von Kirsten Staudt
In der Ausgabe 1/2014 hatte Das Blättchen einen „Nachschlag vom Petersburger Dialog“
publiziert. Jetzt erreichten uns die Impressionen und Überlegungen
einer jungen Teilnehmerin des jüngsten Treffens in Kassel,
die diesen „Nachschlag“ um weitere Facetten ergänzen
und zum Teil über die unmittelbare Veranstaltung hinaus
Anregungen für die Fortführung des Petersburger Dialogs enthalten.
Die Redaktion
Als dem stämmigen Mann mit den weißen Haaren der Kragen platzt, wird plötzlich der ganze Graben deutlich, der den russischen Blick auf die Aktualität von dem deutschen trennt. In einer minutenlangen Tirade schimpft er mit rotem Kopf: über die angeblichen Bemühungen der EU, einen Keil zwischen Russland und die Ukraine zu treiben, über die vermeintliche Drahtzieherschaft der USA in diesem Bestreben, über die vorgebliche Missachtung historischer und politischer Bindungen, wobei er gleich auf die ganze habsburgische Heiratspolitik zurückgreift.
Zu meiner Linken kichert Vlad, junger Filmproduzent aus Sankt Petersburg, auf der rechten Seite schmunzelt der Repräsentant des deutschen Russischlehrerverbands, wenn er nicht gerade die Stirn runzelt. Naja, eine Befürchtung ist jedenfalls widerlegt: „Eto budet skuchno…“, das wird langweilig, hatten Vlad und ich zu Beginn der Podiumsdiskussion auf unseren gemeinsamen, sehr inoffiziellen Kommentarzettel geschrieben. Stattdessen geht es hoch her.
Die Fünf auf der Bühne scheinen nicht recht zu wissen, ob sie der Litanei mit amüsierter, empörter oder betretener Miene folgen sollen. Dazwischenzufahren, traut sich jedenfalls keiner; der ansonsten vor allem durch seine süffisanten Bemerkungen auffallende Moderator Mathias Brüggmann, seines Zeichens Chef des Handelsblatt-Auslandsressorts, hat das Heft ohnehin aus der Hand gegeben.
Schließlich ist der empörte Herr mit den Verschwörungstheorien nicht irgendwer, sondern Valeri Golubev, stellvertretender Vorstandsvorsitzender von Gazprom. Das mindert den Unterhaltungswert seines Auftritts etwas, den man ansonsten als übersteigerte Stammtisch-Einzelmeinung abtun könnte.
Auf dem Podium macht Gernot Erler, Osteuropaexperte der SPD, zum Glück nicht den Fehler, angesichts der emotionalen Anschuldigungen seinerseits in Rage zu geraten. Als Golubev sich endlich wieder gesetzt hat, erlaubt sich Erler lediglich ein paar Spitzen zur Bemängelung lettischer Milch und moldawischen Weins durch russische Behörden, um die durchaus vorhandene Drohkulisse der Gegenseite zu illustrieren.
Damit scheint die Stimmung am zweiten Tag des 13. Petersburger Dialog einen Tiefpunkt erreicht zu haben. Dabei hatte er so vielversprechend angefangen.
Irgendjemand, der sich mit den Fähigkeiten deutscher Politiker offenbar auskennt, hatte die glänzende Idee gehabt, Matthias Platzeck als Redner für die Eröffnungsveranstaltung zu gewinnen. Was Platzeck dann zu den Beziehungen zwischen Russland und Deutschland, zu ihren Herausforderungen und Chancen, aber auch zu seinem persönlichen Russlandbezug zu sagen hatte, gehörte zu den seltenen, besonderen Momenten politischer Redekultur, die ein viel größeres Publikum als die wenigen hundert geladenen Gäste im Saal des Kasseler Kongress Palais verdient hätten.
Der klügste Schachzug in Platzecks Rede bestand wohl in der Wahl des primären Adressaten: Zunächst richtete er sich nämlich an seine eigenen Landsleute, die im russisch-deutschen Verhältnis ja eher nicht durch Umsicht auffallen. Viel lieber sieht sich das Gros der Politiker und Medien als Berufene, den ‚russischen Freunden’ ihre demokratischen und menschenrechtlichen Defizite vor Augen zu halten.
Dass es diese gibt, wollte auch Platzeck nicht bestreiten. Aber er plädierte eindringlich für etwas mehr Bescheidenheit von deutscher Seite; dafür, die Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen auch einmal akzeptieren zu können, dafür, sich nicht gegenüber Russland als stetiger Mahner zu gebären, wo man doch zu vielen anderen gravierenden Verstößen in anderen Teilen der Welt kontinuierlich schweige. Mit „Vorurteilen, Stereotypen und Verdächtigungen“ komme man im deutsch-russischen Verhältnis nicht weiter, so Platzeck. Die Wahrnehmung in deutschen Medien sei eben auch selektiv, erinnerte er. Um sich aber wahrhaft auf Augenhöhe zu begegnen, sei es notwendig, „in Debatten nicht mit dem fertigen Urteil einzusteigen“.
