17. Jahrgang | Nummer 11 | 26. Mai 2014

Die Geschichte der 1002. Nacht

von Arthur G. Pym

Konzerte in der dörflich dimensionierten Schinkel-Kirche im brandenburgischen Neuhardenberg, ob nun Nigel Kennedy, Al Di Meola – über beide Gastspiele machte dieses Magazin Bemerkungen – oder andere gastieren, sind attributiv mit „hochklassig“, „extravagant“ höchst angemessen charakterisiert. Die ergänzende Feststellung allerdings, dass dies für Lesungen im Saal des benachbarten Schloss-Ensembles nicht minder gilt, ist überfällig.
Der Autor dieser Zeilen hätte sie bereits im vergangenen Jahr treffen können, wenn nicht müssen – nach Sophie Rois‘ hinreißender Darbietung von Flauberts „Madame Bovary“, Rufus Becks nicht minder faszinierendem Vortrag von Kästners „Die Konferenz der Tiere“ oder Boris Aljinovics Interpretation von Manns „Der Hochstapler Felix Krull“, bei der der Mime lesender Weise aus der Musterungsszene ein ebensolches Kabinettstückchen machte wie weiland Horst Buchholz in der bereits klassischen Verfilmung.
Doch Lobpreisung besser spät als gar nicht, und der Anlass ist wiederum ein mehr als angemessener: Sophie Rois gab Joseph Roths nachgelassenen – der Autor war ein halbes Jahr vor Erscheinen verarmt und alkoholkrank am 27. Mai 1939 im Pariser Exil verstorben – Roman „Die Geschichte der 1002. Nacht“.
Dieselbe ist, in groben Zügen, rasch erzählt: Der Schah von Persien, seiner Haremsdamen überdrüssig, wird gemütskrank. Etwas Exotisches könnte helfen. Er reist nach Wien und wählt in Unkenntnis der dortigen konkreten, der KuK-Erscheinungsformen und Gepflogenheiten gesellschaftlicher und moralischer Verkommenheit – die sind Roths eigentlicher Gegenstand in dieser mit klinisch klarem Blick sezierenden Satire, in der das Böse umso hintersinniger, weil immer „weanarisch“, also scheinbar gemütvoll, daherkommt, – auf einem ihm zu Ehren gegebenen Ball eine Gräfin aus, der er auf die Nacht zugeführt zu werden wünscht. Was in diplomatischer Verwicklung zu enden droht, richtet ein adliger, kommoder Weise zur besonderen Verwendung anlässlich Staatsbesuch abkommandierter Rittmeister: Die Gräfin, auf die er in jungen Jahren nicht nur ein Auge geworfen hatte, vergeblich allerdings, gleicht nämlich der Mitzi, einer Prostituierten, bei der er nach der Gräfin physische Erfüllung suchte und fand. (Zu mehr als Physischem hat die Natur ihn eh nicht konditioniert.) Dieser Mitzi wohnt der Schah, ohne den Schwindel zu bemerken und zu seiner so vollen Zufriedenheit bei, dass er sie anschließend mit einem 50.000-Gulden-Geschenk zur reichen Frau machen lässt. Das Ganze endet trotzdem teil-tragisch – nämlich für den Rittmeister in der Selbstentleibung: Der muss erst, als das Spiel mit der falschen Gräfin doch noch öffentlich und zum Skandal wird, seinen Dienst beim Militär quittieren, und als seine Rückkehr in denselben, da ihm für ein ziviles Leben alle Voraussetzungen fehlen, Jahre später an den wieder auftauchenden Akten über den alten Fall scheitert, da ist der Griff zum Pistol ebenso folgerichtig wie final. Die Mitzi trifft es besser. Zwar sitzt sie zwischenzeitlich einem Betrüger auf, und das beschert ihr zumindest temporär noch ein ganz anderes Sitzen, nämlich in einer „Weiblichen Straftanstalt“. Auch kriegt sie den Rittmeister, den sie liebt, nicht, besitzt aber gegen Endes Romans mit dem „Welt-Bioscop“ zumindest ein materiell auskömmliches Wachsfigurenkabinett. Dessen alten Lieferanten lässt Roth sein Urteil über die Gesellschaft seiner Zeit sprechen: „Ich könnte vielleicht Puppen herstellen, die Herz, Gewissen, Leidenschaft, Gefühl, Sittlichkeit haben. Aber nach dergleichen fragt in der ganzen Welt niemand. Sie wollen nur Kuriositäten in der Welt; sie wollen Ungeheuer. Ungeheuer wollen sie!“.
Damit endet „Die Geschichte der 1002. Nacht“ und weist, wenn man so will, über sich hinaus bis in unsere Zeit. Denn im Grundsätzlichen hat sich seither ja nicht wirklich viel geändert.
Die tragikomische Gesellschaftssatire Roths kongenial zum Vortrag zu bringen, gelang der gebürtigen Ottersheimerin Sophie Rois – ihr Herkunftsort liegt nahe Linz – auf der ganzen Linie. Ihr österreichisches Timbre mit, wo passend, an- und abschwellendem Singsang gab dem Vortrag ein auf den Punkt treffendes akustisches Kolorit von unter die Haut gehender Wirkung. Immer wieder erstaunlich dabei nicht zuletzt die Stimmgewalt der Rois – ja immerhin kein „resches“ Frauenzimmer, sondern von eher filigraner Statur –, etwa wenn der Vorgesetzte des Rittmeisters diesen nach Ruchbarwerden des Skandals in bester Kasernenhofmanier zusammenfaltet. Da bebte der Saal in Neuhardenberg, und man war versucht, die Mimin mindestens zum Feldwebel ehrenhalber zu ernennen.
Auch dem Einrichter des Textes für die Lesung, Clemens Schönborn, gebührt eine anerkennende Vermerkung: Er ging dergestalt zu Werke, dass auch Zuhörer, die den Roman nicht kannten, ohne Verständnisprobleme in den Genuss der gesamten (Haupt-)Handlung kamen. Sein Können war in ebensolcher Weise bereits der Bovary-Lesung im vergangenen Jahr zugutegekommen.