von Erhard Crome
Viktor Orbán konnte mit der Parlamentswahl am 6. April 2014 seine dominierende Stellung in Ungarn festigen. Die regierende bürgerlich-konservative Parteienkonstellation Fidesz-Ungarischer Bürgerbund in Verbindung mit der Christlich-Demokratischen Volks-Partei (KNDP) hat erneut eine Zweidrittelmehrheit der Sitze erlangt. Sie erhielt mit 133 Mandaten in einem Parlament von 199 Sitzen exakt jene Anzahl von Mandaten, die erforderlich ist, damit Orbán mit verfassungsändernder Mehrheit weiter regieren kann. Das Bündnis von Sozialistischer Partei (MSZP) und vier kleinen eher linken beziehungsweise liberalen Parteien – zum Teil frühere Abspaltungen von der MSZP – erreichte gerade einmal 38 Mandate. Die quasi-faschistische Partei Jobbik wurde mit 23 Mandaten erneut drittstärkste Kraft, und auch die zwischen Grün und Protest agierende Partei „Politik kann anders sein“ (LMP) zog mit fünf Sitzen wieder in das Parlament (Nationalversammlung) ein. Das Wahlergebnis zur Europawahl zeigt ein ähnliches Bild: Fidesz-KNDP erreicht 12 von 21 Sitzen, MSZP und zwei andere links-liberale Parteien zusammen fünf Sitze, Jobbik drei und LMP einen Sitz.
Zu dem Systemumbau, den Orbán seit seiner zweiten Wahl zum Ministerpräsidenten 2010 und gestützt auf seine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Parlament betrieben hat, gehören nicht nur die Einführung einer neuen, konservativ-nationalistischen Verfassung (in Kraft seit 2012), sondern auch ein neues Gesetz über die Doppelte Staatsbürgerschaft, wirksam seit 2011, das Auslandsungarn die Möglichkeit eröffnet, die ungarische Staatsbürgerschaft zu erwerben, sowie ein neues Wahlgesetz, beschlossen 2011. Danach ist der Wohnsitz in Ungarn nicht mehr Voraussetzung für die Wahlteilnahme. So konnten 2014 erstmals auch Auslandsungarn an der Parlamentswahl teilnehmen. Nach vorliegenden Angaben haben sich bei der Wahl am 6. April von denen, die per Briefwahl an der Abstimmung teilnahmen, über 95 Prozent für Fidesz-KNDP ausgesprochen.
Nun erhält auch die Krise in der Ukraine plötzlich eine besondere ungarische Färbung. Die Karpartoukraine, oder in der ungarischen Wortwahl „Transkarpatien“, gehörte bis Ende des Ersten Weltkrieges zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie, konkret zum Königreich Ungarn, und wurde mit dem Friedensvertrag von Trianon (1920) Teil der Tschechoslowakei. Mit Stalins Grenzziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Gebiet an die Sowjetunion und wurde der Ukraine zugeordnet. Heute leben dort noch etwa 160.000 Menschen ungarischer Nationalität. Bereits Anfang März war der ungarische Außenminister dort, sprach in gewählten Worten von Frieden und territorialer Integrität der Ukraine und sagte zugleich der ungarischen Minderheit die volle Unterstützung Budapests zu. Der beste Weg sei eine Dezentralisierung der Ukraine. Bereits zu jener Zeit gab es Informationen, dass auch schon ungarische Pässe ausgegeben wurden, obwohl die ukrainische Verfassung eine doppelte Staatsbürgerschaft nicht vorsieht.
In seiner Rede vor der Ungarischen Nationalversammlung aus Anlass der Neuvereidigung als Ministerpräsident ging Viktor Orbán am 10. Mai 2014 auf dieses Thema ein. Er sagte: „Den Ungarn im Karpatenbecken steht die Doppelte Staatsbürgerschaft zu, ihnen stehen Gemeinschaftsrechte zu und ihnen steht ebenfalls die Autonomie zu.“ Das sei der Standpunkt Ungarns in der internationalen Politik. (www.miniszterelnok.hu) Nachdem politische Unruhe entstanden war, meinte der Außenminister abwiegeln zu müssen, es handele sich um ein Missverständnis. Der Vizepräsident der „Ungarisch-Demokratischen Föderation in der Ukraine“ (UMDSZ), Elemér Köszeghy, setzte hinzu, es sei fehlerhaft ins Russische übersetzt worden. Orbán habe Autonomie und doppelte Staatsbürgerschaft für die ethnischen Ungarn nicht gefordert, sondern „lediglich festgestellt, dass diese Rechte ihnen zustehen“.
