17. Jahrgang | Nummer 3 | 3. Februar 2014

Unfähigkeit zum Guten

von Erhard Crome

Der Westen bringt Unglück. Nachdem in Afghanistan 1978 eine Gruppe jüngerer Offiziere eine linke Regierung errichten und das Land modernisieren wollte und die sowjetische Führung sich dazu hinreißen ließ, dabei ab Ende 1979 militärischen Flankenschutz zu geben, nutzten die USA diese Gelegenheit, um die UdSSR in „ihren Vienam-Krieg“ zu verwickeln, den sie nur verlieren konnte. Zbigniew Brzezinski, damals Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, rechnete es sich später als großes Verdienst an, dadurch das „Ende des Kommunismus“ herbeigeführt zu haben. Die regierungsfeindlichen Kräfte, die Mudschaheddin, wurden durch die USA, Saudi-Arabien und Pakistan militärisch geschult, mit modernen Waffen ausgerüstet und finanziert. Da man den überkommenen Nationalismus als ideologischen Kitt für nicht ausreichend hielt, kam ein verschärfter Islamismus hinzu, der aus Saudi-Arabien importiert wurde. Als die sowjetischen Truppen 1989 geschlagen abziehen mussten, hatte das afghanische Volk eine bis eineinhalb Millionen Tote zu verzeichnen, fünf Millionen Flüchtlinge hatten das Land verlassen. Der Westen hätte die Entwicklung natürlich auch aussitzen und abwarten können, bis das Experiment scheitert, wie alle anderen sozialistischen Projekte in Asien und Afrika außerhalb Chinas und Vietnams. Aber die Entscheidungsträger in Washington wollten den Krieg, als Revanche für die Niederlage in Vietnam.
Danach folgten aber nicht Demokratie, Freiheit und Glück, sondern ein blutiger Bürgerkrieg, der bis Ende der 1990er Jahre nochmals Hunderttausende Opfer kostete. Allein der Kampf um die Hauptstadt Kabul, den die verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen untereinander austrugen, kostete zwischen 1992 und 1996 50.000 Menschen das Leben, 150.000 wurden verletzt. Die Stadt wurde zerstört, ihre Bevölkerung sank von zwei Millionen auf 500.000. Am Ende errichteten die Taliban ihre Terrorherrschaft, die auf einem extremen, vor allem frauenfeindlichen Islamismus beruhte. Nach dem Angriff auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 eroberten die USA und ihre Verbündeten Afghanistan, installierten eine neue Regierung und führen seither einen Krieg unter NATO-Ägide. Dieser dritte Afghanistankrieg ist auch 2014 noch nicht beendet. Die Zahl der durch direkte Kriegseinwirkung Getöteten liegt nach Berechnungen der IPPNW zwischen 70.000 und 100.000 Todesopfern (in der Zeit vom 7. Oktober 2001 bis 31. Dezember 2011). Die Zahl der durch Folgewirkungen des Krieges Getöteten beziehungsweise Verstorbenen ist hier nicht erfasst. Die Kriegskosten werden mit etwa 143 Milliarden US-Doller pro Jahr angegeben, das heißt, die beteiligten westlichen Länder haben bisher etwa 1.800 Milliarden US-Dollar für diesen Afghanistan-Krieg ausgegeben, aus dem sie jetzt faktisch geschlagen wieder abziehen müssen. Und in Afghanistan wurde keines der anfangs großmäulig erklärten Ziele erreicht.
Die afghanische Bevölkerung hatte bisher ein Drittel Jahrhundert Krieg, ganze Generationen kennen gar nichts anderes. Von Frieden und Menschenrechten, gar Frauenrechten ist das Land weit entfernt.
Im Frühjahr 2003 überfielen die USA und ihre Willigen den Irak. Angeblich, weil der dortige Diktator Saddam Hussein auch mit dem 11. September 2001 zu tun gehabt habe und über Massenvernichtungswaffen verfügen sollte. Nachdem sich das als glatte Lüge erwiesen hatte, wurde erklärt, dass der Sturz eines Diktators und die Einführung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten doch auch eine schöne Sache sei. Dieser Krieg (einschließlich der Bürgerkriegs-Auseinandersetzungen bis zum Abzug der USA und ihrer Föderaten Ende 2011) kostete etwa einer halben Million Iraker das Leben; die Zahl der Flüchtlinge lag bei 2,5 Millionen Binnenflüchtlingen innerhalb des Landes und weiteren etwa zwei Millionen Menschen, die ins Ausland flohen. Während die Bush-Regierung am Beginn des Krieges davon ausging, er werde 50-60 Milliarden US-Doller kosten, waren es am Ende 2.200 Milliarden US-Dollar. Der irakische Staat wurde zerstört, die berühmten Kulturgüter geplündert, Folterungen durch die westlichen Besatzungstruppen waren an der Tagesordnung. Zugleich fanden ethnische Säuberungen riesigen Ausmaßes statt und bürgerkriegsähnliche Zustände halten bis heute an, besonders von Al Kaida-nahen Kräften immer wieder gegen die schiitische Bevölkerungsmehrheit entfacht. Allein 2013 waren über 9.400 Opfer des anhaltenden Krieges zu verzeichnen. Die Regierung versucht mühsam, die Verhältnisse im Lande zu stabilisieren und ein Abrutschen in einen „gescheiterten Staat“ zu verhindern.
