17. Jahrgang | Nummer 16 | 4. August 2014

Kalifat

von Peter Petras

Die derzeitige „Mediengesellschaft“ hat immer auch mit dem Problem der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ zu tun. Es ist in aller Regel schwer, gleichzeitig mehrere Themen zentral in der öffentlichen Debatte zu halten. Das kann der Fernsehzuschauer schon an den abendlichen Nachrichtensendungen sehen: Die Redaktionen stellen entweder den neuerlichen Gaza-Krieg in den Mittelpunkt (bis zum 31. Juli gab es 1.300 getötete Palästinenser, vor allem Frauen und Kinder, drei israelische Zivilisten, die ums Leben kamen, und 56 tote israelische Soldaten), dann folgt der Konflikt in der Ostukraine unter „ferner liefen“, oder es wird Putin-Bashing betrieben, dann kommt der Gaza-Krieg erst weiter hinten. Bei all dem ist das Thema „Kalifat“ auf dem Territorium von Syrien und Irak nahezu aus den Medien verschwunden, nachdem es kurzzeitig skandalisiert worden war.
Der Titel „Kalif“ meint den Nachfolger oder Stellvertreter des „Gesandten Gottes“, den rechtmäßigen Nachfolger des Propheten Mohammed in seiner Verantwortung als religiöser Führer und zugleich weltlicher Herrscher. Im ursprünglichen Verständnis musste der Nachfolger des Propheten ein Araber sein, der zum Stamme Mohammeds gehört. Er war für die Einhaltung der Regeln des islamischen Glaubens und für die Verbreitung des Islams verantwortlich. Bald wurde der Titel auf „Stellvertreter Gottes auf Erden“ verändert. Nach der Eroberung Syriens, Mesopotamiens und Ägyptens war der Kailf dann der Beherrscher des islamischen Reiches, das unter den Umayyaden (661-750) sein Zentrum in Syrien hatte, mit Damaskus als Hauptstadt, und unter den Abbasiden (750-1258) im heutigen Irak mit Bagdad als Zentrum. Hiesige Leser kennen meist die Märchen um Harun al Raschid. Tatsächlich war die Geschichte nicht so nett, sondern voller Kriege, Eroberungen und Palastrevolten. Mit der Errichtung des Osmanischen Reiches und der Eroberung der arabischen Länder nahm der türkische Sultan auch die Funktion des Kalifen als Schutzherr aller Muslime für sich in Anspruch (1517-1924). Nach der Abschaffung des osmanischen Sultanats durch die türkische Nationalversammlung blieb das Amt des Kalifen vakant.
Vor diesem Hintergrund ist es eine kaum zu überbietende Anmaßung, dass der Führer der Dschihadistenorganisation ISIS – das heißt: „Islamischer Staat in Irak und in der Levante“ (Levante meint hier mehr als das Gebiet der Republik Syrien, das heißt auch Libanon und praktisch Israel) –, mit Namen Abu Bakr al-Baghdadi, am 29. Juni 2014 das von ihm beherrschte Gebiet in „Kalifat“ umbenannt und sich zum Kalifen erhoben hat. Die Organisation wurde schlicht in „Islamischer Staat“ (IS) umbenannt. Würde man diesen „Kalifen“ ernst nehmen, wäre er der Vorgesetzte aller islamischen Könige, Emire und Präsidenten, könnte faktisch deren Herrschaft suspendieren und sich unterordnen, und er wäre zugleich der oberste Imam, der oberste religiöse Führer des Islam weltweit.