Dass er damit nicht nur einigen der anwesenden deutschen Russlandexperten, sondern auch der russischen Delegation aus der Seele gesprochen hatte, zeigte sich in dem minutenlangen Applaus, den der frühere brandenburgische Ministerpräsident erhielt.
Bei der Podiumsdiskussion am nächsten Tag hingegen drängt sich der Eindruck auf, dass der Moderator in diesem wichtigen Moment nicht zugegen gewesen war. Oder die warmen Empfehlungen Platzecks nicht bis zu ihm durchgedrungen sind.
Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Kaster, startet gerade einen zaghaften Versuch, etwas mehr ‚Augenhöhe’ in die Begegnung zu bringen: Er regt an, über Dimensionen nachzudenken, in denen man von Russland lernen könne – betreffs des Stellenwerts der Familie, zum Beispiel, von Literatur und Kunst, auch des Umgangs mit Künstlern. Da kann Brüggmann es sich nicht verkneifen, im Brustton deutscher Selbstgerechtigkeit anzufügen: „Ich hoffe nur, dass Sie damit nicht die Verhaftung von Pussy Riot gemeint haben.“ Resigniertes Seufzen im Saal. Kann man ein bisschen Wertschätzung nicht ein einziges Mal einfach stehenlassen?
Zum Glück erschöpft sich die offizielle Interaktion nicht in derlei Possen. In acht Gruppen sollen, themenspezifisch, Vorschläge für die Kooperation erarbeitet werden. Die Atmosphäre ist freundlich; Ziel ist es erklärtermaßen, Gemeinsamkeiten zu betonen. Richtige Diskussionen kommen dabei allerdings kaum auf: Die Teilnehmer wählen vorwiegend den Weg, Zahlen, Fakten, Begriffe zu präsentieren. Ein Referat, ein paar Ergänzungen, wenig Widerspruch. Vieles bleibt entweder so abstrakt oder so fallspezifisch, dass die Harmonie nicht ernsthaft gefährdet wird. Natürlich ist der zeitliche Rahmen von dreieinhalb Stunden auch zu kurz, um zu ernsthaften Ergebnissen zu gelangen. Dass aus diesen Arbeitsgruppen trotzdem immer wieder Initiativen hervorgehen, liegt wohl eher daran, dass sie im Laufe des Jahres mehrere Zwischenkonsultationen einlegen.
Beim Verlassen des Gruppen-Raumes jedenfalls bleibt eher ein Zweifel, ob hier jetzt wirklich an wesentlichen Punkten gerührt wurde, oder auch nur ein wahrhafter „Austausch“ stattgefunden habe.
Zumindest gelegentlich wird gerade dies auch aktiv zu verhindern gesucht. „Chudolej kommt ständig auf die Wirtschaftskrise zurück. Das scheint ja sein Lieblingsthema zu sein! ;-)“, notiere ich über den Leiter des Lehrstuhls für Europastudien der Universität Sankt Petersburg während der Podiumsdiskussion. „Sie wollen wohl schärfere Fragen vermeiden“, gibt Vlad zurück.
Erler will sich mit dieser Ablenkungstaktik nicht abfinden. „Sie haben jetzt zum zweiten Mal die Wirtschaftskrise angesprochen, Herr Chudolej. Ich sehe noch nicht, in welch besonderem Maß diese – bei der ja auch erste Besserungen zu verzeichnen sind – die deutsch-russischen Beziehungen bedroht.“
Was folgt, ist eine lange, verworrene Erklärung zur Situation der Banken in Russland. Eine habe sogar bereits geschlossen werden müssen. „Er antwortet nicht auf die Frage“, schreibe ich auf unseren Kommentarzettel. „Und er tut so, als sei die Bank wegen des Rezessionsrisikos oder so geschlossen worden. Dabei wurde sie geschlossen, weil sie zwei Milliarden Rubel gewaschen hat ;-)“, lautet die Entgegnung.
Spätestens ab diesem Moment erscheint mir der direkte Austausch mit den anderen Teilnehmern viel aufschlussreicher als der offizielle Teil der Veranstaltung.
Und natürlich besteht der wesentliche Teil des Petersburger Dialogs in den Begegnungen. Es werden Kontakte geknüpft und eifrig Visitenkarten getauscht. Selbst, wenn man berücksichtigt, dass man ein Drittel seiner Visitenkarten für die Hinterlegung des eigenen Namens beim Austeilen der Übersetzungsgeräte hergibt, zeugt das Schrumpfen des eigenen Adresskärtchenstapels immer noch von einer großen Anzahl neuer Bekanntschaften.
Allerdings könnte noch mehr dafür getan werden, dass es auch wirklich Deutsche und Russen sind, die sich da kennenlernen. In den weniger formalisierten Situationen – Mittag- und Abendessen, Kaffeepausen – gesellen sich gleich und gleich lieber, als dass nationale Gegensätze sich anzögen.
