17. Jahrgang | Nummer 14 | 7. Juli 2014

Der Warschauer Aufstand

von Johnny Norden

Am 1. August 1944 erhob sich die Warschauer Bevölkerung zum Aufstand gegen die deutsche Besatzung. Es wurde die größte einzelne bewaffnete Erhebung im von Nazideutschland besetzten Europa. Der Aufstand endete in einer schrecklichen Tragödie. Nach zwei Monaten erbitterter Straßenkämpfe gelang es der Wehrmacht und der Waffen SS die polnischen Freiheitskämpfer niederzuringen: die Kämpfe kosteten 200.000 Polen das Leben, die polnische Hauptstadt wurde fast vollständig zerstört.
Das Schicksal des Warschauer Aufstands gehört zu den besonders umstrittenen politischen Ereignissen des 2. Weltkriegs. Klar ist: die Niederschlagung des Warschauer Aufstands war eines der schlimmsten Kriegsverbrechen Hitlerdeutschlands. Aber: welche Ziele hatte dieser Aufstand verfolgt? War er überhaupt sinnvoll gewesen angesichts der Opfer? Und wer trägt die Verantwortung für dieses schreckliche Ende?
Organisatoren des Warschauer Aufstands waren die bürgerliche polnische Exilregierung mit Sitz in London unter Premier Stanislaw Mikolajczyk und deren Untergrundarmee Armija Krajowa (AK), befehligt von General Tadeusz Komorowski (Deckname Bor). Das strategische Ziel des Aufstandes bestand in der Befreiung der polnischen Hauptstadt von den deutschen Besatzern und der Konstituierung eines unabhängigen polnischen Staates unter der Exilregierung. Offen blieb bis zum letzten Moment der Zeitpunkt des Aufstands. Ausgehend von seiner Zielstellung sollte der siegreiche Aufstand einer Befreiung Warschaus durch die Rote Armee zuvorkommen und die sowjetische Führung mit der Tatsache konfrontieren, in der Hauptstadt des Landes auf eine bürgerliche Regierung zu treffen. Das war ein höchst riskanter Plan. Denn er setzte voraus, dass die polnischen Aufständischen allein ohne jede äußere Unterstützung die Besatzer vertreiben könnten.
Das Verhalten der Mikolajczyk und Bor erklärt sich aus deren politischen Horizont und ihrer Unfähigkeit, auf die veränderten Bedingungen des Jahres 1944 zu reagieren. Sie träumten vom Wiederauferstehen des Vorkriegspolens in den alten territorialen Grenzen mit einer erzreaktionären bürgerlichen Gesellschaft. Eine Spezifik der Londoner Exilpolitiker war ihre scharf antisowjetische Dogmatik. Sie kritisierten sogar ihre Gastgeber, die gewiss nicht kommunistenfreundliche Churchill-Regierung für deren Bündnis mit der Sowjetunion im Kampf gegen Hitlerdeutschland. Der AK war jeder Kontakt mit der Roten Armee strikt untersagt.
Die Rote Armee hatte bis zum Juli 1944 die gesamte Osthälfte Polens befreit und ihre Panzerspitzen näherten sich der Weichsel. Am 20. Juli hatte sich auf befreitem polnischen Territorium so etwas wie eine Gegenregierung zu den Londonern gebildet: Das von Kommunisten dominierte Lubliner Komitee. Die Mikolajczyk-Regierung drohte ins politische Abseits zu rutschen.
Aber da gab es ja noch das Faustpfand Armija Krajowa. Die straff organisierte AK zählte über 300.000 Kämpfer. In Warschau konnte General Bor mit 40.00 Mann rechnen. Es waren zivile Freiwillige, die bereit waren, auf Befehl zu den Waffen zu greifen. Sie verfügten jedoch über kaum mehr als Handfeuerwaffen. Am 25. Juli meldete General Bor der Londoner Regierung die Bereitschaft zum Aufstand. Mikolajczyk ermächtigte Bor, nach eigenem Ermessen loszuschlagen. Was in den Folgetagen geschah, ist nie hundertprozentig geklärt worden. Offensichtlich erreichte General Bor am 31. Juli das Gerücht, sowjetische Panzer seien bis zum Warschauer Vorort Praga auf dem rechten Weichselufer vorgedrungen. Er konnte diese Meldung allerdings nicht überprüfen, die AK hatte jede Kommunikation mit der Roten Armee abgelehnt. Bor gab den Befehl zum Aufstand für den nächsten Tag um 17 Uhr. Mit verbundenen Augen fasste der General einen tragischen Beschluss.