ISIS war zunächst Teil der Terrororganisation al-Qaida und des Widerstands im Irak gegen die US-Besatzung, „al-Qaida im Irak“. Nach westlichen Quellen haben Angehörige der Organisation in Irak über 6.000 Menschen bei Anschlägen umgebracht. Nach Beginn des Bürgerkrieges in Syrien kämpfte ISIS gegen die Truppen der Assad-Regierung, aber auch gegen die „Freie Syrische Armee“ – die zunächst als die auch vom Westen unterstützte nicht-islamistische Formation galt, die gegen Assad kämpfte, – und gegen die Kräfte der Kurden. Dann überwarf sich ISIS mit al-Quaida, die für zu weich und verwestlicht erklärt wurde, und wandte sich wieder dem Irak zu. In einem raschen Vormarsch wurden Ende Juni, Anfang Juli weite Teile des Landes erobert. Die Kampftruppen bestanden in hohem Maße aus ausländischen Freiwilligen, darunter aus Nordafrika, Algerien, Pakistan, Afghanistan, aber auch aus Russland – Tschetschenien – und vom Balkan. Also aus allen Regionen, in denen während der vergangenen zwanzig Jahre islamistische, dschihadistische Kräfte gekämpft und praktische militärische Erfahrungen gesammelt hatten. Sie wurden verstärkt durch frühere Angehörige der irakischen Armee Saddam Husseins, die von den US-Besatzungskräften alle entlassen worden waren, sowie von den sunnitischen Stämmen in Irak, die sich von der irakischen, schiitisch geführten Regierung al-Malikis nicht vertreten und unterdrückt fühlten.
Beim gewaltsamen Vormarsch von ISIS wurden offensichtlich tausende Menschen umgebracht, wobei der der Organisation vorauseilende Ruf, ihre Einheiten würden besonders grausam vorgehen, durchaus Teil der Selbstdarstellung von ISIS war und ist. Nach der Eroberung der Stadt Mossul (sie hatte 2010, also nach dem Krieg der USA, etwa 2,9 Millionen Einwohner) am 10. Juni 2014 wurden alle christlichen Bewohner vertrieben, christliche Kirchen und Klöster zerstört oder geschlossen, der alte Bischofssitz niedergebrannt. Schließlich wurden auch nicht-sunnitische, also schiitische und sufistische Moscheen und Heiligtümer zerstört.
Zur inneren Situation des Irak gehört, dass seine Grenzen, wie auch die Syriens, auf der Versailler Friedenskonferenz nach dem ersten Weltkrieg willkürlich gezogen worden waren. Danach herrschten faktisch immer sunnitische Eliten über eine mehrheitlich schiitische Bevölkerung sowie die kurdische und andere Minderheiten. Nach dem Sturz Saddam Husseins und der Durchführung von Wahlen kam eine schiitisch geprägte Regierung zustande, die sich unter al-Maliki weigerte, die Sunniten relevant an der Regierung zu beteiligen. Die kurdischen Gebiete im Norden erlangten eine weitgehende Autonomie.
Anfang Juli drohte der Marsch auf Bagdad. Die irakische Armee, die mit viel Geld aufgebaut worden war, flüchtete in Scharen. Die Regierung bat die USA um Hilfe, die sich aber weigerten, direkt in den Konflikt einzugreifen. Russland lieferte unverzüglich Waffen und vor allem Kampfflugzeuge, die die Regierung gegen die vorrückenden IS-Kräfte einsetzen wollte. Offenbar waren auch iranische Spezialverbände im Einsatz. Jedenfalls hat eine auf den ersten Blick erstaunliche Koalition von USA, Russland und Iran den IS-Vormarsch zunächst gestoppt. Beigetragen dazu haben ebenfalls Einheiten aus dem kurdischen Norden, wo viele der vertriebenen Christen Zuflucht fanden.
Verschiedene Beobachter, darunter auch Peter Scholl-Latour, meinen, dass die Teilung des Irak nun praktisch vollzogen ist. Da dieses selbsternannte „Kalifat“ zugleich auch Gebiete Syriens umfasst, sind auch die Grenzen von Versailles in Frage gestellt. Ob das alles von Dauer sein wird, bleibt offen. Der Dschihadismus hat seine Positionen in der Region ausgebaut. Genau betrachtet ist das die Folge des Krieges der USA gegen Irak und der verfehlten Politik des „War on Terror“.