Nicht zuletzt die westlichen Eingriffe in die Entwicklungen in Libyen (direkt durch Militärintervention) und Syrien (indirekt) nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ haben ebenfalls zu Verschärfungen der Lage, zu zehntausenden Opfern und Staatszerfall geführt. Auch hier kann keine Rede von einer neuen schönen Welt der Freiheit und der Demokratie sein.
Durch die Bombardierungen im Jugoslawienkrieg des Westens 1999 kamen etwa 3.500 Menschen ums Leben, 10.000 wurden verletzt. Während des Kosovokrieges wurden mindestens 13.000 Menschen getötet. Ergebnis waren weitreichende Zerstörungen der Infrastruktur und der Industrie in Serbien, die Zerstörung der Bundesrepublik Jugoslawien und schließlich die Abtrennung des Kosovo von Serbien, obwohl im UNO-Sicherheitsrat zunächst die territoriale Integrität Jugoslawiens zugesichert war. Am Ende hat die EU dem Kosovo demokratische Institutionen oktroyiert, allerdings um den Preis, dass zwar serbische Kriegsverbrecher bestraft werden, albanische jedoch nicht. Umfangreiche finanzielle Mittel werden aufgewendet: Im Rahmen des „EU-Instruments für Heranführungshilfe“ wurden 2008 bis 2012 etwa 500 Millionen Euro bereitgestellt, darüber hinaus sagte eine internationale Geberkonferenz 2008 Mittel von 1,2 Milliarden Euro zu. (Der Kosovo hat etwa 1,8 Millionen Einwohner.) Das heißt, die Stabilisierung der Lage im Gefolge des Krieges wird mit immensen finanziellen Mitteln zu erreichen versucht, um ein Scheitern der Operation im unmittelbaren Umfeld der EU zu vermeiden und das Gesicht nicht zu verlieren. Außerdem wurde, nachdem Slowenien und Kroatien in die EU aufgenommen sind, auch dem Kosovo, Serbien, Montenegro, Mazedonien und Albanien eine EU-Beitrittsperspektive eröffnet.
Fasst man das alles zusammen, ergibt sich: Immer, wenn der Westen irgendwo interveniert hat seit Ende des Kalten Krieges, wurden Freiheit, Demokratie und Menschenrechte versprochen. In der Sache ging es vor allem um Handelserleichterungen und Marktzugang für die westlichen Firmen beziehungsweise um geopolitische Einflusssphären. Praktisch jedoch wurde stets weder das eine noch das andere erreicht, sondern das Chaos vergrößert und die Zahl der Opfer erhöht. Und das um den Preis einer unglaublichen Verschleuderung von Mitteln, die den Bevölkerungen in den westlichen Ländern entzogen wurden.
Nun also die Ukraine. Dass Präsident Janukowitsch das Abkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnet hat, empfand diese als Demütigung und wollte die Ukraine nicht dem geopolitischen Einfluss Russlands überlassen* Die Opposition wurde weiter aufgestachelt, Einflussagenten, wie der Boxer Vitali Klitschko, scharf gemacht. Es heißt, die Oppositionellen wollten eine korrupte Regierung loswerden und „leben wie in Europa“. In einem Land ohne nennenswerte Rohstoffe und ohne international konkurrenzfähige Industrie? Wie lebt man denn in „Europa“? Wie in Griechenland oder wie in Deutschland? Die Situation Deutschlands ist Ergebnis von über 150 Jahren Industrie-Entwicklung und der heutigen machtvollen Marktposition in der EU sowie in der Weltwirtschaft. Kroatien, vor einem halben Jahr der EU beigetreten, wird unter der Überschrift „Defizitverfahren“ durch die EU-Kommission gerade unter Zwangsverwaltung gestellt. Was wären denn die Aussichten der Ukraine in der real existierenden EU?
Die polnische Gazeta Wyborcza schrieb kürzlich: „Es treten immer mehr Akteure in Erscheinung, die alles tun, nur um Janukowitsch und seine Gefolgsleute zu Fall zu bringen. Wenn es keine Verhandlungen gibt, gerät die Lage außer Kontrolle. Das wird auch dann passieren, wenn Gespräche stattfinden, deren Ergebnisse aus der Sicht dieser Radikalen nicht zufriedenstellend sind. Danach würden zwar die Protestierenden kurz verstummen. Doch schon am Tag darauf verwandelten sie sich in einen blinden Mob, der alles und jeden zerstört. […] Die gesamte Opposition hat immer weniger Spielraum und muss die Forderungen der Radikalen in ihren Reihen verstärkt berücksichtigen.“ Darunter auch erklärte Faschisten.
Es gibt in der EU weder die Absicht noch ein Konzept, die Ukraine aufzunehmen, damit man dort „leben kann wie in Europa“. Man will sie nur nicht „Putin“ überlassen. Eher kalkuliert man einen Bürgerkrieg ein, den man angeblich „verhindern“ will.

* – Siehe auch den Beitrag Surrogat-Revolution des Autors in Das Blättchen 25/2013.