Von vielen Politikern und Historikern wurde seit dem 2. Weltkrieg behauptet, die Sowjetunion hätte bewusst darauf verzichtet, den Aufständischen mit der Roten Armee zu Hilfe zu kommen, um einer kommunistischen Herrschaft in Polen den Weg zu ebnen. Diese These hält keiner ernsthaften Betrachtung stand. Die Spitzenverbände der 1. Belorussischen Front hatten sich bis auf 60 km Warschau genähert, die große Sommeroffensive der Roten Armee war abgeschlossen. Sie hatte die deutschen Truppen über 400 km zurückgedrängt, aber nun funktionierte der Nachschub an Munition, Treibstoff und Verpflegung über diese große Distanz nur noch bedingt. Vor allem war die Rote Armee seit Ende Juli mit heftigen Gegenangriffen frischer deutscher Divisionen konfrontiert. Bei diesen Gefechten im August und September 1944 verloren die 1. Belorussische Front und die weiter südlich operierende 1. Ukrainische Front allein circa 300.000 Tote und Verletzte (zum Vergleich: diese Zahl entsprach der Hälfte aller Verluste Großbritanniens im gesamten 2. Weltkrieg). Die Möglichkeiten, unter solchen Bedingungen den kämpfenden Warschauer Patrioten zu Hilfe zu kommen, waren begrenzt.
Ende Juli flog Mikolajczyk von London nach Moskau. Am 3. August wurde er von Stalin empfangen. In diesem Gespräch erhielt die Sowjetunion zum ersten Mal eine offizielle Information über den Aufstand. Mit keinem Wort bat Mikolajczyk um sowjetische Hilfe. Er sprach von einem baldigen Sieg der AK. Am 9. August kam es zu einem weiteren Gespräch Mikolajczyk – Stalin. Inzwischen hatte der Generalstab der Roten Armee Stalin das Projekt einer begrenzten Offensive zu Befreiung Warschaus unterbreitet, die jedoch vor dem 26. August nicht beginnen konnte. Stalin schlug in dem Gespräch Mikolajczyk vor, eine gemeinsame polnische Regierung mit dem Lubliner Komitee zu bilden. Das war Stalins Angebot: Wir verbünden uns im Kampf gegen den Hitlerfaschismus und dann helfen wir Euch, auch wenn es noch so schwer fällt; oder aber Ihr seid gegen uns, dann werden wir für Euer Abenteuer keinen einzigen unserer Soldaten opfern. Mikolajczyk lehnte ab. Damit war eine große historische Chance für ein demokratisches Nachkriegspolen vertan und das Schicksal Warschaus besiegelt.
Im Warschau hatten am späten Nachmittag des 1. August die Aufständischen große Teile des Zentrums der Stadt erobert. Über dem größten Hochhaus der Hauptstadt wehte die polnische Fahne. In den von den Aufständischen befreiten Stadtbezirken ging die Macht an eine polnische Verwaltung über, es wurden behelfsmäßige Lazarette und kleine Waffenwerkstätten eingerichtet, eine Zeitung herausgegeben und sogar eine Radiostation aufgebaut. Wichtige strategische Punkte konnten die Deutschen jedoch verteidigen: alle Flugplätze und Bahnhöfe und die Brücken über die Weichsel.
Acht Wochen lang lieferten sich die polnischen Patrioten ununterbrochene Straßenkämpfe mit den überlegenen deutschen Truppen. Die Armija Ludowa – bewaffneter Arm der Kommunistischen Partei Polens – hatte sich inzwischen mit 1.000 Kämpfern dem Aufstand angeschlossen. Letztlich waren die todesmutigen aber schlecht bewaffneten Warschauer den deutschen Panzern, Bombern und Geschützen unterlegen. Das Ergebnis war fürchterlich. Himmler hatte den Befehl gegeben: Keine Gefangenen! Kein Erbarmen mit der Zivilbevölkerung! Am 2. Oktober kapitulierte Bor. Es gelang ihm, für die übrig gebliebenen Kämpfer der AK den Status als Kriegsgefangene auszuhandeln. Die meisten von ihnen überlebten den Krieg. Die Warschauer Zivilisten hatte weniger Glück. Sie wurden von den Faschisten in langen Kolonnen aus der Stadt getrieben, in Vernichtungslager oder in die Zwangsarbeit.
Die unmittelbaren Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen wurden niemals zur Verantwortung gezogen. SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski war von Hitler zum Befehlshaber der Niederschlagung des Warschauer Aufstands ernannt worden. Bach-Zelewski diente sich nach dem Krieg den USA als Hauptbelastungszeuge in den Nürnberger Prozessen gegen die oberste Nazihierarchie an. Er konnte jahrelang in der BRD als Angestellter einer Wachschutzfirma sein Geld verdienen und starb in einem Gefängnishospital, wo er wegen Mord an einem SA-Rivalen einsaß. Noch glücklicher verlief die Nachkriegszeit für seinen Stellvertreter Heinz Reinefarth. Dieser brachte es bis zum Abgeordneten im Landtag von Schleswig-Holstein und starb als allseits geachteter Pensionär.
Die mit Abstand gelungenste literarische Verarbeitung des Warschauer Aufstands stammt aus der Feder des DDR-Autors Wolfgang Schreyer: „Unternehmen Thunderstorm“ erschienen 1954 (Neuauflage 1967).