17. Jahrgang | Nummer 7 | 31. März 2014

Eine Nachricht aus Polen

von Fritz E. Gericke

Eine Nachricht aus Polen:
„Heute einige Worte über Ukraine. Mein Eingangspunkt ist die Gedächtnis UPA (Bandera-Truppen). Mörder in 1943-1944. Die Opfer waren Polen (insbesondere, 150.000 Menschen oder mehr), Juden, Russen, Ukrainer (die, die ihren Nachbarn nicht ermorden wollten). Die Sache ist nicht in (der Zahl der – der Autor) getöteten Leute, aber in Methode der Mörder. Die Deutschen getötet viele Polen, aber (ohne Konzentrationslager) mit menschlichen Methoden. Die Bandera-Truppen machten das schlechter als Japanische (das ein Erfolg) – mit Axten und Sagen, mit Lust und Vergnügen die Leiden zu geben. Solche Tat kann nicht vergessen sein. Die neue Regierung von Ukraine nennt die Bandera-Mörder ‚Kämpfer über die Heimat’. Nach diese Idee, sie waren ‚Patrioten, nicht Mörder’. Polnische Regierung unterstützt die neue Macht. Polen eigentlich nicht. Polnische Regierung realisiert USA-strömungen. Mit herzlichen Grüssen (wie immer), J.“
Ich kenne den Schreiber dieser Mail nicht, aber wir haben gemeinsame Freunde, die mir diese Mail zusandten. J. erinnert sich und diese Erinnerungen treiben ihn um. Ich habe die Mail wieder und wieder gelesen. Bilder tauchten vor mir auf und Worte, Erinnerungen eben, Begriffe wie „Juden“, „Bolschewik“, „Faschist“, „vaterlandslose Gesellen“  und auch ein ganz altes Wort: „Brunnenvergifter“.
Wenn irgendwo die Pest ausbrach, Typhus oder Cholera Mensch und Vieh dahinrafften, da war der Begriff schnell zur Hand, und oft, viel zu oft, verband er sich mit „Juden“, „Zigeunern“, „fremdem Gesindel“. Es kam zu Pogromen. Die „Brunnenvergifter“, die Juden, Zigeuner, die Fremden erschlug man. Wer nicht erschlagen wurde, wurde wenigstens vertrieben. Auch die Pest, die Cholera und der Typhus wurden weitgehend vertrieben. Der Begriff des Brunnenvergifters aber ist geblieben, auch als aus Brunnen längst Wasserwerke geworden waren. Wo sie entstanden, verlor sich nach und nach auch die Angst der Menschen vor vergifteten Brunnen. Die „Brunnenvergifter“ aber bekamen ein neues Feld, das oft mit blutiger Ernte bestellte wurde. An die Stelle der Brunnen trat das Blut. Juden vergifteten jetzt unser reines germanisches Blut, wie auch die Zigeuner oder die Slawen oder die Neger. An die Stelle der Brunnen trat unsere Kultur. Entartete Kunst war Brunnenvergiftung unseres Denkens und Empfindens. Jüdisches Handeln, gleichgesetzt mit Plutokraten, war Gift für unsere Moral, für unsere Ehre und unseren Edelmut genauso wie die Primitivität und der Terror des bolschewistischen Gesindels. Die Bösen waren immer die Anderen. Die Ankläger merkten es nicht einmal, dass sie selbst zu geistigen Brunnenvergiftern geworden waren und dass sie es immer noch sind, ganz gleich auf welcher Seite sie stehen.
Ich habe die Zeit bewusst erlebt, wo man Juden und Deutsche einsperrte und oft genug umbrachte, weil sie miteinander geschlafen hatten, wo man Jugendliche als „Tangojünglinge“ ins KZ steckte, weil sie durch Frisur und Kleidung nicht den staatlichen Bedingungen entsprachen, wie Jugendliche auszusehen und sich zu kleiden hatte, wo jungen Menschen, die gern Swingmusik hörten, der Zersetzung des Nationalbewusstseins beschuldigt wurden. Auch sie landeten als Angehörige der „Swing-Jugend“ im Jugend-KZ. Jazz und abstrakte Kunst galten nicht nur im sogenannten Dritten Reich als entartet.
Ein Ende ist nicht in Sicht. Millionen und Abermillionen von Menschen sind Opfer der Brunnenvergifterhysterie geworden, mit Äxten und Sägen dahingemetzelt, an Fleischerhaken oder Laternen aufgehängt, erschossen, vergast oder als Sklaven namenlos verreckt.
Die Chance, diese verhängnisvolle Entwicklung zu beenden wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg vertan. Wer nicht dachte, wie man wollte, dass er denken solle und das vielleicht auch noch öffentlich tat, der bekam schnell den Stempel aufgedrückt, ein Faschist zu sein, selbst wenn er bei denen im Gefängnis oder KZ gesessen hatte. Das war im Osten Deutschlands. Im Westen hieß es schnell, wenn einer nicht so dachte, wie man wollte, dass er denken solle: „Geh doch nach drüben, du Kommunist.“ Selbst wenn der oder die Betroffene gerade erst dort aus der Haft entlassen worden war.
