17. Jahrgang | Nummer 3 | 3. Februar 2014

Paradigmenwechsel?

von Korff

Die Berliner Morgenpost und andere Medien auch machten sich schon im Dezember Gedanken und unterbreiteten Vorschläge, wie Monika Grütters, die neu bestallte Kulturstaatsministerin, ihre rund eine Milliarde Euro per anno verwenden sollte. Die Mopo verwies dabei auf Festlegungen im Kulturetat hinsichtlich vom Bund finanzierter Einrichtungen in Berlin – und zwar in dieser Reihenfolge: „die Stasi-Unterlagenbehörde, der Zweitsitz der Deutschen Welle, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Akademie der Künste“ sowie „die Kulturverwaltung GmbH mit den Berliner Festspielen, der Berlinale, dem Haus der Kulturen der Welt und dem Martin-Gropius-Bau“. Schau einer an! Mittelbar wirkt die Stasi also noch heute im deutschen Kulturbetrieb, und das sogar bei der Kulturmittelverteilung.
Direkt wirken allerdings jene, die vom tatsächlichen oder vermeintlichen Wirken der Stasi per Ritual etabliert leben, inzwischen auch schon in zweiter Generation. Und just aus diesem Kreis gibt es, Termin wohl überlegt, jetzt das wissenschaftlich fundierte Buch eines ausgewiesenen Kenners der Thematik, Ilko-Sascha Kowalczuk, mit dem knappen Titel „Stasi konkret“*.
Der Klappentext verspricht, was das Werk an Material und weitgehend begründeter Interpretation hergibt. Das ist schon selten; aber noch seltener, dass auch mitgeteilt wird, was sich daraus als Konsequenz bis hin zur gegenwärtigen innerdeutschen Politik ableiten ließe: „Dass die Stasi alles wusste, mithörte und kontrollierte, vermuteten viele Menschen in der DDR. Sie selbst schürte diesen Mythos, um den Anpassungsdruck zu erhöhen. Nach 1989/90 ist sie zudem regelrecht dämonisiert worden. Ließ sich die Verantwortung für die SED-Diktatur auf diese Weise doch bequem auf einer einzigen ihrer Säulen abladen. Ilko-Sascha Kowalczuk wendet sich in diesem Buch gegen beides; Verharmlosungen und Übertreibungen. Stattdessen bestimmt er den historischen Ort der Stasi anhand ihrer konkreten Handlungen und deren Kontexten. Dabei gerät so manche scheinbare Gewissheit ins Wanken. […] Viel zu lange hat sich die Forschung an den Plänen, Begrifflichkeiten und Kategorien des MfS orientiert. Es wird Zeit für eine Geschichte von unten, die fragt, was die Stasi konkret tat. Die DDR wird nicht Stasi-, sondern vollkommen zutreffend SED-Diktatur genannt.“
Das sind relativ klare Worte, wobei die beiden Eingangssätze wohl doch eher eine nachträgliche Interpretation bedeuten, da von einer Mehrheit der DDR-Bürger damals so gar nicht empfunden wurde, was sich im Text des Buches übrigens auch mindestens implizit bestätigt findet.
Überdies vermerkt der Autor, dass es etwa 5.000 Veröffentlichungen zur Stasi-Problematik gäbe, von denen allerdings nur wenige wirklich belegte, nicht nur vermutete oder hochgerechnete Informationen böten. Zahlreiche Texter hätten sich vielmehr darauf verlassen, dass ihre „Wahrheiten“ nicht hinterfragt würden. Wer hat denn schon (und in welchen Medien und Verlagen) wagen dürfen, auch nur zu relativieren?
Der Rezensent der Süddeutschen Zeitung bescheinigte Kowalczuk, sein Buch sei „wichtig, weil es endlich einen ernstzunehmend historischen Umgang mit der DDR-Geschichte einläutet“. Dieser Hinweis lässt aufmerken.
Hinter der „Dämonisierung“ der Stasi war ja als ein Hauptziel unschwer das Bemühen zu erkennen nachzuweisen, dass selbst die Grundideen des Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus des Teufels waren und nur Unheil hervorbrachten. Von da ergab sich die Folgerung „Nie wieder Sozialismus. Nirgends!“ quasi von selbst.
