von Gerd Kaiser
Eben habe ich das gegen Ende des vergangenen Jahres in Polen erschienene jüngste Buch von Karol Modzelewski mit großer Anteilnahme und nicht minderem Gewinn gelesen. Sein polnischer Originaltitel – da eine deutschsprachige Ausgabe leider noch aussteht: „Zajeździmy kobyłę historii. Wyznania poobijanego jeźdźca“ („Reiten wir den Gaul Geschichte zuschanden. Erkenntnisse eines gebeutelten Reiters“).
Hugo Huppert hat vor vielen Jahren für deutschsprachige Leser die in diesem Titel enthaltene Metapher, sie stammt aus Wladimir Majakowskis 1918 veröffentlichtem „Linken Marsch“, vermutlich des Reims „Links, Links, Links…“ wegen so übersetzt: „Gaul Geschichte, du hinkst… Wolln die Schindmähre zu Schanden reiten“. Ziel des Ritts: Das brachliegende „Land der Sonne“ zu erreichen. Sein Gedicht widmete Majakowski den revolutionären Matrosen der Flotte Russlands, er zielte auf den Ausgangs- und Zielpunkt der Revolution von 1917: Ein für alle Male solle endlich der Menschheitsgeschichte seit eh und je ein Ende bereitet, eine neue Seite in der Menschheit aufgeschlagen werden: „Du hast das Wort, rede Genosse Mauser!“
Nach Karol Modzelewski spiegelt der „Linke Marsch“ „vorzüglich die bolschewistische Geschichtsphilosophie wider“. Jedoch: Der „Gaul Geschichte“ ist dem Verfasser des vorläufig nur in Polen Furore machenden Buches zufolge im Unterschied zu Huppert keine abgetriebene „Schindmähre“ sondern ein „nicht zugerittener Mustang“.
Karol kam 1937 in Moskau zur Welt. Seine Mutter war eine russisch assimilierte Jüdin aus Wilno und sein russischer Vater, ein Offizier der Roten Armee, kam siebzehn Tage nach der Geburt des Jungen, im Zuge des „Großen Terrors“ in den Gulag. Man kann sich – so die Lebenserfahrung des heute sowohl hochangesehenen Wissenschaftlers der Mediävistik und Universitätslehrers (allein sein 2004 erschienenes Buch „Barbarisches Europa“ wurde in sechs europäische Sprachen übersetzt) als auch des aktiven unabhängigen Politikers, der seiner geradlinigen politischen Überzeugungen wegen in der VR Polen mehrfach im Gefängnis saß beziehungsweise interniert war – auf den Rücken des wilden Gauls schwingen, versuchen ihn zu zäumen, kann sich sogar für eine gewisse Zeit oben halten, aber es ist unmöglich, ihn zu lenken. Letzten Endes, so sein Fazit, trägt der „Gaul Geschichte“ uns dorthin, wo wir nicht hinwollten und wo wir nicht vorhatten uns gerade dort zu finden. Das erklärt – auf die kürzeste Formel gebracht – den Untertitel seines Buches: „Erkenntnisse eines gebeutelten Reiters“.
Gelegentlich einer Gedenkveranstaltung der ursprünglichen „Solidarność“ auf der Danziger Werft, an der auch der erste Premier der Republik Polen Tadeusz Mazowiecki und Lech Wałęsa teilnahmen, der dort vor den Versammelten tönte: „Wir kämpften für den Kapitalismus und wir siegten“, daraufhin kurz zuckte und nachlegte: „Aber den Menschen haben wir das nicht gesagt, denn das hätten sie nicht verstanden“, widersprach Karol Modzelewski scharf: „Für den Kapitalismus habe ich niemals achteinhalb Jahre gesessen, nicht einen Monat oder eine Woche… Für ihn habe ich nicht gekämpft.“
Als ich im November 2005 die Gelegenheit nutzte, Karol Modzelewski nach seinen Erfahrungen als Berater und Sprecher der alten Solidarność zu fragen, war seine Antwort: „Ich habe all die Mühsal und Anfeindungen damals nicht auf mich genommen, damit heute Reiche noch reicher und Arme noch ärmer werden“. Da hatte ihn bereits der „Gaul Geschichte“ dort abgeworfen, wo er nicht hinwollte.