Irgendwann gab es dann die Allianz des Bösen, mal waren es die gottlosen Kommunisten, die des Teufels waren, dann  waren es die Islamisten, und für die Islamisten waren es die „ungläubigen Hunde“. Die unheiligsten Kriege wurden zum heiligen Krieg hochstilisiert.
Putin, der längst dem Kommunismus den Rücken gekehrt hat, erklärt, die Ukraine würde nach dem Putsch von Faschisten regiert. J. erinnert sich an die Bluttaten der Bandera-Banden und schon wird aus dem Bruderland Ukraine eine Bedrohung. Ukrainer erinnern sich, dass ihr Land mal unter österreichischer, mal unter russischer, mal unter polnischer Vorherrschaft stand, dass die Krim einmal zu Polen gehört hat und so finden tatsächlich auch die chauvinistischen Kräfte in der Ukraine offene Ohren, ihr nationaler Held ist Stephan Bandera.
Wer war dieser Bandera? Zunächst einmal war er ein vielversprechender junger Mann von hoher Intelligenz. Er litt darunter, dass an dem Polytechnikum in Lemberg nur wenige Fächer für Ukrainer, also auch für ihn offenstanden. Geboren wurde er 1909 in Staryj Uhryniw, das damals noch zu Österreich gehörte und nach dem 1. Weltkrieg polnisch wurde. Der Vater war Priester der ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Die Tatsache, dass er als Ukrainer Schwierigkeiten hatte, einen Studienplatz und in der Gesellschaft überhaupt einen Platz zu finden, dürfte entscheidend mit dafür gewesen sein, was später aus ihm wurde. Frühzeitig schloss er sich der der Organisation Ukrainischer Nationalisten an. Er erlangte dort in kürzester Zeit großen Einfluss. 1934 wurde er wegen Beteiligung an dem Mord am polnischen Innenminister Bronislaw Pieracki, der sich besonders durch die Verfolgung ukrainischer Nationalisten hervorgetan hatte, zum Tode verurteilt, später zu lebenslanger Haft begnadigt und nach fünf Jahren entlassen. Er suchte bei den Nationalsozialisten seinem Ziel einer unabhängigen Ukraine näher zu kommen. Er wurde ermuntert, die „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ und die „Ukrainische Aufstandsarmee“ auf die Seite der Deutschen zu ziehen. Als er am 30.6.1941 in Lemberg den unabhängigen Staat Ukraine ausrief, fiel er in Ungnade und landete im KZ Sachsenhausen, aus dem er 1944 wieder entlassen wurde. Die Sowjets und die Polen warfen ihm vor, er habe noch vor dem Einmarsch der Deutschen in Lemberg tausende Polen und Juden ermorden lassen. Nach seiner Entlassung bekämpfte er mit Partisanen einmal die Deutschen und dann wieder die Rote Armee. Seinem Ziel, eine unabhängige Ukraine, blieb er treu. Als er in Abwesenheit wegen der Morde in Lemberg zum Tode verurteilt wurde, floh er 1946 über Österreich nach München, wo er sich unter einem Decknamen aufhielt. Dort wurde er am 15. Oktober 1959 mit einem Blausäureattentat vom NKWD liquidiert. Es darf bezweifelt werden, dass er ein Faschist war. Er war ein Rassist und Chauvinist. Für die Einen wurde er zum Volkshelden, für die Anderen war er ein skrupelloser Mörder.
Nationalistische Kräfte sammeln sich überall. In Russland in der so genannten „liberalen“ Partei, in Polen, in der Bundesrepublik Deutschland, in den Niederlanden, in Frankreich bei le Pen, in Spanien, Italien, Griechenland – wo man ein Bündnis mit den Kommunisten einzugehen bereit ist. Keines dieser Länder ist ein faschistisches Land und die dort lebenden Menschen sind nicht generell alle Faschisten.
Und wie reagiert der Westen auf Putin. Man vergleicht ihn mit Hitler, man wirft ihm vor, das Sowjetimperium wieder errichten zu wollen oder ein Zar sein zu wollen. Die Brunnenvergifter haben Konjunktur auf beiden Seiten. Ihre Opfer sind die, die sich wieder vor ihrem Nachbarn zu fürchten beginnen.
Ich mir wünschte ein Jahr des Schweigens, denn mit unsren Worten geraten wir alle Tag für Tag in die Gefahr durch simple Verallgemeinerungen zu Brunnenvergiftern zu werden, die Hass und Furcht verbreiten helfen. Mein Nachbar bleibt mein Nachbar, auch wenn seine Kohlsuppe ein wenig strengt riecht, mir seine Musik auf die Nerven geht und ich vieles von dem was er mir sagt, nicht verstehe. Soll Gott ihn beschützen, wenn ich es nicht kann.