Hinzu traten machtpolitische Erwägungen für die praktische Abwicklung der DDR, für die angesichts der Dimensionen des Vorganges schwerstes Geschütz in Stellung zu bringen und dauerfeuern zu lassen maßgeblichen damaligen Akteuren offenbar angeraten schien. Immerhin waren allein rund zwei Millionen „bewusste“ DDR-Bürger, die diese Gesellschaft am Laufen gehalten hatten, möglichst rasch aus allen auch nur irgendwie relevanten Positionen und Betätigungen zu entfernen, zunächst praktisch durchgängig ohne soziale Abfederung. Da musste Vorsorge für eine weitgehend widerstandslose Eingliederung der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes getroffen werden. Die Zeit drängte – zumal auf östlicher Seite sich mancher schwer tat, die Zeichen der Zeit recht zu deuten. Wolfgang Schäuble jedenfalls monierte in seinem Rückblick „Der Vertrag“: „Ich mußte Herrn de Maizière immer wieder darauf hinweisen, daß es sich um einen Anschluß der DDR und nicht eine Vereinigung von zwei Staaten handelt.“ Jedenfalls musste schnell auch irgendwie personell „abgerechnet“ werden.
„Da rast der See und will sein Opfer haben“, lehrt Schiller. Das „Sündenbock“-Modell nach dem Motto „Ich war‘s nicht, die Stasi ist’s gewesen!“ bot sich in dieser Situation nachgerade an, um jegliche Schuld, auch vermeintliche, auf ein Fell zu häufen, dessen Trägern jede sachliche gesellschaftliche Auseinandersetzung verweigert wurde.
Wer die maßgeblichen damaligen Akteure waren, auf die diese „Richtungsentscheidung“ zurückgeht, ist eine Frage für Historiker. Wer die Weichensteller aber etwa allein in bundesdeutschen Führungskreisen vermutet, könnte irren. Egon Bahr verweist in seinen „Erinnerungen an Willy Brandt“ zum Beispiel darauf, dass Kanzler Helmut Kohl nach dem 3. Oktober 1990 als nächstes großes Ziel die „innere Einheit“ erreichen wollte und in diesem Zusammenhang vor der Enquete-Kommission des Bundestages erklärt habe: „Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich gewusst, was ich mit den Akten der Stasi gemacht hätte.“ Und Bahr hebt des Weiteren darauf ab, dass Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Oskar Lafontaine vergleichbare Ansichten vertreten hätten, bevor er feststellt: „Sie konnten sich nicht gegen den Willen der Bürgerrechtler aus Ostdeutschland durchsetzen, durch den in Westdeutschland der Eindruck entstand, die Stasi sei gleichbedeutend mit der DDR gewesen. So wurden aus den Brüdern und Schwestern Ossis und Wessis, und mehr als zwanzig Jahre später wird überlegt, wann die volle Rechtsgleichheit erreicht werden soll.“
Tempora mutantur – die Zeiten ändern sich. (Und wir mit ihnen?) Darf nun, nach und jenseits von grobschlächtiger Dämonisierung, die Frage nach dem wirklichen Gehalt der Geschichte und der Geschichten differenzierter gestellt werden? Wollte der Rezensent der SZ dezent in diese Richtung weisen? Es wäre zu wünschen, zumal der neoliberale Spätkapitalismus sich als „alternativloses Gesellschaftsmodell“ zwischenzeitlich gründlich desavouiert hat. Manchen könnte allerdings auch die Idee umtreiben, die bisherige Diskreditierung der DDR gewissermaßen auf eine neue, eine breitere Basis (SED-Diktatur) zu stellen und damit „zukunftsfähig“ zu machen.
Der Autor des in Rede stehenden Buches jedenfalls liefert aus der Erforschung des MfS reichlich neues oder neu aufbereitetes Material, Analyse und, wenn auch sparsam, Andeutungen, dass manches doch recht anders gewesen sein könnte, als der bisherige Tenor der Betrachtung es nahelegt – zum Beispiel was den Beitrag des MfS zu den deutsch-deutschen Beziehungen und zur Sicherung des Friedens anbetrifft, Rückwirkung – mitunter Rückschläge – bei der Vormacht eingeschlossen.
Als Nebenwirkung, der Autor ist sich dessen offenbar gern bewusst, wird die Auseinandersetzung unter den tatsächlichen und selbst ernannten Stasi-Spezialisten befeuert. Gewiss nicht zur Freude der Sensationsschreiber, darunter auch solcher im wissenschaftlichen Gewand, selbst wenn sie dauerhaft mit eigenem Haus und festem staatlichen Etat versorgt sowie persönlich pensionsgesichert sind.

* – Ilko-Sascha Kowalczuk: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, Verlag C.H. Beck, München 2013, 428 Seiten, 17,95 Euro.