Am Verlauf der Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm das nunmehr geachtete Mitglied polnischer und weiterer europäischer Akademien der Wissenschaften sowie Universitäten Modzelewski tätigen Anteil. Die ideellen Anstrengungen, die praktischen politischen Versuche und Aktivitäten von ihm und seinen politischen Freunden (ich nenne nur seinen engsten Weggefährten Jacek Kuroń und den jüngeren Adam Michnik) unterzog er einer strengen Analyse. Seit Mitte der fünfziger Jahre gingen die jungen Dissidenten, zumeist als Angehörige einer neuen Generation nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges ihre ersten Schritte in der Politik Polens. Zeitweise gehörten sie auch der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei oder dem mit ihr verbundenen Jugendverband, dem ZMP an. Anfangs versuchten sie sowohl die Partei als auch den Staat von innen heraus zu reformieren, bald jedoch die Partei und den Staat durch Systemopposition zu überwinden. Mit seinen Erlebnissen und Erfahrungen dabei, hält der „gebeutelte Reiter“, der „einiges auf dem Gewissen“ hat, nicht hinter dem Berge und erfreulicherweise auch keine Moralpredigten. Über sein und seiner Mitstreiter, polnische Arbeiter und Intellektuelle, die der Leser in alltäglichen wie in schwierigen Lebens- und Entscheidungssituationen kennenlernt, gesellschaftliches Engagement, legt Karol Modzelewski präzis im Geschehen und differenziert im Urteil Rechenschaft ab. Das geschieht tatsachengesättigt, gewürzt mit historischen Anekdoten ungezählter stiller Helden, und erfreulicherweise ohne dem Leser Lehren zu erteilen („auf die sowieso niemand hört“).
Dabei offenbart sich der Gedankenreichtum des Wissenschaftlers und Politikers (in dieser Verbindung eine seltene Spezies) auch in dessen sprachlicher Meisterschaft. Diese ist umso bemerkenswerter, als der Junge Kiryll, aus dem erst dann Karol wurde, seitdem er nach 1945 nunmehr in Polen lebte und sich Polnisch als seine zweite Sprache nach der russischen erschloss. Die Mutter- wie – so es sie gibt – Vatersprache beherrscht er vollendet.
Seine Mutter und deren Lebens- und Kampfgefährte, Zygmunt Modzelewski, der Karol von Kindesbeinen an ein eigentlicher Vater wurde, hatten in den Polnischen Streitkräften für die Befreiung Polens gekämpft. Vater Zygmunt war ein polnischer Kommunist mit Berufs- und politischen Kampferfahrungen in Polen, Frankreich, auch in der UdSSR, dort auch inhaftiert gewesen. Über seine Haft erzählte er seinem Sohn ein erstes und letztes Mal wenige Tage vor seinem frühen Tod (1954). Das Gespräch war ein früher Anstoß für den Jugendlichen, sich mit dem Thema Stalinismus (nicht nur in Polen) zu befassen. Die Eltern hatten ihrem Sohn Karol die Möglichkeit gegeben sich zu entscheiden, ob er in der Sowjetunion bei seinem leiblichen Vater, der die Lagerhaft überlebt hatte, bleiben oder gemeinsam mit Mutter Natalja und Zygmunt Modzelewski Polen als Heimat annehmen wolle. Karol entschied sich für Polen und das Leben in der neugegründeten Familie in einem für ihn damals kaum bekannten Land.
Zu den frühen Erkenntnissen des „gebeutelten Reiters“ gehörte die unverzichtbare Notwendigkeit den Stalinismus zu überwinden. Darin sah er das A und O eines an Haupt und Gliedern erneuerten Sozialismus. Messerscharf seziert er Punkt für Punkt in seinem Buch den Stalinismus im „realen Sozialismus“ der VR Polen, der nicht nur nichts mit Sozialismus zu tun hatte, sondern der den Sozialismus bis auf die Knochen diskreditierte. An Hand der populären Revolutionsbegriffe Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit untersucht er, ausgehend von einem umfangreichen historischen Tatsachenmaterial die Wurzeln und die Erscheinungsformen der Divergenzen zwischen sozialistischem Anspruch und realsozialistischer Wirklichkeit zu unterschiedlichen Zeiten der Existenz der VR Polen.