Das mag auch an den Sprachkenntnissen liegen – nicht alle sprechen gut Russisch beziehungsweise Deutsch. Und das Englischniveau ist gerade auf der russischen Seite sehr durchwachsen. Trotzdem: Wenn man sich schon extra „junge Teilnehmer“ – so wie mich – einlädt – warum veranlasst man nicht, dass diese sich einmal offiziell gegenseitig vorstellen? Und legt eine kleine Sitzung für sie fest, in der sie im Rahmen der Veranstaltung ihre Eindrücke teilen können? So bleibt nur die Hoffnung, dass man über die Arbeitsgruppen oder die Tischnachbarn nach und nach die anderen identifizieren kann.
Es versteht sich, dass, was zueinander gefunden hat, sich an beiden Abenden zu fortgeschrittener Stunde noch zur Erkundung der Kasseler Kneipenkultur aufmacht. Aber erstens können sich so nur diejenigen verabreden, die einander schon „habhaft“ geworden sind. Und zweitens wird diese spätabendliche Völkerverständigung nicht eben durch die Tatsache gefördert, dass man die „Jungteilnehmer“ in drei verschiedenen Hotels untergebracht hat.
Der gute Wille scheint an mancher Stelle nicht zu Ende gedacht. Bei der abschließenden Plenumssitzung tragen zwei Abgesandte des parallel tagenden deutsch-russischen Jugendparlaments leidenschaftlich Forderungen nach einem deutsch-russischen Jugendwerk, nach Studien- und Visumserleichterungen, nach trinationalen Begegnungen mit Polen, aber auch mit der Ukraine vor. „Das kommt jedes Jahr“, merkt neben mir eine Alumna des Jugendparlamentes an. „Jugendwerk und mehr Förderung des Austauschs stehen immer hoch im Kurs.“ Ich stutze. Eben noch habe ich über die lange Liste konkreter Vorschläge der beiden etwa Zwanzigjährigen gestaunt. Jetzt frage ich mich: Das ist jedes Jahr so – aber keine Umbrüche, Umsetzungen sind in Sicht?
Vielleicht ist das der Grund, warum die Delegierten des Jugendparlaments – trotz hitziger Debatten in Wertefragen – die Stimmung bei ihrem Treffen mit „Eins plus mit Sternchen“ bewerten, während dem deutsch-russischen Verhältnis insgesamt selbst der qua Amt optimistische Lothar de Maizière auf Nachfrage nur eine Drei plus bescheinigen will.
Einen Neubeginn brauchten die Beziehungen nicht, sondern eine Vertiefung, das ist die vielbeschworene Formel des 13. Petersburger Dialogs. Wenn das so ist – warum wird der Enthusiasmus dieser jungen Menschen nicht stärker aufgegriffen? Es braucht jedenfalls noch viele Begegnungen und Dialoge, um die derzeitigen Hürden der „Vertiefung“ zu überwinden.
Während der Podiumsdiskussion wird die tief sitzende Skepsis auf beiden Seiten auch an der Verwendung von Begriffen wie „Krieg der Werte“ deutlich sowie der russischen Bewertung einer Wirtschaftszone aus Russland, Belarus und der Ukraine als „Gegengewicht“ zur Europäischen Union. Zugleich warnen die deutschen Redner vor „Entweder-Oder-Mentalität“ und „Kalter-Kriegs-Rhetorik“. In solchen Äußerungen spiegelt sich das notorische Harmoniebedürfnis der deutschen und, vor allem: das notorische Unterlegenheitsgefühl der russischen Seite.
Mein Nachbar zur Linken macht in diesem Kontext eine interessante Beobachtung: „Ist es nicht witzig“, meint Vlad, „wie russische Offizielle ihre Übersetzungskopfhörer nie auf den Kopf setzen? Sie hängen sie hinter die Ohren oder quer unter’s Kinn, als wollten sie sagen: ‚Ich trage keine lächerlichen Kopfhörer.’ Aber dadurch sehen sie noch viel lächerlicher aus.“ „Und meinst du nicht“, spinne ich den Gedanken weiter, „dass das auf einen allgemeinen russischen Komplex übertragbar ist – und darauf, wie die Versuche, eigenständiger und autonomer zur wirken, von außen manchmal wahrgenommen werden?“
Vlad seufzt. Er schaut zu dem Gazprom-Golubev, der – kopfhörerfrei – ins Mikrofon zetert. Dann schreibt er: „Jedenfalls sollte sich dieser Herr nicht mit den Anfängen der Industrialisierung der Ukraine durch Russland beschäftigen. Und mit irgendwelchen Aristokraten. Who cares what was 200 years ago?“
Mittlerweile finde ich unseren Zettel recht aufschlussreich. „Wenn hier eine Kopiermaschine ist, sollten wir ein paar Abzüge machen und sie vor der nächsten Veranstaltung verteilen… ;-)“, setze ich darunter. Vlad lacht.
Vielleicht wäre das wirklich keine schlechte Idee gewesen.
Kirsten Staudt, Jahrgang 1983, ist Doktorandin im Fachgebiet Interkulturelle Kommunikation und lebt in München.
Schlagwörter: Deutschland, Kirsten Staudt, Petersburger Dialog, Russland