölkerungen einen solchen Aderlass an Demokratie, sozialen Rechten und Umweltschutz niemals hinnehmen werden.
Aus: Wirtschafts-Nato TTIP. STOP! Der globale Wettbewerb würde noch verheerender. isw-Report Nr. 97, München 2014. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Conrad Schuhler ist Diplom-Volkswirt und Soziologe. Lehr- und Forschungstätigkeit an den Universitäten München, Yale/USA und Berkely/USA. Seit 2004 Vorsitzender des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (ISW).
- Vgl. Wahl, Peter: Krise und Bedeutungsverlust der WTO. In: Z, Nr. 98, Juni 2014, S. 8 – 17. ↑
- IUL: Handelsabkommen, die die Demokratie gefährden. Genf 2014, S. 2. ↑
- Global Europe – Competing in the World, S. 10. www.trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2006/october/tradoc_130376.pdf ↑
- IUL, a.a.O., S. 9. ↑
- European Commission: Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) – aktueller Stand der Verhandlungen. 19. März 2014. S. 6. ↑
- European Commission: Overview of FTA and other trade negotiations. Updated 31 March 2014. ↑
- Bernasconi-Osterwalder, Nathalie / Hoffmann, Rea Tamara: Deutschlands Atomausstieg auf dem Prüfstand eines internationalen Schiedsgerichts? PowerShift, Forum Umwelt und Entwicklung, Berlin, Oktober2012. ↑
- www.taz.de/Deregulierung-von-Dienstleistungen/!137455/ ↑
- Zu dem Punkt siehe Kapitel III dieses Reports: TTIP und TPP – der Handelsimperialismus der G7, S. 16. ↑
- De Gucht, Karel: Vor Beginn der zweiten Verhandlungsrunde; Erklärung von Karel de Gucht zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft. Europäische Kommission, MEMO/13/835, Brüssel, 30.9.2013. ↑
- Siehe Kapitel III dieses Reports, S. 19f. ↑
- US Chamber of Commerce/Business Europe 2012: Regulatory Cooperation in the EU-US Economic Agreement, October 2012. www.corporateeurope.org/sites/default/files/businesseurope-uschamber-paper.pdf. Und: European Commission 2013: TTIP: Cross-Cutting Disciplines and institutional provisions. Position paper – Chapter on Regulatory Coherence. www.corporateeurope.org/sites/default/files/ttip-regulatory-coherence-2-12-2013.pdf. Zitiert nach Fritz 2014, S.6; Spiegel, 22/2014. ↑
- Hamilton, Daniel S./Quinlan, Joseph P.: The Transatlantic Economy 2013, Volume I, Headline Trends, American Chamber of Commerce to the European Union, Transatlantic Business Council, 2013. Siehe Fritz, a.a.O., S. 7. ↑
- A.a.O. ↑
- Fritz, a.a.O., S. 8. ↑
- Siehe Pia Eberhardt: Investitionspolitik am Scheideweg: Riss oder Kitt im globalen Parallelrecht für Konzerne? In: Z., Nr. 98, Juni 2014, S.31Ä40. ↑
- Eberhardt, S. 34. ↑
- IUL, a.a.O., S. 10 -12. ↑
- Fritz, S. 30. ↑
- IUL, S. 18 – 20. ↑
- www.ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/ttip/ ↑
- Europäische Kommission: Fragen und Antworten: Öffentliche Online-Konsultation über Investorenschutz in Transatlantischer Handels- und Investitionspartnerschaft. www.europa.eu/rapid/press-release_MEMO-14-206_de.htm ↑
- FASZ, 15.6.2014. ↑
- Arbeitsrechte verteidigen. Freihandelsabkommen zwischen USA und EU stoppen! www.arbeitsunrecht.de/ttip ↑
- 20. Parlament der Arbeit. DGB-Bundeskongress, Berlin, 11. – 16. Mai 2014. www.dgb.de ↑
- www.igmetall.de/ttip-transatlantisches-freihandelsabkommen-zwischen-der-eu-und 13347.htm ↑
Schlagwörter: Conrad Schuhler, EU, Freihandel, isw, NATO, TTIP, USA