Unterm Strich subsumiert Karol Modzelewski: Der „Gaul Geschichte“ hat die Felder gesellschaftlichen Wirkens im Namen von Gleichheit und Brüderlichkeit zertrampelt hat und im Dreiklang blieb allein die Freiheit, diese allerdings vor allem auf die Freiheit des Finanzkapitals reduziert.
An Hand selbstkritisch bewerteter „kollektivistischer“ Erfahrungen im Jugendverband ZMP, seiner Mitgliedschaft in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, in einer Reihe legaler und illegaler Strukturen, als Verfasser, auch als Ko-Autor von Schriften wie „Offener Brief an die Partei“ unter Władysław Gomułka (1964), einer Denkschrift (1976), die die Wirtschafts- und Sozialpolitik Edward Giereks kritisch analysierte, seines Kampfes als Student und junger Wissenschaftler für den status quo, das heißt die Bewahrung der gesetzlich anerkannten Rechte polnischer Universitäten, bis hin zu seiner Mitwirkung in Entscheidungsfunktionen der „Solidarność“, in deren Vorläufern er seit den 60er Jahren aktiv war, an Hand seiner in der illegalen Presse Polens erschienen Schriften, die unter dem Titel „Zwischen Vereinbarung und Krieg“ (1989) gesammelt erschienen sind und seiner programmatischen Arbeit „Wohin, nach dem Kommunismus“ (1993) lässt er vor seinen Lesern ein faszinierendes Bild seines und seiner politischen Freunde Lebens Revue passieren.
Zu keiner Zeit gab er seinen politischen Kampf um die Werte eines demokratischen Sozialismus auf, nicht vor 1989/90 und nicht danach. Als Abgeordneter im Senat der Republik Polen (1989-1991) und des Sejms (ab 1991) als Abgeordneter der linken „Arbeiterunion“ wirkte er vor allem für Arbeiterinteressen.
In dem erwähnten Gespräch mit ihm gestand er mir 2005 jedoch ein: „Dass ich damals Senator geworden bin, war ein Versehen meinerseits. Ich bin zwar ein Mann öffentlicher Debatten und beteilige mich an ihnen nach wie vor, aber ich bin kein Mann ‚von Amts wegen’. Deshalb war er ein Jahrzehnt vorher, 1995, aus der „Arbeiterunion“ ausgeschieden, der letzten Partei der er angehörte.
Sein erkenntnisreiches Buch beendet er nicht mit seinem „politischen Testament. Dieses möchte ich noch nicht einmal zum Selbstgebrauch formulieren. Ich weiß das eine oder andere über die Vergangenheit, aber die Zukunft kenne ich nicht und glaube auch nicht daran, dass die Geschichte in Übereinstimmung mit irgendwelchen ‚ehernen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte’ verläuft, die es zu erkennen gilt, um unsere gemeinsame Zukunft bewusst zu gestalten … Jeder Leser mag seine Schlussfolgerungen aus meinen politischen Erfahrungen ziehen, wenn er zu der Auffassung gelangt, dass sie dies verdienen. Da ich hoffe, dass auch Menschen anderer Weltsichten und anderer Werte mein Buch lesen, werden wir uns in unseren Urteilen jeder – für sich und allesamt untereinander unterscheiden.“
Hoffentlich findet dieses offenherzige und mit Herzblut geschriebene Buch bald einen deutschen Verleger damit auch hierzulande Leser, die bemüht sind den Krebsschaden der neoliberalen gesellschaftlichen Entwicklung, Ergebnis eines komplizierten historischen Prozesses, zu überwinden, sich mit Modzelewskis politischen Erfahrungen auseinandersetzen können.
Karol Modzelewski: Zajeździmy kobyłę historii. Wyznania poobijanego jeźdźca, Iskry, Warszawa 2013, 440 Seiten, 49,00 Złoty. Alle direkten Zitate sind – so nicht anders angemerkt – der polnischen Ausgabe entnommen und von mir übersetzt worden – der Autor.
Schlagwörter: Gerd Kaiser, Karol Modzelewski, Polen, Solidarnosc, Sozialismus