17. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2014

An der Wiege der Zivilisation: Pflanzenzucht?

von Frank Ufen

Irgendwann gegen Ende der letzten Eiszeit – vor etwa 10.000 bis 12.000 Jahren – haben Menschen angefangen, ihre Wildbeuter-Lebensweise aufzugeben und stattdessen Landwirtschaft und Viehzucht zu betreiben. In den Augen des Biologen und Ökologen Hansjörg Küster war allerdings allein die Einführung der Pflanzenzucht entscheidend für den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte. Denn als man dazu übergegangen sei, Pflanzen zu kultivieren und anzubauen, sei man gezwungen gewesen, die Felder und Gärten, die Vorräte und das Saatgut ständig zu bewachen. Und damit hätten die Sesshaftigkeit und der Prozess der Zivilisation eingesetzt.
Welche Umstände zur Erfindung der Landwirtschaft geführt haben, ist nach wie vor nicht geklärt. Küster ist der Auffassung, dass die fundamentalen klimatischen und ökologischen Veränderungen am Ende der letzten Eiszeit für die damaligen Jäger und Sammler zu einer existenziellen Bedrohung geworden seien. In etlichen Regionen sei nämlich das Großwild knapp geworden. Das sei zum einen zurückzuführen auf die Bildung ausgedehnter Wälder, wodurch die Säugetiere, denen man früher nachgestellt habe, kaum noch Nahrung hätten finden können. Zum anderen habe es Regionen wie insbesondere den Nahen Osten gegeben, wo zwar zunächst nur wenige geschlossene Wälder entstanden, wo aber die Böden immer mehr Salz verloren hätten und Pflanzen, die es speichern konnten, immer weiter zurückgedrängt worden seien. Auch dieser Umstand habe eine Verknappung des Jagdwilds zur Folge gehabt.
Um nicht immer wieder Gefahr zu laufen zu verhungern, hätten sich die neolithischen Jäger und Sammler etwas einfallen lassen müssen. Schließlich hätten sie sich darauf verlegt, die Körner von Wildgetreide zu sammeln, einen Teil davon als Saatgut zu verwenden und durch Züchtung die Erträge nach und nach zu steigern. Außerdem hätten sie die Säugetierarten ausfindig gemacht, die sich zur Domestikation eigneten.
All das begann im Gebiet des „Fruchtbaren Halbmonds“, in der niederschlagsreichen Region nördlich der arabischen Halbinsel , wo die Wildformen etlicher, bald darauf angebauter Getreidesorten und Hülsenfrüchte prächtig gediehen und wo noch dazu die wilden Vorfahren einer ganzen Reihe der späteren Haustiere lebten. Von dieser Region aus gelangte dann die Landwirtschaft nach Europa, in den Norden Afrikas und in den Westen Asiens. Wahrscheinlich mit einiger Verzögerung kamen schließlich auch an anderen Orten der Erde Menschen auf die Idee, Wildgräser und andere Pflanzenarten zu kultivieren und so ihre Nahrungsmittelproduktion selbst in die Hand zu nehmen.
Küster geht es in erster Linie darum herauszuarbeiten, welche Probleme sich ergaben, als die ersten Versuche unternommen wurden, Pflanzen mit passenden Eigenschaften zu züchten. So dürfte sich schon bald herausgestellt haben, dass unreife Getreidekörner zwar sofort verspeist, aber nicht gelagert werden konnten. Reife Körner hingegen verschimmelten längst nicht so leicht, doch sie waren erst nach mühsamer Bearbeitung genießbar und sie waren zunächst nur schwer zu beschaffen, weil die Körner an den Wildgrasähren nicht gleichzeitig reiften und jedes Korn, das reif geworden war, nach kürzester Zeit zu Boden fiel.
Küster vermutet, dass die frühen Ackerbauern beizeiten lernten, nicht die Gräser mit den größten Körnern zu sammeln und wieder auszusäen, sondern solche mit besonders festen Ährenachsen, an denen möglichst mehrere reife Körner lange haften blieben. Durch diese menschlichen Eingriffe konnten sich ausgerechnet diejenigen Pflanzenindividuen durchsetzen, die unter natürlichen Bedingungen die schlechtesten Chancen gehabt hätten, sich zu vermehren. Diese Ausbreitung der ältesten Kulturpflanzen dürfte sich mit hoher Geschwindigkeit vollzogen haben. Denn da viele von ihnen Selbstbestäuber waren, kam es relativ selten zu einem genetischen Austausch zwischen wilden und kultivierten Formen.
Küster ist ein Verfechter der herkömmlichen Theorie, die die Landwirtschaft als eine durch chronischen Nahrungsmangel ausgelöste Innovation begreift. Gegen diese Auffassung sind allerdings in jüngster Zeit eine Reihe von Einwänden erhoben worden, mit denen sich Küster nicht auseinandersetzt. So deutet in den Augen des Biologen Josef Reichholf vieles darauf hin, dass es gerade im Gebiet des „Fruchtbaren Halbmonds“ zu Beginn der Jungsteinzeit Jagdwild in Hülle und Fülle gegeben haben muss. Außerdem seien die Körner des Wildgetreides anfangs noch derart winzig und derart schwer von den Spelzen zu trennen gewesen, dass dem Arbeitsaufwand ein äußerst geringer Ertrag gegenübergestanden habe. Reichholf vermutet, dass Getreide zunächst in erster Linie dazu diente, Bier zu brauen, um damit kollektive Rauschzustände zu erzeugen.
Der amerikanische Archäologe Brian Hayden hingegen nimmt an, dass der Kampf um Macht und Prestige zur Erfindung der Landwirtschaft geführt haben könnte. Das würde nämlich erklären, warum einige der ältesten Kulturpflanzen verschwindend wenig Kalorien liefern.
Man kann an diesem hochgelehrten, nüchtern formulierten Buch das eine oder andere beanstanden. Aber es bietet einen exzellenten Abriss der globalen Geschichte der Kulturpflanzen von ihren Anfängen bis hin zur unmittelbaren Gegenwart, wobei die wichtigsten Getreidearten und Hülsenfrüchte ebenso berücksichtigt sind wie zahlreiche Obst- und Gemüsesorten, Öl-, Gewürz- und Faserpflanzen. Ein Buch, das etliche verblüffende Einsichten vermittelt.

Hansjörg Küster: Am Anfang war das Korn. Eine andere Geschichte der Menschheit. C. H. Beck, München 2013. 298 Seiten, 24,95 Euro.