17. Jahrgang | Nummer 6 | 17. März 2014

Ein trotziger Genosse: der Theatermacher Fritz Marquardt

von Reinhard Wengierek

Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow“ – nur wenige wissen, dass dieser durchaus seltsame und etwas sperrige Titel einem Defa-Film gehört, den Siegfried Kühn Anfang der 1970er Jahre in entlegenster märkischer Landeinsamkeit drehte. In einer unvergesslichen Szene lallt da am Küchentisch hockend ein sturzbetrunkener Dorfdepp seinem Suffkumpel Friedrich Wilhelm Georg die schwermütig aberwitzige Frage entgegen: „Du bist so gut zu mir, bist du in der Partei?“
Diesen guten Kauz am schnapsseligen DDR-Weltenende, dieses dürre, zähe, ältliche Männlein namens Platow, dem die Tragödie widerfuhr, seinen Daseinssinn als Schrankenwärter zu verlieren, weil man die zu hütende Nebenstrecke still legte, und der am toten Gleis dann doch noch seinen Totpunkt überwindet auf grotesk anarchische Art, diesen verrückten Kerl spielte einst Fritz Marquardt.
Die Figur des einzelgängerischen, schwermütigen und doch vertrackt gewitzten, lebensklugen Plebejers P. entsprach ziemlich genau dem Wesen Fritz Marquardts, der vor 85 Jahren in einem Kaff im Warthebruch geboren wurde – und jetzt, am 4. März, in einem Kaff bei Pasewalk gestorben ist.
Diesen zarten und doch zähen Menschen mit seinen großen, dunkel glühenden Augen zwischen buschigen Brauen und zottigem Schnauzer, der nie groß in den Schlagzeilen stand und doch unentwegt im „systemkritischen“ DDR-Kultur- und Theaterbetrieb groß mitmischte, diesen Künstler können wir uns gar nicht anders vorstellen als mit seiner ewigen Baskenmütze auf dem Kahlschädel sowie der ewigen Fluppe im knochigen Gesicht.
Fritz Marquardts Weg ins Musische wie Politische ist DDR typisch: Aus kleinsten Verhältnissen kommend, nach traumatischen Erlebnissen im Krieg und als Verschleppter im sibirischen Straflager, sah er dennoch im Sowjet-SED-System zunächst die Grundlage zur Weltverbesserung, um alsbald zu begreifen, dass es der Menschenbefreiung entgegenstand. Wer jedoch unbedingt und voll Trotzalledem-Hoffnung verbleiben und kritisierend mitreden wollte in diesem System („Ich habe immer eine Tendenz zum Bockigsein.“), dem stand das biografische Zickzack als „schwieriger Genosse“ bevor. Eben das notorische Rauf und Runter zwischen sturer Aufsässigkeit und gewieftem Opportunismus: „Die DDR war mir Arbeitsbedingung; im Guten wie im Bösen.“
Nach schwerer Landarbeit darf M. – Proletarier auf die Schulbank! – schließlich doch sein Abitur machen und an der Arbeiter- und Bauerfakultät Philosophie studieren; gleich am prominentesten Ort in Ost-Berlin bei Wolfgang Heise (Diplomarbeit über „Das Komische bei Hegel“). Dann das berüchtigte Raus und Rein: Erst Zeitungsredakteur und Kreissekretär für Jugendweihe, dann fort in die Produktion als Bauhilfsarbeiter, dann zurück als Redakteur wieder ganz oben in Berlin beim Fachblatt „Theater der Zeit“. Dann, nach dem Skandal ums spektakuläre Heiner-Müller-Verbot (die Inszenierung „Die Umsiedlerin“ am Studententheater der Ökonomie-Hochschule Berlin-Karlshorst), wieder zurück in tiefste Provinz ans Parchimer Theater. Und dort, nach einem enorm expressiven, enorm antinaturalistischen „Woyzeck“, wiederum Rausschmiss; später, etwas überraschend, die Einstellung als Lehrkraft an der Babelsberger Filmhochschule sowie als Regisseur in Potsdam. 1969 wieder Berlin: die Volksbühne! Matthias Langhoff erzwingt beim Neu-Intendanten Benno Besson das Engagement erst als Archivar, dann als Regisseur. So avanciert M. zur prägenden Kraft einer der wichtigsten Phasen des DDR-Theaters, das in den 1970er Jahren in der Volksbühne auf ungewohnt sinnliche, unerhört kritische Weise Grundprobleme des realen Sozialismus eine Zeitlang durchspielt: Fritz Marquardt wird zum wichtigsten Mann Heiner Müllers mit den berühmten Müller-Uraufführungen „Die Umsiedlerin/Die Bauern“ und „Der Bau“ – die monströse Metapher für DDR. Da höhnt eines Arbeiters „Gratulation zum Schutzwall“ mit dem Satz: „Hätt ich gewusst, dass ich mein eignes Gefängnis bau hier, jede Wand hätt ich mit Dynamit geladen“.
Damit war natürlich Schluss mit Volksbühne. Zur Entschädigung und Ruhigstellung durfte M. nach 1980 im Westen inszenieren (höchst erfolgreich) und etwas später sogar – bemerkenswerterweise unter Hardliner-Intendant Manfred Wekwerth – im Berliner Ensemble. Sein BE-Knaller damals, Mitte der 1980er Jahre: Die DDR-Erstaufführung von Müllers philosophischem Historical „Germania Tod in Berlin“.
1993, nach der welthistorischen Zäsur, trat der vom Dauerzorn auf die Verhältnisse und von beinahe selbstzerstörerischer Suche nach Wahrhaftigkeit Gequälte und Getriebene noch einmal mit aufreißerischem Aplomb an am Berliner Ensemble: Als Mitglied des Vierer-Direktoriums mit Peter Zadek, Peter Palitzsch, Matthias Langhoff, das sich freilich rasch verkrachte nicht allein aus ästhetischen Gründen und alsbald kleinlaut scheiterte.
Nach einer schönen Ibsen-Inszenierung im BE („Klein Eyolf“ mit Corinna Harfouch) sowie einem bitter-komischen Auftritt in Andreas Dresens Film mit dem sinnigen Titel „Whisky mit Wodka“ (2009) zog M. sich still zurück. Als dichtender, malender und verschmitzt weltweiser Eremit auf einem verwunschenen Bauernhof im weiten Land der Uckermark mit seinem hohen Himmel. Der war ihm Trost und letztes Glück.