Nun ist dies eine Interpretation, die die Unkenntnis des Ungarischen voraussetzt. Hier stehen Wünschen und Fordern in einem anderen Verhältnis, als etwa im deutschen Alltagsverständnis. „Wünsch‘ Dir was“ oder der „Wunschzettel“ an den Weihnachtsmann sind relativ schwache Willensbekundungen und die Entscheidung ist ganz in die Hand des anderen, etwa des Weihnachtsmannes gelegt, während „Wir fordern!“ an den Wutbürger gemahnt. Wenn die zwölf Forderungen, die am Beginn der ungarischen Revolution von 1848 stehen, jedoch mit „Wir wünschen die Pressefreiheit und die Abschaffung der Zensur“ beginnen, ist dieses Wünschen ein Fordern, das keine Ablehnung zulässt: Wir wünschen, es sei so, ist eine Forderung, die von der Gegenseite nicht abgelehnt werden kann. Etwas ganz anderes als „Wir fordern kein Stuttgart 21“ und bekommen einen Volksentscheid und es wird doch gebaut. Die von Orbán gewählte Wendung: „Den Ungarn im Karpatenbecken … steht die Autonomie zu“, ist eine Aussage im Sinne des eben Gesagten; keine Forderung, die abgelehnt werden kann, sondern das Bestehen auf einem grundlegenden, unabweisbaren Recht.
In der abendlichen Fernsehsendung Az Este stellt sich Orbán dann am 16. Mai diesem Thema. Er sagt – auch hier ist die Rabulistik sehr aufschlussreich: „Wir sind an einer stabilen, demokratischen Ukraine interessiert, denn auch die in Ungarn lebenden Ukrainer hätten gern eine stabile, demokratische Ukraine. Aber die Ukraine kann weder stabil noch demokratisch sein, wenn sie den dort lebenden Minderheiten, nationalen Gemeinschaften, darunter den Ungarn, nicht gibt, was ihnen zusteht, die doppelte Staatsbürgerschaft, kollektive oder Gemeinschaftsrechte und die Autonomie. Ohne das gibt es weder Stabilität noch Demokratie.“ Die Moderatorin fragt dann nach einer Definition von Autonomie. Orbán antwortet: „Autonomie ist Autonomie, eine juristische Institution, die auf zahlreiche Arten rechtlich umgesetzt werden kann. Es gibt ungarische Gemeinschaften im Karpatenbecken, die Autonomie genießen, zum Beispiel die in délvidék.“ Das Wort, das er hier benutzt, heißt genau übersetzt: „Südprovinz“, gemeint ist die Vojvodina im Norden Serbiens. Die Ungarn in Transkarpatien müssten selbst bestimmen, welche Art Autonomie sie anstreben. Aber wofür auch immer sie sich entscheiden, „sie und der ukrainische Staat müssen wissen, dass der ungarische Staat mit vollem Nachdruck hinter den Autonomieforderungen der Ungarn in Transkarpatien steht.“
Die Moderatorin fragt dann, ob es produktiv sei, angesichts der angespannten Lage in der Ukraine solche Forderungen zu stellen. „Ich denke, ja. Darum habe ich es getan“, entgegnet Orbán. „Jetzt entsteht die neue Ukraine […] Wann sollten wir denn unsere Erwartungen gegenüber der neuen Ukraine äußern, wenn nicht jetzt, wo sie entsteht?“
Gibt es eine einheitliche Position „des Westens“? Oder wollen auch Barack Obama, Angela Merkel und Viktor Orbán auf je unterschiedliche Weise nur die Schwäche der Ukraine in ihrer Krise für ihre Zwecke nutzen? Allerdings gilt: Was für die ukrainischen Ungarn ermöglicht werden wird, darauf werden sich auch die Russen berufen können.
Schlagwörter: Auslandsungarn, Autonomie, EU, Ukraine, Ungarn, Viktor Orbán